»Was für eine gnadenlos witzige Identitätssuche, die nichts und niemanden schont.
Man ist nach der Lektüre nicht bloß schlauer — sondern auch garantiert besser gelaunt.«
(Alina Bronsky)
Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn
die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin
aller Debatten über Identität — und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden
Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit
eine Jagd nach »echter« Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos
ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu
Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendem Wissen. Den Schleudergang
dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.
Mithu Sanyal
Identitti
Roman
Carl Hanser Verlag
Für Durga — und Matti
Teil I
Identitti
Ein Blog von Mixed-Race Wonder-Woman
Über mich:
Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten: Wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt! Was ich ja gerne tun würde, wenn ich denn eine hätte, die ich an- geschweige denn ablegen könnte. Genau darum ging es bei diesem wie jedem weiteren Treffen mit meinem Devil, der eine Devi ist: Eine indische Göttin mit zu vielen Armen und einer Kette aus den abgerissenen Köpfen ihrer Feinde. Ja, ich spreche von Kali.
»Alles Dämonen«, sagte sie in demselben wegwerfenden Tonfall, in dem meine Cousine Priti ›alles Männer‹ sagen würde, und rüttelte ihre Kette, dass ihren erledigten Feinden die Zähne klapperten. Und tatsächlich sahen Kalis Dämonenköpfe alle verdächtig nach Männerköpfen aus.
Doch sie war bereits mit anderen Dingen beschäftigt: »Lass uns um die Wette ejakulieren. Wer am weitesten spritzt, hat gewonnen.«
Ich deutete verblüfft auf ihre haarige Vulva. »Wie willst du damit …?«
»Ah! Nicht nur cis Männer können abspritzen«, rief Kali und guckte dabei so triumphierend, dass mir einen Moment lang nicht einmal auffiel, dass sie gerade cis gesagt hatte.
»Und warum auch nicht? Drei Geschlechter hatten wir schon Jahrhunderte, bevor euer Gott auch nur geboren wurde.«
»Aber du bist doch meine Göttin«, erinnerte ich sie.
»Ich dachte, ich wäre dein Teufel?«
»Wo ist da der Unterschied?«
Race & sex. Wann immer Kali und ich redeten, ging es um race & sex. Also — in Ermanglung einer korrekten Übersetzung oder auch nur einer, die nicht sofort in bodenlose Abgründe führt — um mein Verhältnis zu Deutschland und Indien, meinen beiden Nicht-Heimatländern (remember: Mixed-Race Wonder-was-auch-immer), und um … Sex.
Dieser Blog besteht vor allem aus Transkripten unserer Gespräche. Wenn Ihr ihn lange genug lest, werde ich Euch irgendwann verraten, warum ich mich die ganze Zeit mit einer Göttin unterhalte.
Mein Name ist Nivedita Anand. Ihr könnt mich IDENTITTI nennen.
Der Tag, an dem die Hölle ihre Schlünde öffnete und heulende Furien ausspie, fing an wie ein ganz normaler Tag, wenn ein normaler Tag mit einer Rakete anfängt.
Das ist keine Rakete, das ist ein Satellit, las Nivedita, zumindest interpretierte sie die Whatsapp ihrer Cousine Priti so. Was Priti tatsächlich geschrieben hatte, war: tisNOrukula isssSATELITE!!! und dazu ein Emoji, das aussah wie ein Bund Spargel. Nivedita schaute an den neunzehn Betonetagen des Deutschlandfunks hoch, die prekär auf einem winzigen Sockel balancierten, der sich zum Rest des Funkhauses verhielt wie der Feuerschweif auf grafischen Darstellungen des Rückstoßprinzips zum Flugkörper, und textete zurück: Eindeutig eine Rakete!
An der Spitze des Gebäudes, da, wo sich bei Saturn V die Apollokapsel befunden hatte, formten Eisenstreben einen Pyramidenpfeil in den gleißend grauen Himmel und Nivedita fühlte sich gleichzeitig erhaben und winzig angesichts dieses Betonraumschiffs, über dessen Eingang in blauen Buchstaben stand: Die Nachrichten.
Stell dir vor, du wärst eine Terroristin, die schon mehrere Menschen umgebracht hat, riet ihr die nächste Whatsapp von Priti in einer noch fantasievolleren Ansammlung von Buchstaben, oder dass du eine Terroristin bist, die schon gefaked hat, she’d killed loads of Leute. Dann ist das hier ein Klacks. Und ein paar Sekunden später: A small step for you, a big step for humankind ROFL LMAO.
Die Glastüren glitten lautlos vor Nivedita auf, sie betrat die heiligen Hallen des Deutschlandfunks. Es roch nach Kerzenwachs und Kunstleder wie bei einer Mischung aus Finanzamt und Geheimdienst, falls der Bundesnachrichtendienst so roch, wie James-Bond-Filme aussahen. Durch die Glasscheibe hatte sie nur den Anzug des Pförtners gesehen und erschrak, als er den Kopf hob, weil er nicht älter war als sie. Doch durch sein bisschen schwarze Dienstkleidung gehörte er zu einer anderen Generation und tanzte zu einer anderen inneren Trommel, es sei denn, er zog sein korrektes Jackett aus oder Nivedita ihre Mischung aus radical chic und seriös — was in vollkommener Unkenntnis der Codes bedeutete, dass sie ihre langen schwarzen Haare am Morgen zu einem Gretchenzopf geflochten hatte, der sich seitdem in stummem, aber entschlossenem Protest Strähne für Strähne auflöste. »Ich soll zu meinem Blog interviewt werden«, sagte sie den Satz, den sie die ganze Zugfahrt über auswendig gelernt hatte.
Der Pförtner entgegnete kryptisch: »Wo?«
»Äh … hier …?«
Er sah sie väterlich an. »Nein, was ist der Name der Redaktion?«
Einen Augenblick lang konnte sich Nivedita nicht einmal erinnern, was ihr eigener Name war. Sie fühlte sich wie ein schräg zugezogener Reißverschluss: verhakt und verrutscht. Dann klingelte das nachtblaue Festnetztelefon auf der Theke und rettete sie.
»Nivedita Anand«, sagte sie im selben Moment, in dem er auflegte und verkündete: »Sie werden abgeholt.«
Sie tat, was sie immer tat, wenn sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlte, und ging aufs Klo. Nicht weil sie sich nach einem Quadratmeter Privatsphäre sehnte, sondern um in den Spiegel zu schauen und zu kontrollieren, ob sie noch da war. Auf dem Milchglas der Toilettentür stand: »Frau [ahd. Frouwa ›Herrin‹, ›Gebieterin‹], weibl. erwachsener Mensch. Die Wesensdefinition der F. variiert ja nach geograph. Raum, histor. Epoche sowie Gesellschafts- und Kulturtypus.«
»Bist du drin?«, fragte Priti.
»Ja«, raunte Nivedita.
»Warum gehst du dann ans Handy?«
Gespräche mit Priti verliefen immer nach Pritis Regeln, gleich würde ihr bestimmt einfallen, dass sie Wichtigeres zu tun hatte als mit Nivedita zu plaudern, auch wenn sie selbst angerufen hatte. Vor allem dann. Deshalb machte sich Nivedita nicht die Mühe, sich oder irgendetwas zu erklären, sondern sagte nur: »Du solltest das Klo hier sehen, das ist ein Proseminar in Germanistik.«
»That’s the spirit!«, stimmte Priti resolut zu. »Fühl dich superior zu das toilet und dann … wait! … Something’s come up, Niv.« Wenn Priti Nivedita wohlgesonnen war, nannte sie sie Niv, ausgesprochen wie der irische Vorname Niamh, der Nieve ausgesprochen wurde. Priti kam aus Birmingham und mochte das, nicht weil man sich in Birmingham besonders mit irischen Frauennamen ausgekannt hätte, sondern weil sie damit Differenz markieren konnte. Als hätte irgendjemand zu bezweifeln gewagt, dass Priti Anders mit großem O wie Other war! Solange sie Nivedita mit dem Sternenstaub ihrer Anerkennung besprenkelte, fühlte sich Nivedita ebenfalls bemerkenswert und nicht merkwürdig. Nur konnte Pritis Laune jederzeit umschlagen, und in weniger großzügiger Stimmung nannte sie Nivedita Nivea, wie die weiße Hautcreme-Marke, die regelmäßig mit rassistischer Werbung Skandale auslöste.
»Shit!«
»Priti?«
»Gotta go. Rufe dich später zurück!«
Nivedita tippte auf das rote Telefonhörer-Icon und warf einen tiefen Blick in ihre eigenen Augen, der ihr so gut wie nichts verriet. Sie wünschte inständig, sich von außen sehen zu können, so wie andere sie sahen. Doch war sie genau dazu nicht in der Lage. Sie konnte sich noch nicht einmal so sehen, wie sie sich selbst sah. Aber sie konnte ihren Kajal verwischen, um intellektuellere Schatten um die Augen zu bekommen, also tat sie wenigstens das.
Auf der anderen Seite der Milchglastür wartete eine kleine Frau mit einem großen Hund und sagte: »Willkommen bei Deutschlandfunk Nova, ich bin Verena. Kann ich dich Identitti nennen?«
Verena hatte perfekte Grübchen wenn sie lächelte, und Nivedita stellte sich sofort vor, wie es wäre, mit ihr Sex zu haben. Dann stellte sie sich vor, wie es wäre, mit ihrem Hund Sex zu haben, verlor aber umgehend das Interesse und kehrte zur ersten Überlegung zurück. Das Treppenhaus erinnerte sie wie die Toilette an die Uni — Brutalismus meets Parkhaus —, und sie fühlte sich einen Moment lang wie Freida Pinto in Slumdog Millionaire, bis sie in einer spiegelnden Fensterscheibe bemerkte, dass ihr Kajal weniger nach smokey eyes aussah, sondern eher, als hätte sie auf dem Klo geheult.
Im Studio reichte ihr Verena ein absurd großes Paar Kopfhörer. Der Hund legte sich umständlich in eine Ecke und sah sie dabei unverwandt aus melancholischen braunen Augen an, als wolle er sein Mitgefühl für die Gesamtheit der menschlichen Gattung ausdrücken.
»Das ist Mona«, stellte Verena vor und Nivedita berichtigte sich: sie/ihr Mitgefühl.
»Hallo Mona«, sagte sie, woraufhin Mona sofort wieder aufstand und zu ihr kam, um sich stoisch streicheln zu lassen.
Auf dem Pult gab eine Ampel kontraintuitive Signale.
Grünes Licht: Warten.
Rotes Licht: Aufnahme läuft!
Verena zog das Mikrofon näher zu sich heran und begann: »Wo kommst du her? Über diese Frage wird heftig debattiert. Rassismus oder nur Interesse? Was dürfen wir noch sagen? Was dürfen wir um keinen Preis sagen? Und was sagt uns das alles? Im Studio ist die Bloggerin Nivedita Anand, laut dem Missy Magazine eine der PoCs, die wir kennen müssen. Nivedita, bevor du uns alle Fragen beantworten wirst, erklär doch erst einmal die Bezeichnung PoC, ohne die Worte ›People‹ und ›of‹ und ›Colour‹ zu verwenden?«
Nivedita starrte Verena an, als hätte sie gesagt: Kannst du atmen, ohne Luft zu holen? Oder kannst du deine Mutter treffen, ohne sie wegen einer völlig unerheblichen Angelegenheit anzuschreien? Oder kannst du an Indien denken, ohne dass dir von der Leere, die sich sofort in dir ausbreitet, schwindelig wird? Dann hörte sie ihre eigene Stimme antworten: »PoCs, das sind die Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?«
»Und wo kommst du her, Nivedita?«
Langsam fühlte sich Nivedita von Verena und ihren Grübchen verarscht. Sie wusste, dass die Frage lustig gemeint war. Provokation ergab gutes Radio. Aber sie konnte nicht zurückprovozieren, weshalb sie defensiv erwiderte: »Aus dem Internet. Ich lebe im Internet.«
Doch das schien genau die Antwort zu sein, auf die Verena gewartet hatte: »Unter dem Namen Identitti bloggt Nivedita über Identitätspolitik und …«
»Brüste«, warf Nivedita ein: Wie du mir, so ich dir.
»Mehr über Brüste oder mehr über Identitätspolitik?«, jubelte Verena. Und Niveditas Abwehr schmolz in der Sonne ihrer Begeisterung.
»Nicht nur über Brüste, ich blogge auch über … darf ich im Radio ›Vulva‹ sagen?«
»Lass uns bei Brüsten bleiben.«
»Okay.« Nivedita fragte sich, wie wohl Verenas Brüste aussahen, konzentrierte sich aber sofort wieder auf … ihre eigenen Brüste. »Alles fing damit an, dass ich ein Foto von meinen Brüsten gepostet habe, auf die ich mit Kajal geschrieben hatte: ›Um ihre Loyalität zu zeigen, saugten die Gefolgsleute im keltischen Irland an den Brustwarzen des Königs.‹«
Verena ließ ihre Grübchen aufblitzen wie zwei hochgestreckte Daumen. »Echt?«
»Keine Ahnung. Meine Cousine Priti hatte das in einer Quizshow gehört und ich fand die Idee von sozialem Brustsaugen super. Aber dann kam sofort ein langer Kommentar von irgendeinem Studienrat, dass die Geschichte nur in der Saga …«, Nivedita schaute auf ihren Unterarm, auf den sie die wichtigsten Namen und Daten notiert hatte, »… von Fergus Mac Léite aus dem achten Jahrhundert verbrieft und dort ein Witz gewesen sei, aber ich würde ja eh keinen Spaß verstehen, weil ich Gender studierte. Ich schrieb zurück: Ich studiere gar nicht Gender, sondern Postcolonial Studies! Darauf der Oberlehrer: ›Die einzige andere Quelle ist St. Patrick, der behauptet, er habe sich geweigert, die Brustwarzen des heidnischen Königs zu saugen. St. Patrick über Heiden ist so zuverlässig wie Donald Trump über Muslime. Das sollten Sie mit Ihrem postkolonialen Gender wissen!‹ Bevor ich dagegen einen weiteren Kommentar schreiben konnte, sperrte Facebook meinen Account. Wegen der Brustwarzen! Doch da war das Bild bereits so häufig geteilt worden, dass klar war, dass ich weitermachen musste. Ich nenne meine Einträge zwar Blog, weil das so schön retro klingt wie … CD …… oder Privat-PKW … oder bürgerliche Ehe, aber genau genommen ist meine Webseite einfach nur das Archiv meiner Threads und Rants und Posts und Stories und Kommentare, weil die Leute die anscheinend hintereinander lesen wollen wie eine Geschichte, weil wir eben mehr sind als nur verstreute Kommentare zu Identitätspolitik.«
Nivedita spürte, wie sich ihre Brustwarzen unter ihrem T-Shirt aufrichteten, als wollten sie sagen: Das alles hast du uns zu verdanken, gut was?
»Hervorragend«, stimmte Verena ihnen zu. »Kam so der Name Identitti zustande?«
»Nee, zuerst hieß mein Blog 50 Shades of Beige — wegen meiner Hautfarbe, beige halt.«
»Warum nicht braun?«
»Braun zu sagen, ist rassistisch.«
»Wirklich?«, Verenas Grübchen verschwanden bestürzt.
»Keine Ahnung. Genau darum geht es ja, dass wir keine Sprache für Leute wie uns haben. Schließlich waren wir noch bis vor kurzem verboten.«
»Verboten?«
»Verboten«, bestätigte Nivedita. Wenn sie ganz ehrlich war, war das Referat, das sie an der Uni über die verschiedenen »Rassenmischungs«-Gesetze — oder besser all die Gesetze, die »Rassenmischungen« verboten — gehalten hatte, die wirkliche Geburt ihrer Internetpersona gewesen. So faszinierend Brüste auch waren, nie hätten sie sie zu diesem steten Strom an in Worte geronnener Empörung inspiriert. Trotzdem hatte alles mit Sex begonnen. Legalem Sex, illegalem Sex und Sex, der so undenkbar war, dass er die Köpfe der Gesetzgeber zum Explodieren brachte. »Die Nationalsozialisten waren nicht die einzigen, die versuchten, sogenannte Rassenmischungen zu verhindern. In den USA dürfen Weiße und Nicht-Weiße erst seit …«, wieder schaute Nivedita auf ihren Arm, »… 1967 heiraten, in Südafrika erst seit 1985. Und als meine Mutter hier in Deutschland schwanger war, hat ihr Arzt sie noch gewarnt, dass ›Mischlinge‹ eher zu Depressionen neigen würden. Aber als ich das Simon, meinem …«, sie zögerte kaum, »… Freund, erzählt habe, sagte er dazu nur: ›Du immer mit deinem Identitti.‹ Und irgendwie hat sich dann ›Identitti‹ durchgesetzt.«
Beim Stichwort Setzen sortierte Mona ihre langen Hundebeine auseinander, legte sich jedoch auf einen Wink Verenas wieder hin. »Du schreibst wahlweise unter den Künstlernamen Identitti und Mixed-Race Wonder-Woman. Eine deiner Superkräfte, um die es immer wieder geht, ist, dass du mit Göttern sprechen kannst, zumindest mit einer, nämlich Kali, der hinduistischen Göttin der Zerstörung. Die meisten Beiträge sind Gespräche mit ihr. Warum?«
Genauso gut hätte Verena Nivedita bitten können, in die Tiefen ihrer Seele hinabzutauchen und das Ei mit den letzten Wahrheiten heraufzuholen. Aber selbst wenn das möglich gewesen wäre, hätte es nichts an Niveditas Sprachlosigkeit geändert, schließlich gab es gar kein Ei, sondern höchstens Schale und Flüssigkeit, aus der später einmal eventuell ein Wesen mit Federn werden konnte. Eines der Attribute Kalis waren Federn, doch besaß Kali so viele Attribute, dass Nivedita schon lange aufgegeben hatte, den Überblick zu bewahren. Verena schaute sie erwartungsvoll an. Wie lange bereits? Also sagte Nivedita schnell: »Mit irgendjemandem muss ich über diese Dinge reden. Die meisten Leute haben schlicht keine Ahnung davon. Ich ja auch nicht. Deshalb brauche ich jemanden, der mir all das erklärt.«
Aber Verena war gar nicht wirklich an Kali interessiert, sondern brauchte sie nur als Klettergriff für ihre eigentliche Frage: »Jetzt von Göttin zu Göttin: von Kali zu Saraswati. Allerdings nicht zu Saraswati, der indischen Göttin der Weisheit, sondern zu Saraswati, der Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, bei der du Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie studierst.«
Nivedita spürte ihr Herz in ihrem Brustkorb.
»Saraswati, genau.« Charismati Saraswati, wie Priti ihre gemeinsame Professorin immer nannte, doch war Pritis Ironie gespielt, da nicht einmal sie sich Saraswatis Charme und ihrer schieren Intelligenz entziehen konnte.
»Warum eigentlich nur Saraswati, hat sie keinen Nachnamen?«
Nivedita zuckte mit den Achseln, woraufhin der Kopfhörer langsam, aber unaufhaltsam von ihrem Kopf rutschte und nur noch ein Hörer war. »Beyoncé braucht ja auch keinen Nachnamen«, sagte sie und versuchte, den Hörer möglichst geräuschlos wieder hochzuschieben. »Oder … die Queen.«
»Aber beide haben Nachnamen.«
»Richtig, Knowles und … Habsburg?«
»Windsor«, berichtigte Verena.
»Wie auch immer. Saraswati hat bestimmt auch einen Nachnamen, aber sie braucht keinen, weil sie Saraswati ist — und jeder sofort weiß, wer gemeint ist.«
»Das ist richtig!«
Nivedita beobachtete fasziniert, wie Verena ein Blatt hochhob, ohne zu knistern, und davon ablas: »1999 veröffentlichte Saraswati ihr erstes Buch Decolonize your Soul, das sofort zu einem Bestseller wurde und ihr später die Professur in Düsseldorf einbrachte. Doch wird sie nicht nur an der Universität gelesen. Saraswati ist Pop. So sehr Pop, dass sie ihr zweites Buch PopPostKolonialismus nannte. Und wie es sich für Stars gehört, entzünden sich an ihr immer wieder heftige Debatten, vor allem in den sozialen Medien.«
Wieder zuckte Nivedita mit den Achseln, hielt den Kopfhörer diesmal jedoch rechtzeitig fest. »Heutzutage ist man keine ernstzunehmende Intellektuelle, bis man einen Shitstorm bekommen hat.« Und wer Saraswati traf, kam nicht umhin, sie ernst zu nehmen. Niveditas (in Ermanglung einer besseren Bezeichnung) Beziehungspartner Simon sagte immer: Priti hat einen angeborenen Kompass für Macht, deshalb wird ihre innere Nadel unbeirrbar von Saraswati angezogen. Ebenso unbeirrbar, wie Nivedita von Saraswatis Versprechen angezogen wurde, ihre Seele zu retten, Decolonize your Soul. Genau das versuchte Nivedita, seit sie vor drei Jahren begonnen hatte, bei Saraswati zu studieren.
»Beim Phänomen Saraswati geht es aber nicht nur um die normale Aufregung im Netz. Es gibt auch an der Uni regelmäßig Rassismusvorwürfe gegen sie. Und sogar eine gerichtliche Klage bezüglich ihres Umgangs mit weißen Studierenden«, wandte Verena ein.
»Die Leute, die Saraswati Rassismus vorwerfen …« Nivedita liebäugelte damit zu sagen: sollen an ihren eigenen Brustwarzen saugen, entschied sich dann aber für: »… verstehen Saraswati nur nicht. Sie verstehen vor allem nicht, was Weißsein bei Saraswati bedeutet.« In weniger als vierundzwanzig Stunden würde sich Nivedita wünschen, diesen Satz nie gesagt zu haben.
»Genau davon handelt ihr heißdiskutierter Essay White Guilt. Warum niemand weiß sein will«, las Verena von einem weiteren knisterfreien Blatt ab. »Letzten Monat wurde er gleichzeitig im Times Literary Supplement sowie der deutschen und der französischen Ausgabe der Lettre International veröffentlicht. Die TLS bewirbt ihn mit dem Satz: ›Ein essentieller Text in Zeiten, in denen die Bezeichnung ›alte weiße Männer‹ zu einer Beleidigung geworden ist.‹ Will wirklich niemand mehr weiß sein?«
»Also, ich nicht«, log Nivedita, die sich die Hälfte ihres Lebens nach nichts mehr gesehnt hatte — und die andere Hälfte danach, dunkler zu sein, als sie war. Alles, nur nicht dieses hybride Halb-und-halb, das durch alle Raster und Kategorien rutschte und so schwer fassbar war, dass selbst der Farbton nach etwas Flüssigem benannt war: Cognac.
»Warum nicht?«
Wo sollte sie anfangen? »Das liegt an der Geschichte des Begriffs. Bis zum siebzehnten Jahrhundert gab es weiß überhaupt nicht, außer als Beschreibung für Wolken oder …« Auf die Schnelle fiel Nivedita nichts anderes ein als: »Schafe. Dann begann der transatlantische Sklavenhandel, den die Europäer natürlich irgendwie legitimieren mussten, man kann ja nicht einfach irgendwohin gehen und Menschen entführen und verhökern. Also erklärten sie, dass die weiße Rasse überlegen sei. Und dafür mussten sie diese weiße Rasse überhaupt erst einmal erfinden.« Nivedita hatte White Guilt nicht nur gelesen, sie hatte es wie alle Texte Saraswatis wie eine Bibel inhaliert. »Vorher haben sich Europäer nicht als Weiße identifiziert, sondern über den Teil von Europa, aus dem sie kamen, oder über ihre Sprache. Wo bin ich?«
»Weiße Überlegenheit.«
»Genau«, nur dass sie dafür im Seminar das englische Lehnwort verwendeten: White Supremacy. White Supremacy war so etwas wie die Erbsünde in den Postcolonial Studies, das Zentrum des Erdbebens, dessen Erschütterungen noch heute zu spüren waren. »Aus diesen historischen Gründen ist weiß untrennbar mit weißer Vorherrschaft verbunden. Weiß hatte niemals eine andere Bedeutung. Entsprechend können sich weiße Menschen auf ihr Weißsein auch nicht anders beziehen als durch die Brille weißer Herrschaft, es gibt für sie keine spezielle weiße Kultur oder weiße Musik, weil für sie alles weiß ist, wie in einem Schneesturm. Schwarze werden nach wie vor diskriminiert — keine Frage! —, aber gleichzeitig verbinden wir mit Schwarzsein auch Vorstellungen wie Revolution und Subversion und Black Power. Von Weißsein dagegen gibt es keine progressiven Vorstellungen. Daraus schließt Saraswati, dass Weißsein etwas ist, das auch Weiße einschränkt.« Einen Moment lang fühlte sich Nivedita ihrer Professorin so nah, dass sie meinte, Saraswatis unvermeidliche Dupatta um ihre eigenen Schultern zu spüren, und die ziehenden Nervenstränge unter dem Schlüsselbein wegen Saraswatis ständiger Primaballerinapose mit weit geöffneten Schultern und hocherhobenem Kopf. Saraswati hatte einmal gesagt: Du hast die Nackenschmerzen hinten, ich habe sie vorne. Also hob Nivedita ihren Kopf und taxierte Verena prüfend mit gesenkten Augenlidern: »Wie ist das für dich? Spürst du, wie dein Weißsein dich einschränkt?«
Verena warf einen nackten, ungeschützten Blick zurück und Nivedita dachte: So macht Saraswati das also.
Auf dem Rückweg zum Kölner Hauptbahnhof überlegte Nivedita, ob sie sich den Moment nur eingebildet hatte. Verena hatte das Gespräch danach zu der ewigen Frage Wo kommst du her? zurückgeführt und Nivedita war in ihre Comedy-Routine geschlüpft — »Ich habe einen Monat lang Gespräche mitgeschrieben, bei denen Leute mich gefragt haben: ›Wo kommst du her?‹ Aus Essen. ›Nein, wo kommst du her her?‹ Aus Essen-Frillendorf. ›Nein, wo kommst du wirklich her her her?‹ Aus dem Bauch meiner Mutter? ›Nein, warum bist du braun?‹« —, aber der Höhepunkt des Interviews war eindeutig Niveditas Regelbruch gewesen, als sie die Rollen umgedreht und Verena die Frage zurückgestellt hatte.
Sobald sie aus dem Bus stieg und die schwüle Luft sie so in die Arme schloss, als würde das angekündigte Gewitter nie kommen, versuchte sie, Simon anzurufen. Sie hatte irgendwo gelesen, Busse wären Faradaysche Käfige, und stellte sich darum immer vor, dass die Handystrahlung in ihnen von der Stahlkarosserie hin- und hergeworfen wurde, bis sie wie Bleistiftgekritzel den ganzen Raum ausfüllte und alle Passagiere hinter einer grauen Wolke aus Statik verschwanden. Wie die beiden Male zuvor ging nur Simons Voicemail dran: »Ich weiß Ihren Anruf zu schätzen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton, ich werde Sie umgehend zurückrufen.« Nur dass er eben nicht umgehend zurückrief.
Nivedita ging ins Museum Ludwig, um das WLAN zu benutzen, sie mochte fremdes WLAN, das war so demokratisch, und postete auf Instagram und ihrem Blog ein auf der Hinfahrt im Netz gefundenes Foto eines kuscheligen Katzenbabys.
Identitti:
Jedes Mal, wenn du einen rassistischen Gedanken denkst,
tötet Gott ein Kätzchen.
Aber keine Sorge:
Es ist keine deutsche Katze!
Am liebsten hätte sie über das flauschige Katzenköpfchen Maradonas Hand als Hand Gottes montiert, entschied sich dann aber aus Bedenken wegen des Copyrights für Simons Hand. Wie sich bald herausstellen würde, hatte Simon ebenfalls ein Copyright auf Gott.
»Warum bist du nicht drangegangen?«, rief Nivedita, als ihr Regionalexpress in den Düsseldorfer Hauptbahnhof einfuhr.
»Ich gehe doch jetzt dran«, antwortete Simon mit dieser Stimme, die ihr wie immer unter die Haut ging. Seine weiteren Ausführungen wurden vom Schaffner übertönt, der alle erdenkbaren Anschlussmöglichkeiten für alle erdenkbaren Verbindungen aufzählte. Die Türen öffneten sich lautstark, das Gleis war noch lautstärker, und als sie Simon endlich wieder verstehen konnte, sagte er: »Mein Handy war leise gestellt«, als wäre sein Handy ihrer Umgebung überlegen.
»Aber wir waren vor drei Stunden in Köln verabredet!«
»Ich habe meinen Termin bei Campact vorbereitet und die Zeit vergessen.«
Eine Welle von Eifersucht auf Simons Selbstgenügsamkeit schwappte durch Nivedita. Sie übersetzte sich seine Erwiderung mit Ich habe Jura studiert und werde einmal die Menschenrechte retten, das ist wichtiger als dein bisschen Seelenretten, oder kürzer: Ich bin dir wichtiger als du mir.
»Aber ich war im Radio!«, heulte sie auf.
»Aha«, sagte Simon.
Nivedita spürte, wie ihre Verletzung in Gereiztheit umschlug. »Was?«
Nichts.
»WAS?!?«
Ein junger Mann mit einem Einkaufstrolley aus Lastwagenplane schaute forschend zu ihr herüber, doch anscheinend war es in Ordnung, laut zu brüllen, solange man sich dabei eine Hand ans Ohr hielt.
»Ich höre, dass du eine Menge Aufmerksamkeit brauchst«, sagte Simon mit farbloser Stimme.
»Fein, DANN GIB MIR DIESE AUFMERKSAMKEIT DOCH!«
»Wo hast du gelernt, dass Leute besonders nett zu dir sind, wenn du sie anschreist?«
»Dein Lover kommt nicht damit klar, wenn du Erfolg hast«, würde Priti später sagen, das war ihre Standardanalyse von Beziehungskonflikten. Nivedita dagegen war so wund davon, dass ihr Leute ständig sagten, wer sie sei und was sie denke und warum sie gerne Reis esse, dass sie nie dazu in der Lage war, irgendwelche Motivationen bei anderen zu diagnostizieren.
Bitte frag mich, wie es gelaufen ist, dachte sie so laut sie konnte. Aber Simon war damit beschäftigt, Simon zu sein. Ein anderer Anruf klopfte im Handy. Nivedita ignorierte das Piepen an ihrem Ohr und den körperwarmen Nieselregen, der sich wie ein Atemhauch über den telefonfreien Rest ihres Gesichts legte, als sie auf den Bertha-von-Suttner-Platz hinaustrat und ihr Fahrrad aufschloss. Simon schwieg noch immer. Hinter den Wolken räusperte sich ein kleinlauter Donner und schwieg dann einfach ebenfalls.
»Hast du meinen neuesten Post gesehen?«, fragte sie schließlich, um zu irgendeiner Form von Kontakt zurückzukehren. Und machte damit — unglaublich, aber wahr — alles noch viel schlimmer.
Es war die Tageszeit, zu der man das Licht anmacht und der Raum dadurch dunkler wird. Nivedita stieß die Tür ihrer WG auf und rief »Ich bin wieder da« in die leere Wohnung hinein, die ihre Stimme verschluckte wie vorher die schallisolierten Wände des Radiostudios, nur dass hier keine fröhliche Verena mit melancholischem Monahund auf sie wartete. Ein Blick in das Zimmer neben der Küche bestätigte, dass ihre erste Mitbewohnerin nicht zu Hause war. Ein weiterer hinter die Tür mit dem Mandala, dass ihre in jeder Beziehung zweite Mitbewohnerin ebenfalls nicht da war. Nivedita kämpfte sich durch die durchweichten Pappverpackungen und unidentifizierbar beschrifteten Gläser im Kühlschrank, bis sie einen Rest Käse fand, den sie auf einen einsamen Keks rieb, bevor sie merkte, dass sie keinen Hunger hatte. Auf dem Küchentisch begann ihre Tasche zu vibrieren. Sie versuchte, das Handy zu ignorieren, um Simon zu zeigen, dass sie nicht auf seinen Anruf wartete. Da sie ihm jedoch zutraute, einfach aufzulegen und es nicht weiter zu versuchen, ging sie nach erschreckend kurzer Zeit doch dran. Die Stimme am anderen Ende war angemessen zerknirscht. Der Haken war, dass es nicht Simons Stimme war.
»Nivi?«, schluchzte Priti.
»Was ist passiert?«, fragte Nivedita erschrocken.
Priti schnitt ihr das Wort ab: »Nivi?«
»Am Telefon. Was ist los?«
»Nivi?«, sagte Priti zum dritten Mal, und Nivedita beschloss, beim vierten Mal einfach zu schreien. Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, griff ihre Tasche und ein Glas Wasser und bahnte sich mit dem Ellbogen einen Weg in ihr Zimmer. »Ja, ja, ja. Nivedita hier. Jetzt, wo wir das geklärt hätten …«
Wieder unterbrach sie Priti, doch dieses Mal mit den vier Worten, die bisher noch jedes Krisengespräch eingeleitet hatten. »There was this boy …«
Nur dass Boy nicht wirklich zutreffend war, da Saraswatis Bruder dem Rentenalter näher war als der Pubertät. »Old but gold.«
»Saraswatis was?«, rief Nivedita und verschüttete beinahe das Wasser über die T-Shirts, die sie am Morgen nach dem Anprobieren auf ihr Bett geworfen hatte.
»Bruder — hörst du mir nicht zu?«
»Saraswatis Bruder?«
»Correct.«
»Saraswatis Bruder?«
»Still correct«, sagte Priti und vergaß beinahe zu schluchzen.
»Gold …?«
»You know: im Bett!«
»Nein, weiß ich nicht, ich wusste noch nicht einmal, dass Saraswati einen Bruder hat! Und bestimmt nicht, wie er im Bett ist!«
»Sure, you only want to get into Saraswati’s knickers«, schniefte Priti.
»Sehr lustig, haha. Saraswatis Bruder!?!«
Später würde Nivedita aus Pritis unzusammenhängenden Erzählungen die Geschichte rekonstruieren, die vielleicht, aber auch nur vielleicht, der Realität entsprach. Priti mochte junge Frauen, ältere Männer und trans Menschen jeden Alters, je kontroverser desto sexyer, und Saraswatis Bruder war natürlich … kontroversplusplus. Mit so jemandem, mit ihm, mit diesem Bruder zu schlafen, war wie mit Saraswati zu schlafen und ihr dabei gleichzeitig den blanken Po zu zeigen, denn Saraswati und ihr Bruder hatten Priti zufolge die gesamten letzten dreißig Jahre nicht miteinander gesprochen. Und zwar so sehr nicht miteinander gesprochen, dass Saraswati ihm nicht einmal mitgeteilt hatte, dass sie ihren Namen geändert hatte.
Und —
»… her colour.«
Nivedita hatte gedacht, sie hätte den Tiefpunkt des Tages bereits erreicht und alles könne im schlimmsten Fall nur so bleiben, wie es war. Sie hatte sich geirrt.
»Sie hat WAS geändert!?«
»Na, ihre Hautfarbe.«
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis Nivedita unter den T-Shirts ihren Laptop fand. Als das blaue Licht des Bildschirms endlich auf ihre Bettdecke sickerte wie Milch, vertippte sie sich wieder und wieder bei ihrem Passwort (»milk«) und gab dann über die hysterischen Pings der hereindrängenden Nachrichten hinweg Saraswati und weiß mit der Einstellung letzte 24 Stunden ein. Okay. Oh Kali. Okay. VIERUNDACHTZIGTAUSEND Ergebnisse, und jedes davon war wie ein Schlag auf einen anderen neuralgischen Punkt ihres Körpers.
Ihr Magen: Skandal um Postkolonialismus-Star-Professorin (Huffington Post vor drei Stunden)
Ihre Schläfe: Professur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen (SPIEGEL ONLINE vor einer Stunde)
Ihr Solarplexus: Falscher Guru an Düsseldorfer Universität (taz vor 44 Minuten)
Tausendundeine Fragen stürmten auf Nivedita ein, aber sie hatte nicht genug Atem, um auch nur eine davon zu stellen. Stattdessen hörte sie ihre eigene Stimme, schwebend und hell, als hätte sie Helium inhaliert: »Ich glaube kein Wort.«
»Es gibt auch Bilder«, informierte sie Priti mit vor Tränen dumpfer Stimme, als würde sie gerade in einem nassen Schlammloch versinken.
»Was?«
»Well, Fotos von Saraswati von … vor der Verwandlung.«
Aber Nivedita hatte sie bereits gefunden. Sie klickte wahllos auf das erste Bild und bereute es sofort. Saraswati sah aus, als wäre sie mit Madonna in ihrer Blond-Ambition-Phase gemerged worden: Die Spitzen ihres Bustiers bohrten sich so aggressiv durch ein Jackett, das damals bestimmt noch unter dem Namen »Herrensakko« firmiert hatte, dass Passanten Gefahr liefen, sich daran die Augen auszustechen oder das Herz, der einzige Unterschied war, dass ihre hochgegelten Schlafzimmerlocken nicht platingold waren, sondern aschblond; auf dem nächsten Foto lehnte ein gigantischer Rucksack an ihren weißen Beinen und ihre Beine lehnten am Air-India-Schalter eines deutschen Flughafens (»Das haben sie reinretouchiert. Ich hätte mir Air India damals nie im Leben leisten können«, würde Saraswati ihr später erklären. »Ich bin mit Emirates geflogen.«); das nächste zeigte sie als Siebzehnjährige in einem süddeutschen Wohnzimmer mit Klavier und Couchgarnitur, von der aus ihr ebenfalls jugendlicher Bruder (»Mit DEM hast du geschlafen?«) versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen. Doch Saraswati, oder besser die Frau, die einmal Saraswati werden würde, fixierte einen Punkt jenseits der Kamera, ihre Lippen zu einem Kussmund gerundet, als hätte sie gerade Foucault gesagt.
Als Nivedita Saraswati das erste Mal traf, war sie dreiundzwanzig und Saraswati ein wenig mehr als doppelt so alt.
Nivedita hatte Saraswatis Seminar im kommentierten Vorlesungsverzeichnis dick umkreist. Nur dass Saraswati dort nichts kommentiert hatte, sondern lediglich schrieb: Kali Studies. Nicht das chemische Element, sondern die Göttin — und darunter ein Bild von Kali. Von Niveditas Kali. Schwarz und nackt, mit herausgestreckter Zunge und einem Rock aus abgerissenen Armen. Von Kali, mit der Nivedita schon immer endlose Gespräche in ihrem Kopf geführt hatte, wenn die Welt keinen Sinn ergab oder wenn die Welt zu viel Sinn ergab. Von Kali, die sie bis in den Schlaf verfolgt hatte, bis in die Erinnerung an Schlaf, bis in ihre frühesten Träume.
Nivedita war noch zu jung gewesen, um selbst lesen zu können, also musste ihr ihre Mutter Rotkäppchen vorgelesen haben. Jedenfalls stand sie mitten im Satz in einem Märchenwald, der verdächtig nach Regenwald aussah (oder hatte ihre Mutter ihr das Dschungelbuch vorgelesen?), und aus dem Dickicht winkte ihr eine dunkle Gestalt mit zweien ihrer Arme, während sie mit den anderen beiden die Äste auseinanderbog. Nivedita erkannte Kali sofort als die Göttin, die überall in der Wohnung ihrer Eltern herumhing und stand und sogar auf dem Armaturenbrett des Familienautos klebte und beim Fahren immer mit ihrem Kopf und den erhobenen Armen wackelte, und stellte die Frage, die ihr, seit sie sie das erste Mal mit dem Finger angestupst hatte, um sie zum Leben zu erwecken, auf dem Herzen brannte: »Warum hast du so viele Arme, Kali?«
Kalis Lächeln ließ ihre lange rote Zunge aus ihrem Mund rollen. »Um dich besser umarmen zu können.«
Kali Studies war wie eine Nachricht aus dieser Welt ihrer Kindheit, als Identitäten der Stoff von Märchen gewesen waren, in denen alles möglich schien und — nur damit es nicht zu harmonisch wurde — eine stets zu Unfug aufgelegte Horde Dschinns alle Normen auf den Kopf stellte und alle Werte remixte. Nivedita, neu von Essen nach Düsseldorf gezogen, neu in ihrer WG, neu im Masterstudiengang Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie, begrüßte diesen Splitter Vertrautheit mit der ganzen Inbrunst ihrer Befremdung.
»Kali Studies?«, wiederholte Priti, mit der sie damals vor drei Jahren in nahezu jeder Nacht skypte, weil Priti gerade ebenso neu in London gestrandet war, um am King’s College War Studies zu studieren (in Wirklichkeit war Priti nicht für War Studies angenommen worden und studierte stattdessen Germanistik, aber das fand Nivedita erst heraus, als es bereits zu spät war). »Hier sind alle destined, in den Civil Service zu gehen«, erklärte Priti unverdrossen. »Oder into Government. Während ihr … was kann man mit Kali Studies werden?«
Ein Klopfen an der Tür ersparte Nivedita die Antwort.
»Ja?«
»Ja, ich meine, meinst du, wir sollten da hingehen?«, fragte ihre zweite Mitbewohnerin Charlotte — genannt, wie hätte es auch anders sein können, Lotte — mit glühenden Wangen und bereits mitten im Gespräch, bevor sie richtig hereingekommen war. Lotte war eine dieser Giraffenfrauen, groß mit langen Armen und langem Torso, der fast ohne erkennbare Taille in ihre langen Beine überging, so dass sie stets eher elegant als erotisch wirkte. Und Priti, die Menschen nach ihrem Sexappeal kategorisierte, hielt sich nicht zurück, ihre Einschätzung visuell kundzutun. Nivedita kippte den Bildschirm ihres Laptops, auf dem Priti dazu den Zeigefinger einmal, zweimal, dreimal quer über ihre Kehle zog, möglichst unauffällig aus Lottes Blickfeld, während sich ein Strom von Informationen über sie ergoss: Seminarräume, Uhrzeiten, Wochentage, so dass es eine Weile dauerte, bis sie herausfand, von welchem Seminar Lotte überhaupt sprach. Als dann der magische Name fiel, erwischte er Nivedita unerwartet.
Sie hatte gedacht, dass nur sie sich für Kali interessierte, und ihre Intimität mit der indischen Göttin auf die unbekannte Saraswati übertragen, so dass beide in ihrem Kopf zu einer Person verschmolzen waren und versprochen hatten, Nivedita in ihre Arme zu schließen. Es fühlte sich an, als hätte Lotte sie bei besonders kinky Sexspielen ertappt.
»Nicht Kinky Studies, Kali Studies«, berichtigte Lotte und wusste natürlich bereits alles darüber, zumindest über die Professorin. »Sie ist Kult«, verkündete sie und versuchte, eine dramatische Pause einzulegen, doch die Worte drängten zu heftig aus ihr heraus. »Alle reden von ihr, Nivedita! Ich meine: Alle! Hast du ihren Auftritt bei Maischberger gesehen? Oder war das Markus Lanz? Wahrscheinlich beide. Ich habe nur Angst, dass wir nicht mehr reinkommen.«
Also radelte Nivedita zwei Tage später zusammen mit Lotte zur Uni und wartete in einem brechend vollen Seminarraum auf die Ankunft der sagenhaften Saraswati. Doch die ließ sich Zeit.
Eine Viertelstunde nach der akademischen Viertelstunde stürmte sie schließlich mit wehender Dupatta herein, schleuderte ihre Ledertasche aufs Pult und verharrte einen Atemzug lang mit dem Rücken zu ihnen vor der Tafel, als müsse sie sich erst sammeln, bevor sie sich dem Seminar stellte wie einer Herausforderung. Ihr Haar lag lang und schwarz und schwer auf ihrem Nacken und ließ Niveditas eigenen Nacken bis hinunter zwischen die Schulterblätter prickeln in Erinnerung an das Streicheln der Borsten auf ihrer Haut, wenn Priti ihr die Haare bürstete, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis, das sonst nur Regen auf fließendem Wasser in Nivedita auslöste, oder die Bilder von Amrita Sher-Gil, oder Marihuana.
Saraswati drehte sich perfekt durchchoreografiert um, hob die Brille, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, vor die Augen und begutachtete mit gerunzelter Stirn die Reihen von Studierenden: »Okay, erst einmal alle Weißen raus.«
Schweigen, während sich alle fragten, ob sie richtig gehört hatten.
»Los, los, wir haben nicht den ganzen Tag. Packt eure Sachen. Ihr könnt im nächsten Semester wiederkommen. Dieses Seminar ist nur für Students of Colour.«
Es war, als würden sich tektonische Platten verschieben. Berge erhoben sich, wo vorher leere Flächen gewesen waren, die Erde barst auf und etwas brach von Niveditas Kontinent ab und trieb hinaus in die See der möglichen Optionen.
»Ich meine, das stand nicht im Vorlesungsverzeichnis«, protestierte Lotte, und Nivedita bewunderte sie für ihre Hartnäckigkeit, wenn auch nicht für ihre Fähigkeit, Gefahrensituationen einzuschätzen.
Saraswati warf Lotte einen langen Blick zu und sagte amüsiert: »Was ist so schwer an ›raus‹ zu verstehen, dass du es schriftlich brauchst?«
Ohne ein weiteres Wort nahm Lotte ihre Stifte-Rolle von Etsy und ihr Moleskine vom Tisch. Die ersten Studierenden drängten bereits unter Unmutsäußerungen aus der Tür, als ein elfenhaftes Mädchen mit elfenbeinfarbener Haut, wenn der Elefant Kettenraucher gewesen wäre, die Hand hob.
»Ja?«
»Wer zählt alles als Student of Colour. Also, wo ist die Grenze?«, fragte die junge Frau unsicher.
Saraswati klatschte in die Hände: »Exzellente Frage! Wer von euch fühlt sich von dem Begriff angesprochen?«
Ein paar Studierende erhoben sich zögerlich. »Ihr könnt bleiben!«
Lotte stand ebenfalls auf, allerdings mit gepacktem Rucksack. »Kommst du mit oder bleibst du?«, flüsterte sie Nivedita zu. Die Verletzung in Lottes Gesicht schmerzte Nivedita, aber zu gehen hätte sie viel mehr geschmerzt.
»Ich bleibe«, raunte sie zurück und fügte dann nachträglich dazu, um Lotte zu trösten: »Erstmal.«
»Aber du bist doch weiß«, sagte Lotte.
»Nein. Ich bin nicht weiß«, sagte Nivedita zum ersten Mal in ihrem Leben zu einer weißen Person. Sie hatte Priti schon häufig zu erklären versucht, dass sie genauso ein Anrecht auf ihr geteiltes ethnisches Erbe hatte wie Priti, dass sie — Herrgottnochmal, beziehungsweise: Hai Ram! — schließlich Verwandte waren. Aber bisher hatte sie noch nie einer weißen Deutschen die Gemeinsamkeit verweigert. Doch keine Kolonialarmee der Welt hätte sie aus diesem Seminar hinausbekommen.
Bloß konnte sie das alles Lotte nicht sagen, ohne sie noch mehr zu verletzen: Schatz, ich gehöre zu einem Club, zu dem du keinen Zutritt hast. Dabei gehörte Lotte zu zahllosen Clubs, zu denen Nivedita keinen Zutritt hatte. Zum Club derer, die zum Entzücken aller mit mädchenhaft weit aufgerissenen Augen ausrufen konnten … was auch immer Lotte ständig mit mädchenhaft weit aufgerissenen Augen rief. Zum Club derer, die an Weihnachten »nach Hause« fuhren und damit meinten: nach Hannover. Zum Club derer, die sich darüber beschweren konnten, dass zu wenig Frauen in den Serien vorkamen, die sie sich abends zusammen ansahen, ohne sich gleichzeitig darüber zu beschweren, dass in denselben Serien zu wenig Menschen mit mehr Melanin vorkamen.
Dabei stimmte Nivedita Lotte natürlich zu, dass sie gerne mehr weibliche Rollenmodelle gehabt hätte. Deshalb war es so aufregend, dass ein solches Rollenmodell nun so nahe vor ihren Augen hin und her stolzierte, dass sie es hätte berühren können, wenn sie auf die zerkratzte Melaminharzplatte des Tischs geklettert wäre und den Arm ausgestreckt hätte. Wahrscheinlich ging Saraswati in Wirklichkeit überhaupt nicht auf und ab, aber in Niveditas Kopf war sie zu dynamisch, um einfach nur vor ihrem Seminar herumzustehen.
»So!«, sagte Saraswati befriedigt, als sich die Tür hinter den letzten weißen Studierenden geschlossen hatte. »Dann fangen wir mal an. Warum seid ihr geblieben?« Die Stille schwoll in Niveditas Kehle an, bis sie meinte, alle ihre nie ausgesprochenen Worte würden sie zum Bersten bringen. Und während sie noch überlegte, wo sie anfangen sollte, platzte schon die Geschichte von Kali und dem Dschungel aus ihr heraus, allerdings endete sie nicht mit »um dich fester umarmen zu können«, sondern mit »um dir das Herz aus der Brust zu reißen und es durch ein stärkeres, besseres Herz zu ersetzen«.