Wer ist menschlicher? Der Mensch oder der Affe? Die Weltpremiere von T.C. Boyles neuem
Roman
Sam, der Schimpanse, den Professor Schermerhorn in eine TV-Show bringt, kann in der
Gebärdensprache nicht nur einen Cheeseburger bestellen, sondern auch seinen Namen
sagen. Wie ein Kind wächst er umsorgt von Wissenschaftlern auf. Als die schüchterne
Aimee dazu stößt, entspinnt sich eine einzigartige Beziehung: Sam erwidert ihre Gefühle
und entwickelt sich regelrecht zu einem Individuum. Als jedoch die Vision Schermerhorns,
der an das Menschliche im Tier glaubt, keine Schule macht, wird er für Tierexperimente
von einer anderen Universität beschlagnahmt. Aimee ist am Boden zerstört und fasst
einen verrückten Plan. T.C. Boyle geht ebenso komisch wie mitfühlend der Frage nach,
ob uns Tiere ähnlicher sind, als wir vermuten.
T. Coraghessan Boyle
Sprich mit mir
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
Ich bin Sam. Ich bin Sam. Sam bin ich.
Dr. Seuss: Green Eggs and Ham
Kathleen Elizabeth Boyle
1950—2019
Sie lernte nicht. Sie wollte lernen, sie hatte es vor, sie würde jeden Moment damit anfangen. Aber erst wollte sie das Album zu Ende hören — das neue von den Talking Heads mit der bassbetonten Coverversion von »Take Me To The River«, das sie nicht oft genug hören konnte — und durch alle Fernsehkanäle zappen, während sie ihre tägliche Dosis Dinatriumguanylat, autolysierten Hefeextrakt und ausgeschmolzenes Hühnerfett zu sich nahm. Mit anderen Worten: die Instant-Ramen, die in letzter Zeit so ziemlich das Einzige waren, was sie aß. Sie waren billig und schnell zubereitet, und das war alles, was zählte. Nicht, dass sie darüber besonders froh gewesen wäre — sie wusste, sie sollte sich besser ernähren, aber es war Wochen her, dass sie etwas auch nur annähernd Gesundes gegessen hatte, und das waren dann bloß Spaghetti mit einer roten Sauce aus dem Glas gewesen, dazu ein paar Blätter Eisbergsalat und ein bisschen eingelegtes Gemüse. War eingelegtes Gemüse gesund? Es beugte Skorbut vor, das hatte sie irgendwo gelesen. Columbus hatte es als Proviant auf der Niña, der Pinta und der Santa Maria mitgenommen, aber sie befand sich ja nicht auf hoher See, sondern in einem Studentenwohnheim, und ihr Problem war Zeit. Und Wille. Arbeiten, lernen, arbeiten, lernen — es war, als säße sie auf einem Standfahrrad und träte wie verrückt in die Pedale, ohne sich je vom Fleck zu bewegen.
Die Ramen (mit Shrimp-Limonen-Geschmack) kochten auf dem Herd. Ihre Bücher lagen ausgebreitet auf dem alten Schrankkoffer vom Trödel, den sie als Sofatisch benutzte. Sie wollte lernen und dabei essen, danach vielleicht einen kleinen Spaziergang machen und dann weiter lernen, bis sie zu Bett ging, was sie in letzter Zeit irgendwann zwischen elf und zwei tat, je nachdem, wie gelangweilt sie war und wie aussichtslos ihr das Streben nach einem Studienabschluss vorkam. Doch zuerst griff sie nach der Fernbedienung, um zu sehen, was gerade im Fernseher lief. Auf dem Bildschirm erschien ein Haufen entschlossener Gestalten mit Helmen und Stollenschuhen, die auf einer weiten, leuchtend grünen Rasenfläche einem Ball hinterherliefen. Sie schaltete weiter: eine Sitcom. Weiter: Nachrichten. Weiter: eine Gameshow.
Es war eine, die sie auch zu Hause immer gesehen hatte, und als das Logo eingeblendet wurde, war ihr Heimweh wie ein kleiner Stich: Sie und ihre Schwester lagen auf dem Teppich im Wohnzimmer und machten ihre Hausaufgaben, ihre Mutter saß im Fernsehsessel, ließ die Eiswürfel in ihrem zweiten oder dritten Wodka-Soda klirren und rauchte eine Lark, während eine weitere im Aschenbecher vor sich hin qualmte. Und dazu die Show, so tröstlich in ihrer Banalität, alles wie immer, ein paar Prominente, von denen man bis zu dieser Sendung noch nie gehört hatte — wer bitte war Kitty Carlisle? — und die sich bemühten, witzig und urban zu wirken. Das Ganze war ein Schaufenster, in dem die Mittelschicht eine Welt der Martinis, der Limousinen und des großzügig aufgetragenen Make-ups besichtigen konnte. Drei Männer — zwei ältere mit Brille und ein jüngerer ohne — erschienen aus den Kulissen und behaupteten, Guy Schermerhorn zu sein, bevor sie sich an den rechts aufgebauten Kandidatentisch setzten. Ihnen gegenüber, auf der linken Seite, stand der Tisch des Rateteams aus vier Prominenten, die herausfinden sollten, wer log und wer die Wahrheit sagte.
Eigentlich hatte sie keine Zeit dafür, aber dann hatte sie sie doch, denn was der Moderator da ankündigte, war nicht das Übliche: Guy Schermerhorn war nicht der unscheinbare Ehemann einer Sexbombe oder irgendein Autorennfahrer, den man nur an seinem Helm erkannte, oder der Entdecker eines neuen Elements im Periodensystem, sondern ein Wissenschaftler, der behauptete, er bringe Affen das Sprechen bei. Sie hatte davon gehört — das Ganze fand sogar hier, an der UCSM, statt, oder? Und bei näherem Hinsehen kam ihr der junge Typ, der in der Mitte, irgendwie bekannt vor, als hätte sie ihn schon mal auf dem Campus gesehen, doch ob das nun stimmte oder nicht — sie war auf jeden Fall sicher, dass er die Wahrheit sagte. Die beiden anderen verströmten mehr professorale Würde, aber das lag nur an den Brillen und dem Altersunterschied, und natürlich versuchten die Produzenten der Show, das Publikum zu täuschen, damit es ebenso im Dunkeln tappte wie das Rateteam, denn sonst hätte sich das ja niemand angesehen.
Bill Cullen — auch er trug eine Brille, mit so dicken Gläsern, dass sie seine Augen verzerrten — war als Erster an der Reihe und fragte den Guy Schermerhorn Nr. 1, der ganz links saß: »Was hat der Affe als Erstes gesagt? Ich vermute, es war entweder: ›Hast du mal ’ne Zigarette?‹ oder: ›Kannst du mir zehn Cent leihen, damit ich meinen Anwalt anrufen kann und er mich hier rausholt?‹«
Das Publikum lachte. Guy Schermerhorn Nr. 1 lachte ebenfalls, fasste sich aber und sagte: »Sie sprechen nicht im eigentlichen Sinne — es ist mehr eine Gebärdensprache.«
»Ach, tatsächlich?« Bill Cullen beugte sich über den langen Tisch, an dem das Rateteam saß. Er genoss es, er freute sich über die Gelegenheit, all den Leuten in den Wohnzimmern Amerikas zu zeigen, was für ein scharfsinniger Bursche er war, und kostete aus, dass er prominent war und sie nicht. »Wie sagt man: ›Für mich einen Martini ohne Eis und mit zwei Oliven‹?«
Wieder lachte das Publikum. Guy Schermerhorn Nr. 1 parierte die Frage mit einem kleinen Witz, als wollte er sich für einen Platz im Rateteam empfehlen. »Wir raten unseren Affen von Alkohol ab«, sagte er und sah mit unbewegtem Gesicht in die Kamera, aber er versuchte nicht mal, irgendeine Gebärde zu machen, und das fand Aimee, die sich ohnehin schon auf Nr. 2 festgelegt hatte, total verräterisch.
Jetzt war Kitty Carlisle dran, alterslos mit ihrer mitternachtsschwarzen Hochfrisur, auch wenn die Haut am Hals so straff gespannt war wie ein Einkaufsnetz. Sie warf einen katzenhaften Blick in die Kamera und sah dann Nr. 3 an. »Könnten Sie uns vielleicht einen Satz in die Gebärdensprache übersetzen? Sie benutzen doch Gebärdensprache, oder?«
Nr. 3 nickte.
»Wir wär’s mit, sagen wir: ›Möchtest du deinen Kaffee schwarz oder mit Milch und Zucker?‹«
Der Mann hob die Hände in Brusthöhe, und für einen Augenblick dachte Aimee, sie habe sich getäuscht, und dieser Typ sei der echte Guy Schermerhorn, doch dann ließ er sie wieder sinken und sagte: »Sie kriegen keinen Kaffee.«
»Weil es sie zappelig macht?«, fragte der Moderator, und wieder lachten alle. Der Moderator saß in der Bühnenmitte an einem eigenen Tisch, seine Glatze schimmerte im Scheinwerferlicht. Sein Name fiel Aimee nicht ein, aber das machte nichts. Auch er war ein Prominenter.
Kitty Carlisle konnte sich den Witz nicht verkneifen. »Und was ist mit koffeinfreiem?«, fragte sie niemand Besonderen — sie warf es einfach in die Runde —, bevor sie den Kandidaten in der Mitte, Guy Schermerhorn Nr. 2, mit einem durchdringenden Blick musterte. »Was ist mit Ihnen, Nummer zwei — können Sie uns zeigen, wie man zu einem Affen sagt: ›Möchtest du deinen Kaffee schwarz oder mit Milch und Zucker?‹« Und mit einem raschen Blick in die Kamera: »Ich meine, nur für den Fall, dass wir mal einen Affen zum Abendessen einladen.«
Guy Schermerhorn Nr. 2 — der echte Guy Schermerhorn, da war sich Aimee ganz sicher — war Ende zwanzig, Anfang dreißig und hatte langes, knapp links der Mitte gescheiteltes Haar, das er hinter die Ohren gestrichen hatte. Seine Augen zuckten, doch dann kam sogleich eine unerschütterliche Ruhe über ihn. Er gebrauchte nur die Finger (man nannte es das Fingeralphabet, erfuhr sie später) und bewegte sie so schnell und sicher, als wäre er ein Klarinettist, der den »Hummelflug« ohne Instrument spielte.
Kitty Carlisle sagte: »Das war entweder das Erstaunlichste, was wir in dieser Show je gesehen haben, oder aber völliger Blödsinn. War es völliger Blödsinn, Nummer zwei?«
Schermerhorn Nr. 2 schüttelte den Kopf, und dann bekamen die anderen beiden Mitglieder des Rateteams Gelegenheit, die Kandidaten zu befragen, aber die Sache war im Grunde entschieden, und am Ende stimmten drei für Guy Schermerhorn Nr. 2, einer (Bill Cullen) für Nr. 1 und keiner für Nr. 3. Doch halt, es war noch nicht vorbei: Als alle darauf warteten, dass der echte Guy Schermerhorn aufstand und sich verbeugte, geschah etwas Unerwartetes …
Der Vorhang hinter der Bühne teilte sich, und siehe da, ein Schimpanse in Windeln und einem Polohemd mit abgeschnittenen Ärmeln trat hervor, und er stützte sich nicht auf die Fingerknöchel, sondern bewegte sich in einem schwankenden Watschelgang wie ein Zweijähriger, was er, wie sich herausstellte, auch war. Er sah die Zuschauer an, die bei seinem Erscheinen in Jubel ausgebrochen waren, und dann ging sein Blick zu dem Tisch, hinter dem die Kandidaten saßen. Er stieß ein leises Grunzen aus, galoppierte, auf allen vieren jetzt, über die Bühne, setzte über den Tisch und landete auf dem Schoß des Mannes in der Mitte, als hätte es daran je einen Zweifel geben können. Und nicht nur das — er umarmte Guy Schermerhorn wie einen Geliebten, küsste ihn auf den Mund, wandte den Kopf und starrte in die Kamera, als wäre das alles gar nichts Besonderes. Er bewegte die Hände, erst in Richtung Kamera, dann zu Guy Schermerhorn, und der machte ebenfalls Gebärden, andere Gebärden, als verstünde er, was der Affe ihm mitteilen wollte, und als verstünde der Affe ihn — als würden sie, vor den Augen der Nation, miteinander kommunizieren.
Das Grinsen des Moderators war so breit wie der Bildschirm. Er hatte ebenfalls eine Frage an den Mann mit dem Affen: »Was hat er gerade gesagt?«
»Er sagt, er will einen Cheeseburger.«
Tosendes Gelächter.
»Hat er einen Namen?«, fragte der Moderator, der diesen gelungenen Augenblick voll auskosten wollte. Das Lächeln klebte wie aufgebügelt auf seinem Gesicht. Die Kamera schwenkte über das Publikum — ein Meer von leuchtenden Augen und offenen Mündern — und dann zurück zu Schermerhorn.
Der sprach laut aus, was er zu dem Affen gebärdete: »WIE IST DEIN NAME?«
Der Schimpanse — er war wirklich süß, eine zum Leben erweckte Puppe mit großen Ohren — machte eine rasche Gebärde mit einer Hand, bevor er über sein Ohr strich, als wollte er eine Fliege verjagen, und Guy Schermerhorn übersetzte: »Sein Name ist Sam.«
Aber der Schimpanse — Sam — war noch nicht fertig. Er machte weitere Gebärden, vielleicht eine Berichtigung oder ein Zusatz, und seine Gesten waren so schnell, dass man nicht folgen konnte, bis Guy Schermerhorn sie langsam wiederholte. »Und er fragt« — er hielt Daumen und Zeigefinger an die Wange, berührte mit einem Finger seine Brust und schob die Hand mit einer wellenförmigen Bewegung nach vorn — »›Wann darf ich nach Hause?‹« Eine kleine Pause, und dann machte der echte Guy Schermerhorn noch eine Gebärde, indem er die Handflächen horizontal aneinanderlegte: »Ins Bett.«
Auf dem Herd hinter ihr kochten die Ramen über. Verdampfende Flüssigkeit zischte, es roch scharf nach verbranntem Shrimp-Limonen-Aroma, und sie sprang auf und hob den Topf von der Platte, während das Studiopublikum klatschte und pfiff und Guy Schermerhorn den Schimpansen an die Hand nahm, mit ihm über die Bühne ging und hinter dem Vorhang verschwand. Für einen Moment versank sie tief in Gedanken. Es war, als hätte sich eine Tür, die ihr Leben lang verschlossen gewesen war, mit einem Mal geöffnet. Dieser kleine Kerl mit den redegewandten Fingern und aufmerksam blickenden Augen hatte nicht bloß einen Wunsch geäußert — nämlich dass er einen Cheeseburger wollte —, sondern war auch imstande, sich die Zukunft und einen Ort jenseits seiner unmittelbaren Umgebung vorzustellen, und das war etwas, das Tiere angeblich nicht konnten. Und doch hatte sie es mit eigenen Augen gesehen. Es sei denn natürlich, es handelte sich um irgendeinen Trick. Es sei denn, er hatte bloß nachgeäfft, was sein Lehrer ihm beigebracht hatte.
Aber was, wenn nicht? Es ging dabei um Wissenschaft, oder? War Guy Schermerhorn denn nicht Wissenschaftler? Und was, wenn es wirklich möglich war, mit Angehörigen einer anderen Spezies zu kommunizieren, sich mit ihnen zu unterhalten, anstatt ihnen zu befehlen und sie abzurichten wie Papageien, die nur wiedergaben, was man ihnen beigebracht hatte? Oder wie Hunde. Braver Hund — Sitz — Platz — Willst du ein Leckerli? Nein, es wäre ganz anders. Es wäre ein Gespräch, ein tiefgründiger Gedankenaustausch. Da spekulierte man über Leben auf anderen Planeten, während hier, direkt vor uns, ein vollkommen anderes Bewusstsein existierte, das nur darauf wartete, freigesetzt zu werden. Kannten Affen einen Gott? Hatten sie eine Seele? Dachten sie über Tod und Erlösung nach? Über Jesus? Beteten sie? Wussten sie etwas über Wirtschaft, Raketen, den Weltraum? Sehnten sie sich nach dem Dschungel? Wussten sie überhaupt, was ein Dschungel war? Und was war mit dem kollektiven Unbewussten — gab es das auch bei Affen? Träumten sie? Hatten sie Wünsche? Erhofften sie sich etwas von der Zukunft?
Sie wusste es nicht, und wahrscheinlich war es bloß irgendein Trick, aber als sie im Bett lag, nicht um eins, sondern früher, sehr viel früher — die Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Tisch, die Hausaufgabe für das Psychologie-Seminar war gerade erst in Angriff genommen und weit davon entfernt, fertig und getippt zu sein —, schloss sie die Augen und versetzte sich in Guy Schermerhorn, schlenderte durch das Set von Sag die Wahrheit und verschwand hinter dem Vorhang, Hand in Hand mit diesem kleinen Kerlchen mit den großen Ohren, dem Clownsgang und den Augen, die sagten: Hier bin ich — komm und hol mich.
Sie glaubte nicht an Karma oder Zufall oder wie immer man es nennen wollte, und sie war nicht abergläubisch, nicht besonders jedenfalls. Sie war praktizierende Katholikin, auch wenn sie öfter zur Messe hätte gehen können, und zugleich glaubte sie, auch wenn das ein konzeptioneller Widerspruch sein mochte, an die überprüfbaren Erkenntnisse der Wissenschaft. Dennoch gab es Zufälle, es gab Déjà-vu-Erlebnisse und Synchronizität und das immer wiederkehrende Gefühl, dass wir nicht bloß unser Körper sind, und das alles sprang sie an, als sie zwei Tage später in das Gebäude des Instituts für Psychologie trat, um Professor Lindelof um eine Terminverlängerung zu bitten, und Guy Schermerhorns Gesicht sie von einem Zeitungsartikel am Schwarzen Brett in der Eingangshalle ansah. Auf dem Foto, offenbar einem Standfoto aus Sag die Wahrheit, hielt er den kleinen Affen auf dem Schoß. Die Überschrift des Artikels lautete: »UCSM-Professor in landesweiter Fernsehshow«.
Dann hatte sie ihn also tatsächlich auf dem Campus gesehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wann und wo und in welcher Situation das gewesen sein könnte — bestimmt hier, in diesem Gebäude, oder in der Student Union oder der Bibliothek —, aber es gelang ihr nicht. Sie wusste nicht mal, welche Farbe sein Haar hatte — im Fernsehen und auf dem Zeitungsfoto, das leider schwarz-weiß war, schien es hell, vielleicht sogar blond zu sein. Sie wusste auch nicht, wie groß er war und ob er gewöhnlich Anzug und Krawatte trug oder Jeans und ein Flanellhemd wie Professor Lindelof. Ihr erster Impuls war, den Artikel einzustecken, damit sie ihn irgendwo in Ruhe lesen konnte, aber ringsum waren Leute und Stimmengewirr, ihr dröhnte der Kopf von der schieren Wucht dessen, was ihr gerade widerfuhr, und das war kein Zufall, das ging weit darüber hinaus.
Sie stand in der belebten Eingangshalle, und es war, als wäre sie schwerelos, als würde sie schweben. Sie überflog den Artikel und hoffte, dass niemand sie beobachtete — andererseits: und wenn schon? Sie war eine Studentin, die etwas las, das am Schwarzen Brett hing, und dafür waren Schwarze Bretter schließlich da, oder? Im Artikel stand, dass Dr. Schermerhorn Privatdozent für Psychologie und sein Spezialgebiet die vergleichende Psychologie war. Er war ein Schützling von Dr. Donald Moncrief von der Davenport University in Iowa, einem Pionier auf dem Gebiet der Aufzucht von Schimpansen in menschlicher Umgebung zur Erforschung ihrer Entwicklung und ihres möglichen Spracherwerbs. Dr. Schermerhorn war einer von nur sechs Wissenschaftlern aus dem ganzen Land, die Dr. Moncrief für ein Forschungsprogramm ausgewählt hatte, und wurde zitiert, er habe die Einladung zu dieser Fernsehshow angenommen, um die Öffentlichkeit auf diese Art von Forschung aufmerksam zu machen und Mittel für das noch im Aufbau begriffene Primatenforschungsprogramm der UCSM zu werben.
»Oh, sieh mal, der Affenprof. Ist ja toll. Der war gerade im Fernsehen.«
Zwei Studentinnen standen neben ihr. Die eine (schlechter Teint, Hundehalsband, kupferrotes, ganz kurz geschnittenes Haar) kannte sie von ihrem Statistikkurs. Aimee hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt, aber sie redete ja ohnehin mit niemandem, wenn es sich vermeiden ließ. Wenn sie angesprochen wurde, gab sie eine Antwort, bestimmte Reize erforderten bestimmte Reaktionen — so funktionierte die Gesellschaft eben —, doch es sprach sie niemand an außer den Kassiererinnen im Supermarkt, die bloß »Hallo« und »Schönen Tag noch« sagten, und hin und wieder einer ihrer Professoren, und denen ging sie nach Möglichkeit aus dem Weg. Begegnungen in der Öffentlichkeit waren ihr unbehaglich — so war sie eben. Sie war ein zurückhaltender Mensch, das jedenfalls sagte ihre Mutter, und obwohl sie im Hauptfach Frühpädagogik studierte und Lehrerin für Vorschüler oder vielleicht Erstklässler werden wollte, würde sie sich in einem Beruf ohne Kontakt mit anderen Menschen wahrscheinlich wohler fühlen. Als Imkerin. Oder als Försterin. Oder als Dichterin, als Schriftstellerin, die allein in ihrem Zimmer saß und nur das Summen ihrer IBM Selectric hörte — aber leider war sie keine Schriftstellerin. Die Wörter in ihrem Kopf gerieten irgendwie immer durcheinander, und das war auch der Grund, warum ihre Hausarbeit noch nicht fertig war und sie sich glücklich schätzen konnte, dass sie es mit mittelmäßigen Noten durchs erste Studienjahr geschafft hatte.
»Hast du bei dem mal ein Seminar gemacht?«, sagte die Freundin von der mit dem Hundehalsband. Sie trug schwere Schnürstiefel und ein sehr zerknittertes T-Shirt, hatte aber langes Haar wie so ziemlich alle auf dem Campus.
»Ich? Mein Hauptfach ist Englisch.«
»Ich meine im ersten Studienjahr — da hast du doch Einführung in die Psychologie belegt.«
»Aber nicht bei ihm, sondern bei Lindelof. Im Fernsehen sah er irgendwie nett aus. Hast du ihn gesehen? Vorgestern Abend?«
»Nein.«
»Also, er hat da so ein Affenprojekt und war in Sag die Wahrheit. Steht alles in dem Artikel.« Die eine Studentin zeigte auf das Schwarze Brett.
»Schimpansen«, berichtigte Aimee sie, sah sie dabei aber nicht an, sondern blickte auf ihre Füße.
Die mit den kurzen Haaren starrte sie an, als sähe sie Aimee zum ersten Mal — dabei musste sie gemerkt haben, dass sie neben ihr stand. Sie war ja diejenige gewesen, die sich so dicht neben Aimee gestellt hatte, dass sich ihre Schultern beinahe berührten, und außerdem musste sie sie doch vom Statistikkurs kennen, wo sie Leidensgenossinnen gewesen waren. »Was hast du gesagt?«
Aimee sah sie kurz aus dem Augenwinkel an. »Es geht nicht um Affen, sondern um Schimpansen.«
»Dasselbe, nur anders.« Die Kurzhaarige trug eine zwei Nummern zu kleine Motorradjacke. Ihr Lippenstift war schwarz, das Gesicht leichenblass. Das nannte man Punk, eine Mode, die aus L. A. stammte und gerade erst auf dem Campus angekommen war. Sie wandte sich zu ihrer Freundin. »Der Affe kann reden. Mit den Händen. Wie Taubstumme. Es war, ich weiß nicht … irgendwie schräg.«
»Was meinst du mit ›schräg‹?«
Die mit dem Hundehalsband lachte. »Der Affe hat ihn geküsst. Auf den Mund.«
»Echt?«
»Was ich schon ziemlich pervers finde.«
»Hast du noch nie deinen Hund geküsst?«
»Ich hatte nie einen. Mein Vater ist allergisch.«
»Also, meiner hat mich jedenfalls geküsst, und ich hab ihn auch geküsst.«
»Auf den Mund?«
»Nein, so meine ich das nicht. Auf den Kopf oder auf die Nase. Ein kleines Küsschen — das macht jeder. Du solltest mal meine Mutter sehen, nicht nur mit dem Hund, sondern auch mit unserem Kater Bernie. Sie hebt ihn hoch und drückt ihm Küsse auf die Nase. Und er liebt das. Jedenfalls tut er so. Er weiß genau, wo das Futter herkommt.«
»Tut mir leid, ich will ja nicht spießig oder so sein, aber das finde ich richtig ekelhaft.«
Von da an hörte Aimee nicht mehr zu. Nicht, dass sie den beiden überhaupt sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte — sie versuchte noch immer, sich auf den Artikel zu konzentrieren —, doch in diesem Augenblick fiel ihr Blick auf den Zettel neben dem Zeitungsausschnitt, als wäre er eben erst dort erschienen. Und im nächsten Augenblick hielt sie ihn in der Hand und eilte davon. Ihre Hausarbeit und Dr. Lindelof waren plötzlich ans untere Ende ihrer Prioritätenliste gerutscht. Auf dem Zettel stand:
»Professor Schermerhorn sucht studentische Hilfskräfte für sein Fremdpflegeprojekt. 10—20+ Wochenstunden. Keinerlei Erfahrung erforderlich, nur Geduld und ein gesunder, starker Rücken.«
Das war alles. Ziemlich geheimnisvoll. Die einzige weitere Information war eine Telefonnummer. Als Aimee endlich eine Telefonzelle gefunden hatte — im Untergeschoss des Institutsgebäudes, neben den Snack- und Getränkeautomaten —, konnte sie sie auswendig.
Er hatte kein Wort für Worte, noch nicht jedenfalls, aber trotzdem kannte er Worte. Er kannte SCHLÜSSEL. Er kannte SCHLOSS. Er kannte RAUS. Er war ein Gefangener. Auch dafür hatte er kein Wort, und wenn er es gekannt hätte, wäre es bedeutungslos gewesen. Was hatte ein Wort, irgendein Wort, mit dieser Situation und diesem Ort im unaufhörlichen Strom des Jetzt zu tun? Und mit dem Gefühl — ANGST —, das er dabei empfand? Er hatte Durchfall, der ein Schmerz im Bauch war, ein Gestank, eine warme Pfütze aus Scheiße, für die Worte und Gedanken unnötig waren. Er wollte seine DECKE, eine Decke, irgendeine Decke. Er fror. Er war verstört. Er wiegte sich hin und her. Er starrte ins Leere. Er zupfte sich Haare an den Armen, an seinem Kinn, am Kopf aus: Trichotillomanie — doch dieses Wort kannte er ebenfalls nicht. Wie denn auch? Und wenn er es gekannt hätte? Hätte es ihn hier rausgebracht?
Die einzige Erlösung war Schlaf, und der kam mit einem Wirbel unzusammenhängender Bilder: das Badezimmerlicht, so hell wie die Sonne am Himmel, das Rinnsal aus blutwarmem Wasser in der Wanne, das Gesicht von ihr, die ihm am meisten bedeutete und deren Namen er mit der Gebärde bezeichnete, die er selbst erfunden hatte und bei der er in seine rechte Brustwarze kniff, weil es die war, in die er sie kniff, wenn sie mit ihm im BETT lag und sie es beide schön warm hatten und sein HEMD auf dem BODEN lag. Doch dann erwachte er. Immer erwachte er. Und da waren die Schreie und der Gestank und sein Durchfall und das Essen, das er nicht wollte, und der Lärm von Körpern, die auf Metall einschlugen.
Wenn er durstig war, kam der Durst als eine Empfindung, die ohne Worte auskam, die vor den Worten lag, und dann nahm er seinen Becher und trank ihn aus. Er dachte nicht TRINKEN, er gebärdete nicht TRINKEN — er trank einfach. Bis der Becher leer war und niemand ihn wieder füllte. Dann erst kam das Wort. Und das Zeichen, die Gebärde: Daumen an die Unterlippe, Bezeichnung und Bitte zugleich. Und wenn niemand reagierte, wenn der Becher ungefüllt blieb und die Kiste, der KÄFIG, das Gefängnis, dessen Länge und Breite er immer und immer wieder mit dem Körper ausmaß, von Verzweiflung sprach, von Wut, dann schrie er. Er schrie. Er schrie.
Am Morgen, der eigentlich gar kein Morgen war, weil es hier keine Fenster gab und das Licht immer gleich hell war, kamen sie mit Essen, das er nicht wollte, das er zurückwies, und er kratzte seine Scheiße so gut es ging zusammen und schleuderte sie durch das Gitter. Das gefiel ihnen nicht. Sie wichen zurück und fluchten mit ihren fremdartigen Stimmen, und er hob die Hand unter das Kinn und wedelte mit den Fingern und fluchte zurück: SCHMUTZIG, SCHMUTZIG. Aber das half nicht. Nichts half. Er rüttelte mit den Händen und Füßen an den Gitterstäben, aber die waren aus kaltem Stahl und rührten sich kein bisschen, und hinter den Gitterstäben sah er nur noch mehr Gitterstäbe und kahle Wände und Schatten, die sich bewegten, und schließlich sank er in sich zusammen. Was hatte er getan? Wo war er? Wo war sein Zimmer, wo waren sein Haus und sein BETT und sein BAUM? Wo war sie, und warum hatte sie zugelassen, dass man ihn hierhergebracht hatte?
Er ertrug es, solange er konnte, und kauerte ganz hinten in seiner Zelle, der Kiste, dem KÄFIG, doch dann sprang er auf, klammerte sich an die Gitterstäbe und schrie und schrie, bis der GROSSE MANN durch die Tür trat und alle anderen Stimmen verstummten. Es war, als hätte nie eine andere Stimme durch die Korridore geschrillt und von den kahlen Wänden widergehallt als seine eigene, und natürlich kannte er auch das Wort »Widerhall« nicht, kannte nicht den akustischen Signifikanten, sondern nur das Phänomen, das er bezeichnete, die physische Auswirkung, deren Wahrnehmung Trommelfelle, Hörschnecken und Nervenbahnen erforderte. Der GROSSE MANN kam und hatte den Stachel in der Hand, den man Kuhtreiber nannte, noch ein Wort, das er nicht kannte. SCHMERZ, das kannte er. Und KUH, das große, schwerfällige nachtschwarze Tier, das die Schatten im Gebüsch hinter ihrem Haus noch dunkler erschienen ließ, hinter seinem Haus, dem Haus, wo er vorher gewesen war. Aber das half ihm gar nicht, denn der GROSSE MANN mit dem einen Auge, mit der schwarzen Augenklappe, die aussah, als hätte man ein Loch in seinen Kopf gebohrt, wurde größer und breiter und berührte ihn mit dem Stachel, und im nächsten Augenblick wand er sich auf dem kalten Betonboden und war jenseits aller Worte außer SCHMERZ, außer ANGST.
Sie war eine schmächtige, schüchterne junge Frau, dermaßen schüchtern, dass er das Bewerbungsgespräch praktisch allein bestreiten musste. Er hatte gerade mit einem Direktor der örtlichen Tochtergesellschaft von CBS gesprochen, der ihn in Sag die Wahrheit gesehen hatte und wissen wollte, ob Guy bei einem Beitrag über seine Forschungen mitmachen würde, zusammen mit dem Schimpansen natürlich, denn der war einfach … also, sie waren allesamt platt, alle im Sender waren hin und weg, und konnte er wirklich reden, oder war das bloß etwas, das sie vorher einstudiert hatten? —, als sie in der Tür erschien, die er während der Sprechzeit geöffnet ließ. Heute allerdings hatte er insgeheim gehofft, es werde niemand kommen, denn an der Heimatfront ging es mehr als chaotisch zu, und wenn er nicht so bald wie möglich nach Hause kam, würde es eine weitere Kündigung geben. Er musste Tests korrigieren. Er musste zum Supermarkt. Zur Tankstelle. Zur Bank.
Sie klopfte nicht an den Türrahmen, sie sagte nicht: »Entschuldigung«, sie räusperte sich nicht mal — sie stand nur da, bis er sie bemerkte und sagte: »Was kann ich für Sie tun?«
Sie errötete. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen jetzt passt …« Sie stockte. »Wir hatten telefoniert.«
Er konnte sich an nichts erinnern.
»Sie haben gesagt, um drei.«
»Ach, natürlich — wegen der Stelle, stimmt’s?« Er schwang auf dem Stuhl herum und stand auf. »Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen … In letzter Zeit ist ziemlich viel los. Aber bitte, setzen Sie sich doch.« Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Sie zögerte einen Moment, warf einen Blick über die Schulter, als wollte sie sichergehen, dass er tatsächlich mit ihr sprach, trat ein und setzte sich auf die Stuhlkante. Sie war klein, nicht größer als eins sechzig, und er musste unwillkürlich an Olga Korbut denken, deren geschmeidiger Körper und strahlendes Lächeln ihn während der letzten Olympischen Spiele fasziniert hatten, doch diese Frau war hübscher als Olga Korbut, viel hübscher. Sie hatte ein Gesicht, das die meisten ganz automatisch als »lieb« bezeichnet hätten, was eigentlich Unsinn war, denn die individuellen Gesichtszüge waren ein Zufallsprodukt der Gene und ließen keinerlei Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu, sei sie nun extravertiert oder neurotisch, fürsorglich oder gemeingefährlich. Dennoch konnte er den Blick nicht von ihr wenden.
»Und Sie sind?«, fragte er.
»Aimee?«, sagte sie mit leiser Stimme, und es klang, als wollte sie das, was sie sagte, zugleich in Frage stellen. »Aimee Villard?«
»Und Sie sind eingeschriebene Studentin, ja? Im Grundstudium?«
»Ja.«
»Psychologie als Hauptfach?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Biologie?«
»Nein«, sagte sie. »Frühpädagogik.«
Ein Stück den Korridor hinunter wurde gehämmert. Man renovierte das Büro von Vic Singer, einem Behavioristen alter Schule, der vor einem Monat gestorben war, am Schreibtisch übrigens — Herzinfarkt. Vic hätte sich mehr Bewegung verschaffen sollen, dachte er und spürte den kurzen Stich eines Bedauerns, das nicht nur seinem gestorbenen Kollegen, sondern auch allen anderen in diesem Gebäude, auf dem Campus, in der Wissenschaft galt — vor allem und am meisten aber ihm selbst. Man verbrachte sein Leben damit, sich um Fördergelder zu bewerben und Wissen anzuhäufen, und vielleicht publizierte man, vielleicht aber auch nicht, und eines Tages legte man den Kopf auf die Schreibtischplatte und stand nicht mehr auf. Die Wissenschaft schritt voran. Man selbst nicht. Sie saßen da und lauschten dem unsteten Rhythmus des Hämmerns, das ein- und aussetzte wie ein unregelmäßiger Herzschlag.
»Haben Sie schon mal mit Primaten gearbeitet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder mit anderen Tieren? Haustieren?«
»Meine Eltern haben einen Hund«, sagte sie. »Und eine Katze.«
»Und wie sieht’s mit Babysitten aus? Haben Sie das schon mal gemacht? Denn darauf wird es wohl rauslaufen, fürchte ich, und falls Sie auf eine Teilnahme am Projekt oder sonst irgendwelche Vorteile gehofft haben, muss ich Sie leider enttäuschen.« Er lachte. »Das gibt’s nur für Studenten im Hauptstudium.«
Dazu sagte sie gar nichts. Sie sah nur auf ihre Hände, die steif gefaltet in ihrem Schoß lagen. Er merkte, dass er es mit einer Persönlichkeit zu tun hatte, die ihm nützlich sein konnte: pflichtbewusst, zurückhaltend, keine Fragen, kein Widerspruch. Ganz anders als Melanie, die vor drei Wochen gegangen war und nicht mehr zurückkehren würde. Vor ihm saß eine junge Frau — mit einem lieben Gesicht —, die er lenken konnte wie ein Fahrrad. Oder wie eine Vespa — remm rem-rem.
»Können Sie kochen? Putzen?«
»Mh-hm.«
»Und was ist mit Windeln? Schon mal Windeln gewechselt?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich glaube schon.«
»Sie glauben? Noch eine Frage, Aimee — habe ich Ihren Namen richtig verstanden: Aimee? Sagen Sie mir: Warum wollen Sie diesen Job?«
»Weil ich Sie im Fernsehen gesehen hab.«
»Das ist alles? Weil Sie mich im Fernsehen gesehen haben?«
»Ich will mit ihm reden. Ich will unbedingt mit ihm reden.«
Gerade als er gehen wollte, tauchte noch eine Bewerberin auf, eine dickliche Frau, die erst einmal verschnaufen musste, nachdem sie die Treppe — sein Büro war in der dritten Etage — bewältigt hatte. Sie schleppte einen vollgepackten Rucksack, der so olivgrün war wie ihr Kleid, und er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau freiwillig Olivgrün trug, es sei denn, sie war im ROTC und bekam ihr Studium von der Army finanziert, was ein Ausschlusskriterium wäre, denn er brauchte jemanden, der zeitlich flexibel war. Wie sich herausstellte, studierte sie im Hauptfach Psychologie, was ein Pluspunkt war, und behauptete, sie habe auch mal einen Kurs bei ihm belegt, doch er konnte sich nicht an sie erinnern (weil er überarbeitet und gestresst war und man ihm zu allem Überfluss auch noch Einführungskurse aufgebürdet hatte). Sie musste ihm angesehen haben, dass er jetzt eigentlich keine Lust auf ein Bewerbungsgespräch hatte, aber er überwand seinen Ärger, schloss die Bürotür wieder auf und bat sie, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, auf dem vor einer Viertelstunde noch Aimee gesessen hatte.
»Tja«, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück, »dann erzählen Sie mir mal, warum Sie den Job wollen.«
»Ich weiß nicht. Es klingt jedenfalls interessant.«
»Und Sie haben mich im Fernsehen gesehen, stimmt’s?«
Sie hieß Barbara und hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten, die vom Kopf abstanden, sodass sie aussah, als trüge sie Ohrenwärmer. Sie hatte dicke Handgelenke und kleine, zarte Hände. »Ja«, sagte sie und lächelte. »Das war toll. Sie waren toll.«
Alle hatten ihn im Fernsehen gesehen. Das Fernsehen war ein Tor zu einer anderen Dimension. Die Studenten, die ihn — sofern sie nicht gewohnheitsmäßige Streber waren — sonst geflissentlich übersahen, grüßten ihn, wenn er über den Campus ging, und seine Kollegen schauten unter dem einen oder anderen Vorwand in seinem Büro vorbei, um nachzusehen, ob ihm bereits Flügel gewachsen waren.
»Und was ist mit Sam?«
»Ja, der war auch toll.« Ihr Lächeln wurde breiter. »So süß.«
»Sie sind nicht im ROTC, oder?«
»Ich? Nein. Warum?« Sie wirkte überrascht, wenn nicht gar gekränkt.
»Wegen der Arbeitszeiten. Sich um einen Schimpansen zu kümmern ist ein ziemlicher Fulltime-Job. Ich will damit sagen: Es erfordert eine Menge Einsatz. Sind Sie sicher, dass Sie dem gewachsen sind?«
»Oh ja«, sagte sie und nickte eifrig. »Hundertprozentig.«
Er erklärte ihr den Weg zu dem Haus, das zehn Kilometer außerhalb der Stadt lag und zu einer Ranch gehörte, die ein ehemaliger Absolvent der Universität vermacht hatte, und dann sagte er ihr dasselbe, was er Aimee gesagt hatte: »Kommen Sie um fünf, dann stellen wir Sie Sam vor — letztlich liegt die Entscheidung bei ihm.«
Auf dem Heimweg fuhr er zu schnell. In rasender Eile erledigte er, was zu erledigen war — Bank, Tankstelle, Supermarkt —, und dann trat er aufs Gas, doch als er endlich auf der schnurgeraden Landstraße war, die zur Farm führte, war plötzlich ein Polizeiwagen hinter ihm. Er fluchte, schaltete runter und vermied es, auf die Bremse zu treten, denn das hätte ein Schuldbewusstsein signalisiert, während er, wenn der Motor den Wagen nach und nach auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit (80? 90?) abbremste, wenigstens so tun konnte, als wäre er unschuldig. Vielleicht würde es ihm gelingen, sich irgendwie rauszureden — sofern der Bulle ihn überhaupt anhielt, was ja nicht unbedingt passieren musste … aber dann passierte es eben doch. Das Einsatzlicht blinkte, die Sirene heulte ihre blecherne Klage.
Der Polizist war etwa so alt wie Guy, und sein Gesicht verriet gar nichts. Er trug eine Pilotenbrille, und die verspiegelten Gläser zeigten Guy sein eigenes Gesicht in doppelter Ausfertigung. Der Polizist beugte sich zum Fenster und sagte: »Sie scheinen es ziemlich eilig zu haben.«
»Nein«, sagte Guy, »eigentlich nicht. Ich habe Feierabend und fahre nach Hause.«
»Führerschein und Zulassung«, sagte der Polizist.
Die Berge standen da, erhoben sich als braune Auffaltungen aus schrundigem Fels über den Horizont. Alles war still. Insekten funkelten im Licht der tief stehenden Sonne wie schwebende Edelsteine, und der Geruch des ausgedörrten Gestrüpps schlug über ihm zusammen. Er brauchte einen Moment, um die Papiere aus dem Handschuhfach zu kramen und sie dem Polizisten zu geben, und dabei kochte er innerlich vor Wut. Das Blöde, das Fiese war, dass er nicht mal einen Kilometer von zu Hause war: Das Ranchhaus lag am Fuß der Berge, umgeben von leuchtend grünen Eichen, die er von hier aus sehen konnte. Er sagte noch einmal, aber mit sanfterer Stimme: »Ich will bloß nach Hause.«
»Sie wohnen auf der Harlow Ranch?«
»Ja, gleich da drüben.« Er zeigte mit dem Finger.
Der Polizist reagierte nicht. Er studierte die Papiere, dann sah er auf. »Ich glaube, ich kenne Sie.«
Guy zuckte die Schultern.
»Sie sind dieser Professor, stimmt’s? Mit dem Affen?«
Guy machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren.
»Und er lebt da bei Ihnen, im Haus? Das hab ich jedenfalls gehört.«
»Ja.« Er wies auf die Einkaufstüten auf dem Beifahrersitz. »Deswegen fahre ich ja nach Hause: um ihm sein Abendessen zu machen.«
»Kein Scherz?« Jetzt grinste der Bulle. »Und was machen Sie ihm?« Er lachte. »Einen Cheeseburger?«
Als er ankam, war es beinahe fünf. Der Bulle — Ted Simmons, seit acht Jahren Polizist, verheiratet, drei Kinder, großer Fan von Sag die Wahrheit — hatte ihn geschlagene zwanzig Minuten am Straßenrand festgehalten. Er hatte ihm den Strafzettel erspart und den Vortrag über zu schnelles Fahren und die Tatsache, dass die Leute, die hier wohnten, nur unter Lebensgefahr aus ihrer Zufahrt auf die Straße einbiegen konnten, ein wenig abgemildert, aber er hatte alles über Sam wissen wollen — was er am liebsten aß und ob er wusste, wie man aufs Klo ging, und ob sie vorhatten, ihm ein Weibchen zu besorgen —, und dann hatte er eine lange Geschichte erzählt, die mit den Worten anfing: »Ich hatte mal einen Freund, der hatte auch einen Affen.«
Sobald Guy den Schlüssel in das erste der drei Schlösser an der Haustür steckte, hörte er drinnen Sam in seine Gutes-Essen-Schreie ausbrechen, was bedeutete, dass ihm noch niemand etwas gegeben hatte. Er unterdrückte ein Aufwallen von Zorn. Kein Grund zur Aufregung, sagte er sich, auch wenn er sowohl Josh als auch Elise gesagt hatte, es könne später werden. Ja, die Speisekammer war so gut wie leer, aber einer von ihnen hätte doch zum Laden fahren können, oder? Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielte: Er hatte Obst und Joghurt gekauft, um Sams Hunger etwas zu dämpfen, und je nachdem, wie es lief, konnte er entweder Nudeln kochen oder Pizza bestellen. Oder es Josh auftragen. Oder Elise. Und sich einen Drink einschenken und zehn Minuten bloß im Sessel sitzen, sofern das nicht zu viel verlangt war.
Die Sache war nur, dass sich der Schlüssel im unteren Schloss nicht drehen ließ. Überhaupt ließ er sich nicht ganz hineinschieben, ein weiteres Ärgernis, und er musste die Einkaufstüten abstellen, damit er beide Hände frei hatte und der Sache auf den Grund gehen konnte — wahrscheinlich hatte Sam in einem unbemerkten Augenblick etwas in das Schlüsselloch gesteckt. Das war einer seiner Streiche. Er wollte auch immer in Steckdosen stochern oder die Angeln von den Schranktüren schrauben. Die Schreie waren jetzt lauter und dringlicher, und Sam schlug rhythmisch mit den Handflächen an die Tür. Endlich ließ sich der Schlüssel drehen, die Tür wurde aufgerissen, und da war er, mit vollgeschissener Windel, das Hemd mit Erdbeermarmelade beschmiert, und reckte die Arme. Im nächsten Augenblick sprang er an Guy hoch und klammerte sich an seine Schultern wie die kleinen Schimpansen im Urwald, die in den ersten vier Lebensjahren immer wieder von ihren Müttern getragen wurden. Aber Guy war nicht Sams Mutter — das war Melanie, oder vielmehr: Sie war es gewesen, bis sie eines Tages gesagt hatte: »Leck mich, Guy, leck mich am Arsch!«, und gegangen war —, und Sam war nicht im Urwald, sondern in Gefangenschaft. Und so sehr Guy auch an das Ideal der Fremdpflege, der Aufzucht von Schimpansen durch Menschen, glauben wollte — an dieser Tatsache war nicht zu rütteln.
Das Problem — eines der unzähligen Probleme — war: Man musste dafür sorgen, dass Sam in Gefangenschaft blieb. Und beschäftigt war. Er war wachsam, aufmerksam, er verstellte sich, erkundete Schwachstellen und nutzte jedes Versäumnis des Personals, um einen Fluchtversuch zu unternehmen, um auszubrechen und eine lustige Verfolgungsjagd zu veranstalten, denn das war sehr komisch, das war ein Mordsspaß, das war es, wofür er geboren war. Obwohl man sich größte Mühe gegeben hatte, das Haus schimpansensicher zu machen, obwohl man sämtliche Schubladen und Schranktüren und sogar den Kühlschrank mit Vorhängeschlössern versehen, die Wände und Türen der Zimmer mit Stahlblech verstärkt und Fenster mit neun Zentimeter dickem Sicherheitsglas eingebaut hatte, gelang es ihm immer wieder zu entwischen — so oft, dass es das ganze Projekt gefährdete. Auf der Landstraße war Verkehr (rücksichtslose Raser), den Nachbarn war womöglich jeder Vorwand recht, nach ihrer Jagdflinte zu greifen, und in den Bergen hinter dem Haus gab es Klapperschlangen, Luchse, Bären, Coyoten und sogar Pumas. Ein Schimpanse kostete zehntausend Dollar. Und in diesen hier hatte man beinahe drei Jahre intensiven Sprachtrainings investiert; man hatte seine Gebärden und Reaktionen aufgezeichnet, seine Psyche erkundet, seine Entwicklungsschritte vermerkt. Er beherrschte inzwischen mehr als hundert Gebärden. Er war im Fernsehen gewesen. Er war berühmt. Und wichtiger noch: Er war Guys Sprungbrett zu Höherem, einer vollen Professur zum Beispiel, einem Buchvertrag und Fernsehsendungen, mehr Fernsehsendungen.
»Elise? Josh?«
Keine Antwort. Das machte ihn sauer, ebenso wie der Zustand des Wohnzimmers: Stühle waren umgestürzt, das Sofa lag auf dem Rücken, an den Wänden klebte Essen, ganz zu schweigen von dem üblichen Chaos aus Spielzeug, Decken, Puzzlestücken und Zeitschriften, das wie Abfall auf dem Boden verstreut herumlag. Schlimmer noch: Der Fernseher in der Ecke lag auf der Seite, der Ton war dumpf und verschwommen, und das Bild lief unaufhörlich von unten nach oben durch. Er stieß einen Fluch aus und knallte die Tür hinter sich zu. »Elise!«, brüllte er. »Josh!«
In aller Unschuld und immer nur im Augenblick, klammerte Sam sich an seinen Rücken und machte leise Hu-Laute: Er wollte sein Abendessen, würde aber noch warten müssen, denn die Einkäufe standen unbewacht und ungekühlt auf der Vorderveranda, und Guy wollte nicht das Risiko eingehen, kurz rauszugehen und sie zu holen, selbst wenn es nur zehn Sekunden dauerte, jedenfalls nicht ohne Hilfe. Herrgott, wo waren die bloß?
In diesem Augenblick kam Josh mit betretenem Gesicht aus der Küche. »Tut mir leid, Guy, aber er hat den ganzen Nachmittag einen Wutanfall nach dem anderen gehabt und einen richtigen Affenzirkus veranstaltet — jetzt weiß ich jedenfalls, woher der Ausdruck kommt. Er war gar nicht zu bändigen, wir konnten praktisch nichts machen. Es war so schlimm, dass Elise sich im Badezimmer eingeschlossen hat.«