Über das Buch

Ljuba Arnautovic erzählt mit ihrer Familiengeschichte das Drama des 20. Jahrhunderts in Wien, Moskau und im Gulag. Ein poetischer Roman über Schicksal und politische Willkür.

1934 schickt Eva, die in Wien dem Republikanischen Schutzbund angehört, ihre Söhne Slavko und Karl fort, um sie vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Die »Schutzbundkinder« machen Ferien auf der Krim und kommen dann in ein luxuriöses Heim in Moskau. Bis Hitler den Pakt mit Stalin bricht. Slavkos Spuren verlieren sich, Karl wird aufgegriffen, kommt in eine Besserungsanstalt für Kinder und Jugendliche und schließlich als »Volksfeind« ins Arbeitslager. Im Gulag lernt er seine zukünftige Frau Nina kennen — die Mutter der Autorin. Karl will nach Wien zurück, sobald es die Umstände erlauben, seine Frau zwingt er damit in die Fremde … Ljuba Arnautovic erzählt anschaulich, poetisch und mitreißend, wie Menschenverachtung und politische Willkür im 20. Jahrhundert das Schicksal der Menschen bestimmten — das Schicksal ihrer eigenen Familie.

Für meine Schwester Larissa

1

Anastasia hat keine Augenbrauen. Und mit 32 Jahren noch keinen Ehemann. Braucht sie keinen? Kriegt sie keinen? Weil sie keine Augenbrauen hat? Weil sie eine erste Tochter ist?

Dabei ist die Erklärung einfach. Der ihr bestimmt ist, muss erst noch zum Mann werden.

Als sie ihren Zukünftigen zum ersten Mal sieht, ist sie fünfzehn, und er ist ein kleiner Bub, den man in den Laden neben der Kirche geschickt hat. Es ist sein erstes Mal. Die halbwüchsige Anastasia steht hinter dem Ladentisch, als der Fünfjährige den fensterlosen Laden betritt, um Kerzen zu kaufen und einen Hering aus dem Fass. Die Helligkeit der Straße im Rücken, die Wangen rot vor Aufregung, umklammert er eine Münze in der verschwitzten, vor die Brust gepressten Faust. Anastasia wickelt das Wechselgeld in ein Tüchlein, damit es nicht verlorengeht. Dieses Tüchlein wird er ihr 1927 zurückgeben, wenn sie 32 und er 22 Jahre alt sein wird und er ihr endlich seinen Antrag machen kann. Jetzt streicht sie dem Kleinen eine hellblonde Strähne aus der Stirn und fragt ihn nach seinem Namen. Er nimmt eine gerade Haltung an: »Fjodor Nikolajewitsch Botscharow«, sagt er laut und ernsthaft seinen vollen Namen auf und geht davon. Sie lächelt ihm hinterher und murmelt: »Fjodor. Fedja. Fedjka.«

Der Laden gehört Anastasias Onkel, einem Bruder ihrer Mutter. Die Familie ist groß, aber das Mädchen und seine Eltern haben mit den meisten Mitgliedern keinen Umgang. Anastasias Mutter Jewgenija lebt ohne den Segen ihres Vaters, weil sie gegen seinen Willen eine unpassende Verbindung eingegangen ist.

Jewgenijas Familie gilt als wohlhabend. Die Stadt Kursk, in der sie seit Generationen ansässig ist, liegt im fruchtbaren Schwarzerdegebiet tief in der russischen Provinz. Moskau ist mehr als fünfhundert Kilometer entfernt, im Norden. Im Süden ist es nicht weit bis zur Ukraine. Die Sprache der Bewohner ist schon davon gefärbt, die Vokale gedehnt und die Konsonanten weich.

Unter Jewgenijas Vorfahren finden sich Verwalter fürstlicher Güter, Popen, mehrere Lehrer, kleine und mittlere Beamte, ein Militärarzt und sogar ein Advokat. Bildung wird als der Schlüssel zu einer guten Position in der Gesellschaft gesehen, und früh wird den Kindern das Streben danach als wichtigster Lebensinhalt vermittelt. Jewgenijas Vater, Anastasias Großvater, erlernte von Jugend an das Geschäft seiner Vorfahren und übernahm schließlich das Holzhandelskontor seines Vaters, um es später an seinen Ältesten weiterzureichen. Das erstgeborene Kind, Jewgenija, spielt — wie auch ihre Schwestern — in dieser Kette keine Rolle. Der erste Sohn erbt den Holzhandel, an den zweiten gehen die beiden Läden. Der eine, im Stadtzentrum gelegene, hält ein Sortiment bereit, das von einer städtischen Kundschaft nachgefragt wird. Ganz anders der kleinere Laden im unteren, dörflichen Teil der Stadt. Zwar gehört auch dieser Bezirk zum Stadtgebiet, aber er wirkt alles andere als städtisch. Das liegt wohl an den geografischen Gegebenheiten. Das Gelände wird von zwei Flüssen eingerahmt, die es jedes Frühjahr unter Wasser setzen. Die Menschen leben in einfachen Holzhäusern, die sich entlang einer staubigen Fahrstraße reihen. Sie ernähren sich zum Gutteil von ihren schmalen Gärten, die hinter den Häusern liegen und sich bis zum jeweiligen Fluss erstrecken. Es war klug, hier einen Laden zu eröffnen. Der Weg in die Oberstadt ist weit, die Straßen oft nicht benutzbar. Während der jährlichen Überschwemmungen im Frühling steht das Leben still, man besucht die Nachbarn mit Booten und sieht dem Wasser beim Versickern zu. Das Hochwasser ist stets willkommen, und wenn es einmal ausbleibt, sorgt man sich um die Fruchtbarkeit der Gärten.

Oben hatte man derweil eine richtige Stadt samt Bahnhof gebaut, Schienen wurden gelegt, und auf ihnen rollte der Fortschritt heran, brachte Baumaterial für Fabriken und Höhere Schulen. Die neue Zeit fegte über die Unterstadt hinweg, ihre Holzhütten duckten sich noch tiefer in die braune Erde, während oben Asphalt gebraut und Straßen gegossen wurden, darauf graue Häuser aus Stein wuchsen. Alle Neuerungen spielten sich in der Oberstadt ab. Lange blieben die Menschen herunten ohne Strom, Wasserleitung und Kanalisation. Jene, die zum Lernen oder zum Arbeiten hinaufgingen, brachten Geschichten mit, über die die Alten ungläubig den Kopf schüttelten. Mit jedem Jahr wandten sich die Jungen mehr von Schlamm, Wasserpumpen und Latrinen ab und suchten den Komfort der neuen Zeit. Sie verheirateten sich »nach oben«, und am Tag nach der Hochzeit zogen sie in die steinerne Stadt.

Nicht so Jewgenija, die älteste Tochter der Familie. Sie hatte sich noch als Schülerin in einen Burschen verliebt, dessen Familie nicht über die Mittel — oder wenigstens den Ehrgeiz — für einen Aufstieg verfügte. Sie folgte ihrem Bräutigam hinunter — geografisch wie auch gesellschaftlich.

Der Besitz, zu dem es Jewgenijas Familie über Generationen gebracht hatte, sollte unbedingt bewahrt, wenn möglich vermehrt werden. Das war nur durch gute Partien gewährleistet. Man hatte in fünf Kinder investiert, auch den Mädchen eine gute Bildung zukommen lassen. Diese Investition musste sich lohnen. Das Ausscheren seiner Ältesten enttäuscht den Vater. Fast bereut er, diese Hauslehrer mit ihren neumodischen Ideen beschäftigt zu haben. Er selbst glaubte ja auch an den Fortschritt, die Technik und ihre Hervorbringungen, und an die Befreiung der Menschen von Mühsal, Dummheit und Sklaverei. Wenn er auch nichts von einem Umsturz hielt, von dem die immer wieder kursierenden Flugschriften kündeten, ließ er sich doch von der Begeisterung für manch neue Idee, die diese Zeilen verkündeten, beeindrucken. Später kamen ihm Zweifel. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif? Vielleicht hätte er kein Risiko eingehen, seine Töchter doch lieber nach alter Sitte erziehen sollen? Bei den Jüngeren, nimmt er sich vor, wird er strenger sein, hoffentlich ist es noch nicht zu spät.

Einen Fluch gegen seine Erstgeborene auszusprechen, dazu wollte er sich trotz seiner bitteren Enttäuschung über ihre Unfolgsamkeit nicht entschließen. Das hätte auch die nachfolgende Generation betroffen, und dies erschien ihm doch unverhältnismäßig hart. Und so hat er es mit der Verweigerung seines Segens gut sein lassen. Seine Frau, die weiterhin Kontakt zu Jewgenija hält, lässt er gewähren, nur wird zwischen ihnen kein Wort darüber gewechselt. Und er lässt es zu, dass seine Enkelin Anastasia im Laden seines Sohnes aushilft. Nie richtet er ein Wort an das Mädchen, aber er beobachtet Anastasia verstohlen aus der Entfernung, sucht und entdeckt Ähnlichkeiten. Ihm gefallen ihre gerade Haltung und ihr verschlossener Ernst.

Als Anastasia den kleinen Fjodor, ihren zukünftigen Ehemann, kennenlernt, steht sie bereits seit vier Jahren an mehreren Nachmittagen in der Woche im Laden des Onkels, nachdem sie mit elf Jahren nach der fünften Klasse die Grundschule beendet hat — keine Rede von Hauslehrern wie bei ihren Cousinen und Cousins. In der übrigen Zeit versorgt sie die jüngeren Geschwister, damit ihre Mutter Jewgenija sich der Wäsche fremder Herrschaften in der Oberstadt widmen kann, einer notwendigen Einnahmequelle der Familie, seit das Unglück geschehen war.

Die Balken und Ziegel liegen aufgeschichtet im Garten, die Helfer aus der Nachbarschaft sind schon bestellt und der Tag bestimmt, an dem mit dem Ausbau des Hauses begonnen werden soll. Jewgenija ist gerade mit dem dritten Kind schwanger, als ihr Mann den Arbeitsunfall hat, in dessen Folge ein Bein steif bleibt. Seinem Beruf als Zimmermann kann er fortan nicht mehr nachgehen, und so lässt er sich von einem Pelzschneider anlernen und arbeitet als sein Gehilfe. Frau und Kinder müssen erleben, wie ein Mensch vor ihren Augen zu einem anderen wird. Seine Absicht, es dem Schwiegervater zu beweisen, ist zunichte, die Schmerzen im Bein manchmal nicht zu ertragen. Aus dem ehrgeizigen, aber sanften Mann wird einer, der oft schreit und mit Gegenständen, später auch mit Menschen grob umgeht. Alkohol kann den Schmerz etwas betäuben, und den zerstörten Stolz. Der Schwiegervater behält recht, und Jewgenija hat am Ende vier Kinder, aber keine Familie mehr und keine Liebe.

So bleibt nur das winzige Häuschen, in dem ihre wachsende Familie leben muss. Es besteht aus einem einzigen L-förmigen Raum, in dem Kochen, Waschen, Schlafen, Streiten stattfinden. Manchmal kommt Jewgenijas Mutter, Anastasias Großmutter, zu Besuch, sie ist ihrer ältesten Enkelin sehr zugeneigt. Die beiden verbindet eine Gemeinsamkeit. Als Anastasia acht Jahre alt ist, spricht die Großmutter zum ersten Mal von einer Besonderheit. Und von einem angeborenen Zeichen, einem Beweis. Einem Stempel, den die Natur bestimmten Frauen aufdrücke, die mit dieser angeborenen Gabe ausgestattet seien. Bei ihr selbst sei es ein behaartes, halbmondförmiges Muttermal am Schulterblatt. Ihre Tochter Jewgenija habe ein gespaltenes Ohrläppchen. Und bei ihr, der Enkelin Anastasia, fehlten die Augenbrauen. »Du bist die erste Tochter einer ersten Tochter einer ersten Tochter, du bist ein Glied in einer Kette, du hast Fähigkeiten. Später wirst du verstehen.«

Anastasia beginnt ihre Mutter zu beobachten. Erst jetzt nimmt sie den kleinen Makel wahr, von dem die Großmutter gesprochen hat. Jewgenija weiß ihn geschickt unter Haar und Kopftuch zu verbergen. Nachbarinnen kommen ins Vorhaus, und es wird geflüstert: Man ruft sie zu kranken Kühen oder zu Enten, die das Gefieder verlieren. Man bringt Säuglinge, deren Nabel nicht verheilen will, oder Kinder mit Warzen an den Fußsohlen. Jewgenija murmelt bestimmte Worte. Die Warzen verschwinden, der Nabel trocknet ab, den Enten wachsen Federn, und die Kuh gibt wieder Milch. Es ist nicht erlaubt, Geld für diese Dienste anzunehmen, aber die Nachbarinnen bringen ein Stück Kuchen, einen Becher Zucker oder Stoff für eine Schürze. Es wird getuschelt, und man verstummt, sobald das Mädchen in Hörweite kommt. Als Anastasia es eines Tages wagt, ihrer Mutter eine Frage zu stellen, zuckt Jewgenija nur unwirsch die Schultern und wendet sich einer Arbeit zu.

Bei Sonnenuntergang sitzen die Frauen des Viertels auf den Bänken vor ihren Häusern und lassen den Tag zu Ende gehen. Sie schweigen ausgiebig, bis sich das Licht und die Geräusche ringsum verändern. Dann reden sie. Der junge Fjodor habe seinen Beruf vielleicht nur deshalb gewählt, um in die Nähe dieses spröden Mädchens zu kommen? Dass mit der was nicht stimmt, ist doch offensichtlich. Wie schon deren Mutter Jewgenija (wie konnte die nur so ungeschickt sein und sich derart ungünstig verheiraten?) ist auch Anastasia den Leuten nicht geheuer. Worauf ist die stolz? Wie sie da so ungemein aufrecht im schummrigen Laden steht, abweisend, doch irgendwie leuchtend. Die glaubt wohl, dass sie auch so eine ist. Eine, die man braucht im Dorf, die man aber zugleich fürchtet. Niemand wagt es, ihr näher zu kommen als nötig.

2

Auch der 1903 geborene Fjodor darf nicht lange Kind sein. Seine Eltern sind arm, und früh muss er, als der ältere der beiden Söhne, im Garten, der hauptsächlich zum Anbau von Kartoffeln und Kohlköpfen genutzt wird, mithelfen. Und im Stall — auch wenn dieser Stall nicht einmal eine Kuh, nur eine Ziege, einige Hasen und eine kleine Hühnerschar beherbergt. Mit neun Jahren schickt man ihn zur Schule, denn Lesen, Schreiben und Rechnen soll der Bub schon können. Nach dem Unterricht und in den Ferien arbeitet er umso härter daheim mit.

Sein Vater Nikolai hat einen Beruf, er ist Dachdecker. Dabei ist er von der Auftragslage und vom Wetter abhängig. Nicht immer kann er einen ausreichenden Lohn heimbringen. Manchmal muss die vierköpfige Familie sich eine Woche lang mit einem Tageslohn begnügen.

Sobald Fjodor zwölf Jahre geworden ist, wird seine Schulbildung nach drei Klassen für ausreichend erachtet. Der jüngere Bruder übernimmt jetzt Stall und Garten, und Nikolai nimmt Fjodor mit auf die Baustellen. So erlernt er das Handwerk des Vaters, ohne Lehrzeugnis, ohne Gesellenprüfung, ohne Meisterbrief. Dass der Bursche von der Mechanik fasziniert ist und davon träumt, Fahrräder zu reparieren oder sogar neuartige Maschinen für die Feldarbeit zu erfinden, interessiert niemanden. Mit vierzehn verdient er halb so viel wie sein Vater. Als er siebzehn ist, tobt ein Bürgerkrieg durch das Land, der sich später Revolution nennen wird, für den Nikolai zu alt und seine Söhne zu jung sind. Häuser werden zerstört, Dächer beschädigt — trotzdem wird der Vater arbeitslos und mit ihm der Sohn.

Fjodor bekommt seine erste Anstellung in der riesigen Getreidemühle, die gerade noch einem Fabrikanten gehört hatte und jetzt unter staatliche Verwaltung gestellt wurde.

Dann folgt die Periode der »Neuen Ökonomischen Politik«, die Privateigentum und freie Berufe toleriert, und Fjodor macht sich selbständig. Mit seinem Vater und zwei weiteren Handwerkern bildet er eine Brigade. Einer von ihnen hat immer einen Auftrag an der Hand. Die Aufbruchsstimmung verspricht dem jungen Mann eine gute Existenz. Doch nach nur vier Jahren werden die Männer wieder in die Fabriken oder Kolchosen beordert. Fjodor geht zurück in die Getreidemühle, als ungelernter Arbeiter. Der Werkmeister erkennt das Geschick seiner Hände und seine Neugier an Maschinen, und er lernt ihn in der Werkstatt als Feinmechaniker an. Bald setzt er ihn als Fachkraft ein, nicht mehr als Hilfsarbeiter. Fjodor wird jetzt bald um Anastasias Hand anhalten können.

1922 war das Land zu einem neuen Staat geworden und heißt jetzt Sowjetunion. 1924 stirbt der Revolutionsführer, und im Jahr darauf wird Fjodors Mentor samt seiner Familie umgesiedelt. Von Kasachstan ist die Rede gewesen — Fjodor hat nie mehr etwas von ihm gehört. Er selbst muss zurück »ins Mehl«, weil jetzt die Vorschriften streng eingehalten werden müssen, und Fjodor kann keine abgeschlossene Berufsausbildung nachweisen.

Regelmäßig geht er in den kleinen Laden neben der Kirche — die jetzt keine mehr ist —, um sich Anastasias Lächeln abzuholen. Um sich zu versichern, dass sie immer noch unverheiratet ist. Sie berichtet von den Enteignungen und »Versetzungen« in der Herkunftsfamilie ihrer Mutter. Und dass sich ihr Großvater rechtzeitig aus dieser Welt verabschiedet habe. Sein Tod habe es ihm erspart, mit ansehen zu müssen, wie seine Familie auseinanderfällt und all sein Zusammengetragenes zertrümmert wird.

Fjodor bewirbt sich beim Betriebsrat der Mühle um einen Ausbildungsplatz zum Feinmechaniker. Er lernt noch einmal Lesen und Schreiben, damit er dem abends stattfindenden Unterricht folgen kann. Die schriftliche Prüfung fällt katastrophal aus. In der praktischen ist er der Beste seines Jahrgangs, darum bewilligt ihm die Kommission ein wiederholtes Antreten. Bis dahin darf er schon einmal als Anwärter in der Werkstätte der Mühle arbeiten — diesen Arbeitsplatz kennt er ja von früher bestens. Beim zweiten Antreten muss jemand beide Augen zugedrückt haben — Schreiben ist einfach nicht sein Ding, wo doch seine Hände so geschickt sind. Pläne und Zeichnungen kann er aber gut lesen. Zu Beginn des Jahres 1927 wird Fjodor regulär als Feinmechaniker in der Werkstätte des Betriebs eingestellt, er tritt der Kommunistischen Partei bei, und jetzt kann er endlich Anastasia fragen, ob sie seine Frau sein möchte.

Fjodor hat breite Unterarme mit blonden Härchen, helles glattes Haar und graue Augen. Als Bub, wenn er in den Laden geschickt wird, hat er immer ein eigentümliches Gefühl — ist das Furcht? Wenn ja, dann fühlt sich diese Furcht irgendwie angenehm an, als würde etwas Weiches über seinen Nacken streichen und ein leichtes Frösteln verursachen. Eines Tages versinkt sein heller Blick in ihren dunklen Augen und will gar nicht mehr wieder auftauchen. Er ist angezogen von der Strenge dieses Mädchens, die viele fürchten und für einen Grund ihrer Ehelosigkeit halten. Hübsch ist sie, kein Zweifel, aber ein Blick aus ihren braunen Augen jagt so manchem in ihrer Umgebung Respekt ein.

Der fünfjährige Fjodor ist noch unsicher in ihrer Gegenwart, aber nicht mehr der achtzehnjährige, und erst recht nicht der 23-jährige. Er sieht, was andere nicht sehen, sogar die Bögen feinsten Flaums über ihren Augen.

Niemand wird je Zeuge von Zärtlichkeiten zwischen den beiden. Aber ihre Blicke lassen sich nicht verbergen, und so sieht es alle Welt: Hier geht ein Liebespaar. Auch nach dem dritten Kind: Hier geht ein Liebespaar. Im Dorf wird gerätselt und getratscht. Verhext wird sie ihn haben, mutmaßen die Frauen bei ihren abendlichen Sitzungen. Das ist doch nicht normal, so ein fescher junger Mann, unsere Mädchen verdrehen die Köpfe nach ihm, und er nimmt sich ausgerechnet die da.

Die Männer stehen mit ihrem feierabendlichen Bier im Kreis, auch sie brauchen eine Erklärung: Ganz sicher stimmt bei dem da oben was nicht. Hat wohl ein einfaches Gemüt, dieser Bursche.

Eine Birke sollte es sein. Fjodor war am Tag der Geburt seiner ersten Tochter Nina, mitten im Winter, auf Geheiß seiner Schwiegermutter Jewgenija ins Wäldchen gegangen, einen jungen Baum ausgraben, um ihn in den Garten hinter dem Haus zu pflanzen, wie es der Brauch will, wenn ein Mädchen geboren wird. Die Birke würde gemeinsam mit dem Kind wachsen, und Gestalt und Wesen des Mädchens würden jener ihres Baumes ähneln — aufrecht, licht und anmutig. Bei Bedarf würden ihre Großmutter Jewgenija oder ihre Mutter Anastasia mit einem Büschel Laub von diesem Baum und mit bestimmten Worten allerlei Unheil, schädliche Blicke und Krankheit von dem Mädchen fernhalten. Später, an Ninas Hochzeitstag, würde im Brautstrauß ein Zweiglein ihrer Birke stecken. Dieses Zweiglein würden die älteren Frauen vor der Hochzeitsnacht unter die Matratze des Brautlagers legen. Sie hätten dabei im Sinn, das erste Kind möge ein Mädchen sein — wenn auch nebenan die schon ziemlich angetrunkenen Männer den Jungvermählten lautstark und anzüglich einen Sohn wünschten.

Als der Frühling kommt und den Bäumen Blätter wachsen, bemerken alle den Irrtum. Es ist ein Pappelbaum und keine Birke. Der junge Vater wird von der Nachbarschaft verspottet als einer, der wohl jeden weißen Stamm für eine Birke hält — und die erstbeste Frau für eine Braut; als einer, der im Birkenhain ausgerechnet den einzigen Fremdling erwischt; als einer, der sich in eine um zehn Jahre ältere, mürrisch dreinblickende Frau verliebt.

Die Pappel wieder aus dem Garten zu entfernen hätte Unglück gebracht. So bestimmen die Frauen eine andere junge Birke zu Ninas Baum. Die steht neben dem Weg zum Brunnen, und so kann Anastasia beim täglichen Wasserholen den Stamm berühren und jene Worte murmeln, die der Brauch verlangt. Dass ihre Tochter später die Heimat verlassen wird, würde sie nicht verhindern können, und auch sonst niemand, das ist jetzt wohl so vorbestimmt. Einen Menschen ohne feste Wurzeln kann nichts halten.

Die junge Pappel indes wächst viel schneller, als eine Birke es getan hätte, und sie erweist sich als nützlich. Abgesehen vom flaumigen Samenflug, dem Junischnee, der die Kinder mitten im Sommer entzückt, die Jugendlichen zum gefahrlosen Zündeln verführt, und von dem die Erwachsenen behaupten, er würde die Luft reinigen, wird der Baum bald zu einem unverzichtbaren Möbel. Fjodor befestigt einen Wasserspender, eine kleine Tonne aus Zink, an seinem Stamm. Nach der Gartenarbeit oder bei der Rückkehr vom Plumpsklo kann man sich die Hände waschen. Und an einem Ast, der in die Waagrechte gezwungen wurde, hängt Fjodor später die Schaukel für seine drei Kinder auf, die Anastasia in den ersten vier Jahren ihrer Ehe zur Welt bringt.

3

Mai 1934. Ein gelber Postautobus hält auf dem Hauptplatz eines kleinen Dorfes im niederösterreichischen Weinviertel. Eva, eine Frau Anfang dreißig, steigt aus, ihr folgen etwa zehn Kinder im Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren. Sie tragen feste Schuhe, Anoraks und Rucksäcke. Zuletzt klettert eine junge Frau heraus. Der Bus entfernt sich schnaufend. Es ist Nachmittag. Die Frühlingssonne erwärmt die Luft, aber die Felder sind noch braun und feucht, die Weinstöcke kahl. Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Ganz oben am Hang steht ein Marterl, das steuern sie an, um zu rasten und ihre Jause einzunehmen. Ein kleines Mädchen weint nach seiner Mama und wird von der jungen Frau getröstet. Ein dünner, sommersprossiger Neunjähriger fragt Eva jetzt schon zum wiederholten Mal, warum sie denn nicht einfach mitkommt. »Ich hab doch noch in Wien zu tun, Karli. Der Vati trifft euch morgen in Brünn. Ich komm dann ja auch bald nach.« Er nickt tapfer. Seine Mutter zerstrubbelt ihm das Haar, was der Bub gar nicht mag. »Der Slavko passt derweil auf dich auf.« Sie zwinkert einem Zwölfjährigen zu, der sich sehr gerade hält. Er möchte erwachsen wirken und seine innere Anspannung verbergen.

Es ist nicht der erste Ausflug dieser Art. Eva hat in den vergangenen Wochen immer wieder Kinder getöteter, verwundeter oder geflüchteter Februarkämpfer aus anderen Bundesländern in ihrer Wohnung im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten versammelt. Man bestimmt wechselnde Orte im nördlichen Wein- oder Waldviertel, übergibt die Kinder an dort wartende Helfer, die sie weiter zu Pflegeeltern, zu tschechischen Genossen bringen.

Evas Lebensgefährte Karl Kafka lebt bereits seit Mitte Februar in Prag. Karlis Vater und Slavkos Stiefvater hatte die Funktion eines Vertrauensmanns beim »Republikanischen Schutzbund« inne. Die paramilitärische Gruppierung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs hatte sich gegründet, um dem Widerstand des »Feindes von rechts« notfalls auch mit Waffengewalt entgegentreten zu können. Die sozialen Errungenschaften des Roten Wien wollen unter allen Umständen verteidigt werden.

Ideologisch auf der Gegenseite hatten sich gleich nach dem Ersten Weltkrieg Heimatschutz- und Volksmilizen formiert. Sie breiten sich — von Westösterreich kommend — in ganz Österreich aus, stellen sich gegen die Sozialdemokratie auf und unterstützen Polizei und Militär bei deren Aktionen gegen die Linken. Die einzelnen Gruppen und Organisationen schließen sich zur starken »Heimwehr« zusammen. Eine einheitliche Uniform haben die Heimwehrler nicht, aber ein Erkennungszeichen: die flatternde Schwanzfeder des Birkhahns, mit der Jäger ihren Hut schmücken. Wer abfällig von ihnen spricht, nennt sie »Hahnenschwanzler«, die das, was der Vogel »am Oarsch« hat, am Kopfe tragen.

Diese Verbände werden mit Geld, Ausrüstung und Infrastruktur wohlversorgt von Kräften, die die Wahlniederlagen ihrer Parteien nicht länger hinnehmen wollen: Christlichsoziale, Bürgerliche, Heimatblock, Wirtschaftsblock, Landbund. Sie alle dürfen sich des katholischen Segens sicher sein. Zudem zieht neue Konkurrenz auf — Hitlers NSDAP hat bei den Wahlen in Deutschland im Frühjahr triumphiert und tritt jetzt auch in Österreich an. Die Zeit scheint reif, mit dem roten, demokratischen und sonstigen Unfug endlich Schluss zu machen.

Vor einem Jahr war der erste Schritt getan: Am 4. März 1933 wird das Parlament in Wien mit einer Art Staatsstreich — begünstigt durch die Fehleinschätzung der sozialdemokratischen Führung — ausgeschaltet. Am 11. Februar 1934 löst der christlichsoziale Vizekanzler Emil Fey — Mitbegründer und Führer der Heimwehr — mit einer provozierenden Rede den Februaraufstand aus.

Um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, schrecken manche Anführer des Schutzbundes davor zurück, zu den Waffen zu rufen, und verraten deren Verstecke nicht, während andere — schlecht ausgerüstet und militärisch unerfahren — tapfer gegen eine Übermacht kämpfen und sterben.

Um den standrechtlichen Erschießungen zu entgehen, die die Sieger inszenieren, flüchtet Karl Kafka zusammen mit einer Gruppe von Schutzbündlern nach Prag. Vom zögerlichen und halbherzigen Vorgehen ihrer Führer enttäuscht, treten Karl und Eva sofort der — bereits früher verbotenen — Kommunistischen Partei bei. Eva bleibt in Wien zurück und wirkt im Untergrund für die »Rote Hilfe«, die Hilfsorganisation der KP. Sie sammelt Spenden für mittellos gewordene Familien — das Einheben von Mitgliedsbeiträgen für eine verbotene Partei war nicht mehr erlaubt — und betätigt sich als Fluchthelferin. Das Spitzeltum blüht in diesen Tagen, also würde ihr Tun nicht lange geheim bleiben können. Als nach zwei Festnahmen absehbar ist, dass man Eva nicht in Ruhe lassen würde, nimmt sie ihre eigenen Buben vorsorglich auf eine ihrer Landpartien mit.

Die Gruppe wandert weiter und erreicht einen Wald. Es beginnt zu dämmern. Alle sind müde, die Kleineren raunzen, die Kleinsten wollen getragen werden. Die Frauen sind angespannt. Sie bleiben immer wieder stehen und lauschen. Plötzlich tritt ein Mann in Jägerkleidung hinter einem Baum hervor und spricht eine Parole. Eva und er tauschen Rucksäcke. Seit Ende Februar erscheint in Brünn wöchentlich eine kleinformatige Exil-Ausgabe der verbotenen Arbeiter-Zeitung, die Eva bei ihren Ausflügen nach Wien schmuggelt.

Der tschechische Genosse setzt sich die Jüngste auf die Schultern und drängt zum Aufbruch. Die junge Begleiterin nimmt Karli an der Hand und zieht ihn aus Evas Umarmung. Kurz bevor die Gruppe in der Dunkelheit verschwindet, dreht sich Slavko noch einmal um und hebt seine Faust zum Gruß. Eva bleibt allein zurück. Inzwischen ist es Nacht geworden.