Pride Paraden ziehen durch deutsche Innenstädte, die großen Parteien beschäftigen queerpolitische Sprecher*innen und Homophobie ist gesellschaftlich weitgehend geächtet. Der Weg hierher war lang, und bis heute ist die Lebensrealität schwuler und lesbischer Menschen in Deutschland komplexer, als unsere Vorstellung von Liberalisierung vermuten lässt. Mit anders fühlen legt der Historiker Benno Gammerl die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der Bundesrepublik vor – und eröffnet neue Perspektiven auf die Nachkriegsgeschichte.
Präzise und eindringlich beschreibt anders fühlen die Lebens- und Gefühlswelten von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen seit den 1950er Jahren und lässt zahlreiche Männer und Frauen verschiedener Generationen selbst zu Wort kommen. Mit Hilfe der Oral History gelingt so ein atmosphärisch dichtes Bild, das Gammerl mit einer originellen historischen Analyse verbindet. Ein lebensnaher und einsichtsreicher Blick auf eine spannende Geschichte, der Historiker*innen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.
BENNO GAMMERL
anders fühlen
Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte
Carl Hanser Verlag
INHALT
Vorwort
ERSTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER
Einleitung: Verschlungene Pfade
TEIL 1 NACHKRIEGSDEKADEN: AUSWEICHEN.
ZWEITER O-TON: HERR MEYER UND FRAU SCHMIDT
Stigmatisierung und Selbstbehauptung
Nischen, Fluchten und andere Räume
Kultivierung der Gefühle oder unwillkürliche Natürlichkeit
TEIL 2 1970ER-JAHRE: AUFBRECHEN!
DRITTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER
Schwule und lesbische Bewegungen
Öffnungen und Grenzverschiebungen
Den Gefühlen ihren Lauf lassen?
TEIL 3 1980ER-JAHRE: ANKOMMEN?
VIERTER O-TON: HERR MEYER UND FRAU SCHMIDT
Die Ambivalenzen der Normalität
Die Entdeckung der Zwischenräume
Die Bewältigung emotionaler Probleme: Angst vorm Scheitern?
FÜNFTER O-TON: FRAU SCHMIDT UND HERR MEYER
Schluss: Neue Perspektiven auf die Zeitgeschichte der Homosexualitäten
Dank
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Register
VORWORT
Fühlen Lesben und Schwule wirklich anders als heterosexuelle Menschen? Oder bisexuelle? Natürlich nicht, werden viele ganz intuitiv antworten. Personen jederlei Geschlechts lieben einander, zweifeln aneinander, begehren einander, streiten sich, versöhnen sich, trennen sich. Der gefühlsgeschichtliche Blick legt jedoch die gegenteilige Antwort nahe: Selbstverständlich fühlen und fühlten Lesben anders als Schwule anders als Heterosexuelle anders als Bisexuelle anders als Pansexuelle anders als Asexuelle und so weiter. Unser Fühlen ist untrennbar verflochten mit der Position, die wir in der Gesellschaft einnehmen. Wenn sich mein Empfinden in einem zentralen Punkt von dem der großen Mehrheit unterscheidet, auf deren Wünsche alles ausgerichtet ist, von den Schulbüchern bis zu den Figurenpaaren für Hochzeitstorten, dann prägt das auch meine Gefühle, wie ich mit ihnen umgehe und wie ich sie zum Ausdruck bringe.
Und für die Organisation der gegenwärtigen Gesellschaft spielen sexuelle und geschlechtliche Differenzen nach wie vor eine wichtige Rolle. Akzeptanz und Gleichberechtigung bleiben Ziele, für die es sich zu streiten lohnt. Das gilt nicht nur, aber besonders für Trans- und Interpersonen sowie alle, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Ordnung bewegen. Allerdings, und das wird allzu oft vergessen: Auch wenn rechtliche Gleichheit irgendwann errungen sein sollte, bleiben die Unterschiede bedeutsam. Nicht als Hierarchien, eher als Variationen. In diesem Sinn kann man Diskriminierung bekämpfen, ohne auf Alterität zu verzichten, Gleichberechtigung fordern und Verschiedenheit leben. Das ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches. Denn gerade das Gefühlsleben bietet Raum für ein solches Besonders-Sein, das sich nicht abgrenzen oder abheben will. Nicht besser oder spannender, nicht schlechter oder verwerflicher, sondern schlicht anders. Diese unaufgeregte Aufmerksamkeit für das Differente und Minoritäre spiegelt sich im kleingeschriebenen Titel dieses Buchs, der sich denjenigen offen zuwendet, die anders fühlen.
Genau das tut auch der historische Blick auf die Gefühlswelten früherer Zeiten. In den 1950er-Jahren, als viele Jugendliche noch freudig erregt den Berührungen entgegenfieberten, die ihnen ihr erster Tanzkurs ermöglichte, haben sich die Menschen anders ineinander verliebt als heute, wo so mancher intime Wunsch in den sozialen Medien ausführlich besprochen wird, lange bevor es zu ersten Körperkontakten kommt. Es gibt mehr Gelegenheiten, zärtliche Nähe zu suchen. Ob amouröse Annäherungen dadurch einfacher geworden sind, ist eine andere Frage. Für Lesben und Schwule hat sich die Lage besonders rasant gewandelt: Früher hatten sie große Angst, dass ›es‹ rauskommen könnte. Heute ist das Schwul- oder Lesbischsein meist kein Grund mehr für allzu große Aufregung. Dadurch veränderte sich auch das Fühlen. Emotionen sind nicht nur natürlich, nicht bloß genetisch festgeschriebene Reaktionsprogramme, die über Jahrhunderte immer dem gleichen Schema folgen. Emotionen sind auch von den sozialen und kulturellen Kontexten geprägt, in denen sie empfunden und gezeigt werden. Das ist der Reiz der Gefühlsgeschichte: Sie verknüpft diese beiden Dimensionen, überbrückt den vermeintlichen Gegensatz von Natur und Kultur, der das westliche Denken und Handeln schon seit geraumer Zeit in ein allzu festgefügtes Raster zwängt.
Sexuelle und geschlechtliche Identitäten bewegen sich auch im Spannungsfeld zwischen Naturen und Kulturen. Homosexuelle, Heterosexuelle, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und intergeschlechtliche Menschen, LSBTI* und Queers: Solche Leute hat es ›natürlich‹ immer schon gegeben, und gleichzeitig gibt es sie erst, seit in diesen sprachlich-kulturellen Mustern von ihnen die Rede ist. Wie sinnvoll ist es, das vielfältige Gelände von Sex und Geschlecht mit zahllosen Kategorien immer penibler zu kartografieren? Müssen ambisexuelle, gender-non-konforme Cis-Männer und alle weiteren denkbaren Menschen wirklich genau wissen, wo ihr Platz ist und wo die Grenzen zu den anderen Gruppen verlaufen? anders fühlen berührt diese aktuellen Debatten, indem es die Zeitgeschichte der Homosexualitäten betrachtet, über die bisher nur wenig bekannt ist. Und das Buch erzählt diese Geschichte neu. Es handelt nicht nur von Verfolgung und Aktivismus, sondern vor allem vom Gefühls- und Alltagsleben. Diese dichte Beschreibung konzentriert sich auf die Bundesrepublik. Die Geschichte von Lesben und Schwulen in der DDR verdient ihr eigenes Buch. Denn man muss die Diversifizierung und Normalisierung dessen, was einst verpönt war, genau begreifen, um die Gegenwart besser zu verstehen. Immer wieder wurde um identitätspolitische Grenzen gerungen und wurden über alte Gräben hinweg neue Allianzen geschmiedet. Zwischen Sich-Auflehnen und Sich-Einfügen gab es verschiedene Strategien. Angesichts dieses Spektrums muss sich jede*r selbst für die eine, die andere oder eine Kombination unterschiedlicher Herangehensweisen entscheiden.
Das gilt auch für die Frage der Selbst- und Fremdbezeichnungen: schwul, lesbisch, homosexuell, anders, besonders … Im Buch ist auch oft von gleichgeschlechtlich liebenden und begehrenden Menschen die Rede. Aber schon der Unterschied zwischen Begehren und Liebe macht deutlich, dass es keine neutrale Formulierung gibt, mit der man über Intimität zwischen Männern oder zwischen Frauen sprechen könnte. Deswegen ist es wichtig, darauf zu achten, welche Ausdrücke meine 32 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner selbst verwenden. 2008 und 2009 haben sie mir ihre Lebensgeschichten erzählt und damit dieses Buch ermöglicht. Um einen Eindruck von der Vielschichtigkeit ihrer Selbstentwürfe und Biografien zu vermitteln, kommen zwei Erzählpersonen, Frau Schmidt und Herr Meyer, in fünf O-Tönen ausführlich zu Wort. Diese Zwischenkapitel entsprechen dem Originalton der Interviews.
Den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern gilt mein größter Dank, für die Offenheit und die Bereitschaft, ihre Erinnerungen mit anderen zu teilen. Einige von ihnen sind mittlerweile verstorben. Ihrem Andenken ist dieses Buch gewidmet. Und dem Lebensmut all jener, die ihr eigenes Erleben in den folgenden Geschichten wiedererkennen.
ERSTER O-TON:
FRAU SCHMIDT & HERR MEYER
Ich als Lesbe bin was Besonderes. Lesbischsein bedeutet für mich, ich zu sein. Es bedeutet, hat für mich bedeutet, politisch sehr aktiv zu sein. Lesbischsein bedeutet auch, ganz anders sein zu können. Als Lesbe fühle ich mich in der normalen Gesellschaft ganz fremd, das ist für mich ’ne Zwangsheterosexualität. Ich empfinde mein Lesbischsein nicht als unnormal, aber das Leben von heterosexuellen Menschen ist mir fremd. Ganz simples Beispiel. Ich bin mit meiner Freundin im Theater. Neben mir sitzt ’ne Heterotante. Ich halt es kaum aus, weil die riecht nach einem Parfum, entsetzlich. Fühl ich mich belästigt. Das erleb ich in lesbischen Kreisen nicht. Ich geh jetzt seltener, aber schon mal ins Lesbencafé und da fühl ich mich sofort wohl, da fühl ich mich unter meinesgleichen, und da hab ich keine fremden Gerüche um mich herum.
Ich werd jetzt 65. Ich bin, war sehr engagiert auch in der Szene und hab ganz viel aufgebaut in E. Ich bin ’ne Politlesbe, sag ich jetzt mal so salopp. Also ich hatte auch so ’nen Ruf, dass ich ’ne Mackerfrau wär, weil ich mich gegenüber Männern sehr energisch durchsetzen konnte. Ich hab auch ein sehr ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Wenn mir Unrecht geschieht, dann kann ich ziemlich wütend werden. Ich bin impulsiv. Und ich finde, Wut ist ’n befreiendes Gefühl.
Die Freundin-Liebe ist für mich gleichwertig mit der Partnerin-Liebe. Meine Freundinnen sind mir ganz wichtig. Da tue ich auch ganz viel für, und ich bin da eigentlich ganz treu. Für mich zählen Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, keine Show. Wenn ich ’ne Beziehung eingehe, will ich doch wissen, was in der anderen vorgeht. Sexualität hat dabei für mich nicht so ’n Stellenwert. Das gehört dazu einfach. Das ist gut und richtig und wichtig, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich anderen Frauen nahe sein will. Bei mir spielt Verliebtheit und Anziehung immer ’ne Rolle. Manchmal sagen die Leute zu mir, du hast ja auch zwei Ehen hinter dir und bist dann auf Lesben gekommen, weil du sexuell mit den Männern nicht klargekommen bist. Dann sag ich immer, wie kommt ihr denn auf so ’nen Blödsinn? Ich hab mich damals einfach für Frauen, für diese Lebensweise entschieden.
Ich kann ganz schnell rausfinden, was mir in einer Beziehung guttut. Und wenn es mir nicht mehr guttut, also ob das nun die Sexualität betrifft oder das Emotionale, dann bin ich diejenige, die ’ne Änderung will, die dann auch anfängt, zu reden, Dinge zu benennen. Da bin ich sehr intuitiv, ich kann manchmal auch Dinge vorhersehen. Meine Mutter hatte auch so Fähigkeiten. Ich weiß es nicht, aber wenn ich spüre, dass etwas schiefläuft, dann sage ich das. Und ich zeige meine Gefühle. Als mir meine damalige Lebensgefährtin erzählt hat, dass eine Studienfreundin sich das Leben genommen hat, da bin ich weinend durch Berlin gelaufen. Da war es mir völlig egal, was andere denken. Es war mir schon immer gleich, was die Leute über mich reden oder denken. Ich zeig meine Gefühle, ich zeig auch der anderen, was ich von ihr halte, was ich von ihr will. Das geht manchen zu nahe.
Inzwischen bin ich überlegter geworden, lasse mich nicht mehr so von meinen Gefühlen leiten. Ich setze, je älter ich werde, mehr auch meinen Verstand ein. Und trotzdem find ich das gut, dass ich so bin, wie ich bin. Ich hätte auch, also heute hier beim Interview, ich hätte mich nicht von einem heterosexuellen Mann interviewen lassen. Als ich von dem Projekt gelesen hab, da hab ich schon ’nen Moment gedacht, och, schön wär’s auch, wenn’s ’ne Frau ist, die mich hier interviewt. Und ich hab sofort zu meiner Partnerin gesagt, der das macht, ist ein schwuler Typ, Punktum. Und wenn das keiner ist, dann merk ich das ganz schnell und dann geh ich raus aus der Situation. So bin ich nun mal.
Ich leb mittlerweile jetzt 14 Jahre mit meiner derzeitigen Lebenspartnerin, mit der ich auch auf dem Standesamt war. Also ich halt eigentlich nichts von Ehe und diesen Geschichten, aber das haben wir aus pragmatischen Gründen gemacht. Ich will sie beerben, wenn sie vor mir geht, und sie soll mich beerben. Das ist der einzige Grund. Eigentlich mag ich solche Rituale nicht. Das ist für mich ja gerade der Unterschied zu heterosexuellen Beziehungen, dass da mehr auf Konventionen geachtet wird. Das leb ich schon lange nicht mehr, und ich will das auch nicht mehr leben. Also zum Beispiel beim Tischdecken: Das Messer muss so, und die Gabel muss so und der Löffel so. Das ist mir pupegal, Hauptsache, das Essen schmeckt. Oder auch mit der Religion. Ich bin zwar evangelisch, immer noch, und ich bin auch keine ungläubige Person, aber ich muss nicht in die Kirche rennen, um da irgendwas zu zeigen. Das ist doch gerade der Vorteil von lesbischen Beziehungen, dass es nicht so ’n Druck gibt, weil sich das jetzt gehört, müssen wir jetzt zusammen die oder die besuchen oder ins Theater gehen oder Weihnachten zusammen feiern mit der ganzen Familie, weil das macht man so.
Lesbischsein bedeutet für mich, mich aus Konventionen zu befreien. Diese schrecklichen heterosexuellen Rollenklischees. Manchmal ist es ja in schwulen und lesbischen Beziehungen nicht anders. Manchmal denk ich, meine Güte, wir spielen hier Rollen, wie Männer und Frauen das miteinander machen. Da hat sich auch bei uns so manches eingespielt, im Negativen wie im Positiven natürlich. Und oft gibt es auch Rollenzuschreibungen von außen: Da ist dann meine Partnerin die große starke Kluge, und ich bin die Emotionale und die Sozialtante. Ich bin ja auch so ’ne kleine nette Niedliche. Also jetzt ein bisschen ironisch. Das ging mir in der Heterozeit auch schon so. Ich musste immer beschützt werden. Also wenn man in Klischees denkt, dann wird mir eher der weibliche Part zugeschrieben und ihr der männliche. Das ärgert mich. Für mich ist das immer wieder ’n Aushandeln. Mir ist es ganz wichtig, dass wir ein Wir sind in der Partnerschaft. Aber auch, dass ich weiterhin mein Ich da behalte und meine Autonomie.
Familie wird jetzt mit zunehmendem Alter wieder wichtiger für mich. Also meine eine Schwester zum Beispiel, meine Mutter, die jetzt 90 geworden ist und im Altenheim lebt, meine beiden Töchter und ihre Partner und mein Enkelsohn. Dem ist es aber manchmal peinlich, mit mir ins Kino zu gehen, weil ich dann lache an Stellen, wo sonst niemand lacht, und dann sagt er: »Oma, lass das mal.« Aber Familie ist auch meine Wahlverwandtschaft. Morgen treffe ich hier in Berlin zum Beispiel meine frühere Lebensgefährtin, die meine jüngere Tochter mit großgezogen hat. Meine Familie war auch sehr stolz, dass ich als Volksschülerin und Einzelhandelskauffrau es bis an die Uni geschafft habe. Trotz meines Diploms in Pädagogik und obwohl Lesen ein Hobby von mir ist, bin ich aber keine Theoretikerin. Ich kann gut ackern. Ich bin sehr zielstrebig und kann gut im Team arbeiten. Ich hab auch immer gerne gearbeitet. Immer wenn ich erwerbslos war, ist mir das überhaupt nicht bekommen.
Übers Studium bin ich vor über 30 Jahren in E. gelandet, meiner Wahlheimatstadt. Das ist ’ne Kleinstadt und trotzdem ’ne Großstadt, und du hast da alles, was du dir wünschst. Das ist kulturell toll, und die Uni ist auch da. Ich hab meine Vertrautheit, meine sozialen Kontakte. Ich geh da übern Markt, und dann treff ich da Bekannte oder frühere Kolleginnen. Das ist einfach so ’n schönes Heimatgefühl. Früher gab’s auch mal die Überlegung, in Berlin zu leben, aber das kann ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen. Das wär mir einfach zu unruhig, zu anstrengend. Ich bin eigentlich gar nicht ängstlich, aber durch meine Krankheit bin ich ängstlich geworden.
Vor drei Jahren bin ich an Brustkrebs erkrankt. Ich bin aber ganz zuversichtlich. Das ist jetzt erledigt. Das ist operiert und gut. Ich hatte noch mal Glück. Ich bin dadurch sehr aufmerksam geworden, was mein Körpergefühl angeht. Ich konnte wegen der Krankheit vor zwei Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gehen und achte seither sehr auf ’n Rhythmus in meinem Leben. Und ich achte noch genauer als früher darauf, mit wem ich Umgang haben möchte. Gruppen kann ich schon gar nicht mehr ab. Ich war sehr aktiv in Lesbengruppen. Das ist nicht mehr meins. Aber ich suche jetzt immer mehr den Austausch mit älteren Lesben. Wenn ich mit älteren Lesben zusammen bin, fühl ich mich sehr aufgehoben. Wie ich jetzt lebe mit meiner Freundin, dieses ›nur wir beide‹, das will ich auf Dauer nicht mehr. Ich möchte gerne so ’nen Kreis haben, die sich das Leben im Alltag ähnlich vorstellen, nämlich in einer Hausgemeinschaft mit Gleichaltrigen, vielleicht auch mit jungen Lesben, oder mit schwulen Männern, also so ’n Mehrgenerationenhaus. So was wünsch ich mir eigentlich.
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Ich bin Wolf-Peter Meyer und bin geboren und aufgewachsen in Spertal, einem Dorf in Hessen. Ich beherrsche auch die dortige Mundart noch ein bisschen. Ich komme nicht aus dem Bildungsbürgertum, sondern bin ein Sohn armer kleiner Leute. Meine Eltern waren Kleinstbauern, Fünf-Uhr-Bauern. Tagsüber arbeitete mein Vater im Hüttenwerk, und abends kümmerte sich die ganze Familie um die Landwirtschaft.
Mein Vater war ein nicht-eheliches Kind, die Frucht einer sanften Vergewaltigung, nehme ich an. Er war eigentlich ein Nichts. Und er war auch braun, also der war in der Partei. Da trug man nämlich eine Uniform, und in Uniform war er jemand. Er kam verletzt aus dem Krieg. Diese ewigen Kriegsgeschichten fand ich manchmal zum Kotzen. Tief in meinem Herzen war ich schon immer Pazifist. Die Mutter war jemand, wo man dachte, das ganze Leid der Welt musste sie tragen. Als hätte sie gerade eine Bombennacht in Dresden überlebt. Sie musste als Mädchen ihren Bruder versorgen, der im Dorf als Narr galt. Und sie erzählte immer, wie schlimm das war. Dieses Geklage der Mutter, die sonst ’ne starke Frau war. Nach dem Krieg das Haus zu bauen, was man alles gehungert hat. Ich konnte es nicht mehr hören, diese Opferrolle. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man etwas selbst erlebt hat oder ob es ein Fremderleben ist.
Das hat mich geprägt, diese ewigen Kriegsgeschichten, die Kleinen-Leut-Geschichten, dieses Nach-unten-Treten und Nach-oben-Katzbuckeln. Das hat mich gehemmt auch später in meiner beruflichen oder persönlichen Entwicklung. Ich trug die Familienkrankheiten in mir, das Leicht-verletzt-Sein und die Ängstlichkeit. Sodass ich heute noch behaupte, ich hab’s zu nichts gebracht vor lauter Angst und Mangel an Durchsetzungsfähigkeit. Diesen Mut, wenn was schiefgeht, dann geht’s halt schief, hab ich nicht. Wenn es Probleme gab in der Schule, wurde nicht getröstet, sondern gedroht. Einmal, da war ich schon sechzehn, hatte ich geschwänzt. Ich war in der Schule permanent überfordert. Und als ich nach Hause kam, hatte mich meine Mutter sofort an den Haaren. Nach dem Motto, übern Kopf darfst du mir wachsen, aber nicht über die Hand. Beim Abendessen sagte sie es meinem Vater, und der stand auf, nahm den Stuhl, und schschitt. Ich konnte grade noch abtauchen. Ich wurde aufs Zimmer verbannt, und es passierte erst mal gewaltmäßig nichts weiter. Aber diese Angst hat mich geprägt.
Nach dem Realschulabschluss, da war ich siebzehn, hab ich mich von zu Hause abgesetzt und ging nach F. Einige Jahre später habe ich dann in O. studiert. Das war verrückt, weil ich ja ein Schulversager war, und dann an der Uni. Ich bin Diplomsozialpädagoge, Therapeut und Berater. Deswegen sind mir Interviews auch nicht fremd. Ich habe allenfalls Sorge, dass ich mich nicht gut und exakt genug ausdrücke. Und dann denk ich: »Mensch, du bist kein Germanist und hast auch kein Philosophiestudium. Sei doch mal zufrieden mit dir.« Aber hier in dieser Situation habe ich schon das Gefühl, dass Sie verstehen, was ich sage. Ich würde meinen, dass ich im Augenblick authentisch bin. Offenheit war mir immer sehr wichtig, auch geistige Beweglichkeit, dass man seine Umgebung wahrnimmt. Da gehört Aufmerksamkeit dazu, aber auch Allgemeinbildung oder politisches Wissen. Ich hab mich immer auch interessiert für Land, Leute, Sprache. Volkstum würde man das wohl nennen, ohne volkszutümeln.
Mein Lebensglück ist, dass ich schwul bin. Die Ängstlichkeit paarte sich mit Aufmüpfigkeit. Da konnte mir nichts Besseres blühen, als schwul zu sein. Ich habe viel gecruist, also massiv Sexualität outdoor erlebt. Dieser leichte Kick von Verbotenem hat mich gereizt. Und mit Männern flirten, das fand ich ja so toll. Allerdings bin ich eher wie die Prinzessin, der man den Hof macht. Bis auf den heutigen Tag habe ich nie jemand angesprochen, da war ich nie mutig genug. Aber ein schlechtes Gewissen hab ich auch nie gehabt. Nur manchmal dachte ich, Mensch, irgendwie geht das nicht, nachts treibst du dich mit ’nem Kerl rum, und am anderen Tag machst du fromme Worte vor deinen Studienkollegen und -kolleginnen. Hier in Berlin wollte ich dieser Tage eigentlich auch gerne mal in ’n Pornokino oder in die schwule Sauna. Aber jetzt habe ich schon so viele andere Verabredungen, dass es dazu gar nicht mehr kommt.
Dass ich sexuell anders empfinde, wird mir von außen als etwas Negatives zugeschrieben. Da wird definiert, du bist ein 175er. Ich selber empfinde mein Schwulsein im positiven Sinn als etwas Besonderes. Wenn ich an Sexualität denke, da denke ich an Mann. Wenn ich an Schönheit denke, denke ich erst mal an Mann. Das ist ein Stück Wesenhaftigkeit von mir. Ich identifiziere mich selbst als jemand, der ganz schwul ist, der aber auch ganz Mann ist, der aber auch ganz Mensch ist, der viele Schwächen hat und viele Stärken. Die Art, wie ich mit anderen umgehe, wie ich mit meinen Händen rede, dass ich zum Barockisieren neige in meiner Sprache, dass ich zum Tagträumen neige, das gehört auch alles zu meinem Wesen.
Deswegen braucht auch nicht jeder zu wissen, dass ich schwul bin. Ich muss mich nicht dauernd mitteilen. Sexualität hat für mich auch nicht diese Bedeutung. Das ist nicht mein Ding, dass Menschen sich allein über Sexualität definieren. Umgekehrt bemesse ich Menschen auch nicht nach ihrer sexuellen Ausrichtung, sondern nach ihrem Verhalten. Wenn es allen irgendwie egal wäre, wenn man sagen würde, dass es einfach Menschen gibt, die unterschiedlich empfinden, und wenn man, wie es das Grundgesetz sagt, nicht diskriminieren würde, dann würde man halt drüber reden, wie andere übers Suppe-Kochen reden. Es wäre das Selbstverständlichste von der Welt.
Für mich war Homosexualität zeitweilig ’ne Belastung. Kein Hetero wird geboren und lebt nur mit schwulen oder lesbischen Menschen. Aber wir haben in der Regel Heteros um uns. Und wir müssen lernen, mit den Schwierigkeiten umzugehen. Da kann ich mich zurückziehen und sagen: »Gott, das braucht ja niemand zu merken.« Oder ich sage: »Nein, das ist mein Leben, und es gibt andere, die denken auch so.« Und die muss man sich suchen. Homosexualität ist dann etwas, wo man kämpfen muss, was zu einer ungeheuerlichen Befreiung führt. Darum gehe ich regelmäßig zum CSD in L. und trage dort vorne zusammen mit anderen die Regenbogenfahne. Es ist mir als Demonstration wichtig, nicht als Karneval. Ich würde nicht nackig auf so ’nen Wagen steigen. Ich bin nicht schrill, ich bin kein Lederkerl. Ich will nicht, dass der Eindruck entsteht, Schwulsein gleich öffentlich Schwanz im Arsch zeigen. Für mich ist das ’ne andere Demonstration. Es geht darum, sich Freiheit zu erkämpfen.
Und man muss Solidarität organisieren. Deshalb besuche ich auch ’ne 40-plus-Gruppe in Z. Als ich da zuerst hinkam, war diese Gruppe relativ ziellos. Inzwischen ist das aber besser organisiert, und es gibt einen Konsens über Themen und Vorhaben. Ich denke mal, das ist sicher auch mein Verdienst. Vorher wurde da vor allem prahlerisch über Fistfuck und so ein Zeugs geredet. Und ich dachte, das kann doch nicht alles sein. Man muss sich und sein sexuelles Verhalten doch auch mal infrage stellen, darüber nachdenken, ohne gleich ein schlechtes Gewissen aufzubauen. Und jetzt sprechen wir darüber, wie man schwul lebt, wenn man alt wird. Was gibt’s da für Fantasien und Träume? Wohnen wir in WGs oder hab ich bis dahin ’n Kerl geheiratet? Wie will ich mit Sexualität umgehen? Ich bild mir immer ein, ich bin kein Opatyp, aber wie geh ich damit um, wenn ich merke, jetzt laufen sie nicht mehr alle hinter mir her.
Ich bin ja ganz verkirchlicht und fromm. Verrückter Protestant, und schwul bis dorthinaus. Dank meiner einfältigen Gläubigkeit haben mich schwere Schicksalsschläge – Syphilis, Hepatitis, HIV, Krebs et cetera – überhaupt nicht aus der Bahn geschmissen. Ich hab mir einfach gesagt: Leben wir, so leben wir dem Herrn, so übersetzt Luther; und sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Und darum, ob wir leben oder sterben, sind wir des Herrn. Also Gott hüllt mich mit seinem Mantel ein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es Bereiche gibt, wo nicht für mich gesorgt ist. Die Regenbogenfahne hat deswegen für mich einen doppelten Sinn: das alte Bundeszeichen zwischen Gott und den Menschen und Symbol der Schwulenbewegung. Dabei ist es mir sehr wichtig, nicht doppelmoralisch zu sein. Ich bin ein schwuler Mann, der Sex mit anderen Männern macht. Und ich bin ein frommer Mann. Ein schwuler Christ, der in die Kirche geht. Unmögliche Kombination, aber ich stehe dazu.
Und aus dieser persönlichen inneren Freiheit und Gewissheit heraus lebe ich seit 1989 wieder in Spertal, in meinem Elternhaus. Ich habe mich bis zu ihrem Tod um meine Mutter und meinen Vater gekümmert. Mein älterer Bruder und meine ältere Schwester leben in der Nähe. Meine Verwandten wissen offiziell, dass ich schwul bin. Ansonsten denke ich nicht darüber nach, ob man über mich was denkt. Seit 2005 bin ich nicht mehr berufstätig. Ich engagiere mich im diakonischen Bereich, Stichwort Afrika, sammle Spenden für Staudämme und Schulprojekte. Ich schauspielere auch. Bei Erlebnisstadtführungen in I. stellen wir historische Szenen nach. Da wird dann gezeigt, dass der Adel oder hohe Bürgerssöhne zwar Geld, Arbeit und Brot brachten, aber auch Neid, Missgunst und Demütigungen. Außerdem habe ich eine Vorleseausbildung gemacht und lese seit zweieinhalb Jahren in einem Kinderhort in einem sogenannten Problemviertel mit sehr hohem Migrantenanteil. Bildung für bildungsferne Familien hieß das früher. Es geht darum, Neugierde zu wecken. Von der Sinnhaftigkeit dieser Arbeit bin ich voll und ganz überzeugt.
Ich habe einen Mantel von Freunden, der mich warm hält. Aber manchmal fühle ich mich etwas einsam und wünsche mir einen Freund, der mich umarmt. Zu Hause mit jemand zusammenzuleben oder sagen zu können: Das ist mein Freund, mein Mann, mein Partner. Wie in diesem alten Ännchen-von-Tharau-Lied: Ich bin dein und du bist mein, ach, was kann denn schöner sein. Das ist so was Inniges, wie ein Palmbaum, von Regen und Sturm gebeugt, so ähnlich. Manchmal sehne ich mich nach Geborgenheit. Aber dann hab ich auch Haus und Garten zu versorgen. Ich hab ja auch noch Freunde und bin auch integriert da, das füllt dann meine Zeit ganz gut aus.