Wie viel haben wir mit Elefanten gemein? Eine junge Wissenschaftlerin gibt — auf den
Spuren einer verborgenen Welt — berührende Einblicke in die Psyche der Elefanten.
Was ist ein Elefant? Ein Säugetier, ein religiöses Symbol, eine Jagdbeute und Quelle
von Elfenbein? Die Lieblingsfigur aus einem Kinderbuch, das Aushängeschild für modernen
Naturschutz, eine Touristenfalle oder ein Statussymbol? Zu bestimmten Zeiten ist er
all das auf einmal gewesen, und die Vielfalt der Bilder zeugt von der komplexen Geschichte,
die uns mit den grauen Riesen verbindet. Klug, voll Witz und Selbstironie verknüpft
die Verhaltensbiologin Hannah Mumby ihre ausgezeichnete Forschung mit persönlichen
Erlebnissen in Kenia, Südafrika, Nepal und Myanmar. Ihr Buch eröffnet einen einzigartigen
Einblick in das Leben und Sterben der Elefanten — und in ihre oft verborgene Welt.
Hannah Mumby
Elefanten
Das Leben der Riesen zwischen Geburt, Familie und Tod
Aus dem Englischen von Heide Lutosch
Carl Hanser Verlag
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Bildteil
Dank
Nachwort
Literaturhinweise
Textnachweise
Register
Wenn ich mit dir über mich spreche, spreche ich mit dir über dich. Verrückt, zu glauben, ich wäre nicht du!
Victor Hugo
Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel blicken? Ein fühlendes Wesen? Jemanden mit einer Familie und einem größeren sozialen Netzwerk, einer Geschichte und einem Gedächtnis? Ein Individuum mit unzähligen Identitäten und komplexen Beziehungen, die es im Laufe seines möglicherweise (hoffentlich) langen Lebens hegt und pflegt? Ein Wesen, das in der Lage ist, Gefühle auszudrücken, Informationen weiterzugeben, andere Individuen sowie die Angehörigen fremder Arten wiederzuerkennen und mit ihnen zu kommunizieren? Jemanden, der sich bewusst ist, dass er gerade ein Abbild seiner selbst im Spiegel betrachtet?
Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich einen Elefanten. Das hört sich unwahrscheinlich an? Wagen wir einen erneuten Blick. Okay, gut, ich sehe eine Brille (beziehungsweise ziemlich verschwommen, wenn ich sie nicht aufhabe), ich sehe blonde Haare und definitiv mehr Pickel, als man als 32-Jährige haben sollte. Was ich nicht sehe, sind Stoßzähne und graue, runzelige Haut (jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass man mich ernsthaft zu den Dickhäutern zählen könnte). Einen Rüssel habe ich auch nicht, obwohl ich mir aus praktischen Gründen manchmal sehnlichst einen wünsche. Aber wir wissen alle, dass man beim Blick in den Spiegel nicht wirklich sich selbst betrachtet, sondern seine eigene Wahrnehmung einer Spiegelung.
Der Grund, warum ich mich selbst als Elefant betrachte, liegt darin, dass ich in vielerlei Hinsicht gar nicht so anders bin als ein Elefant, jedenfalls wenn man von Äußerlichkeiten absieht. Sämtliche Fragen, die ich oben gestellt habe, würde ein Elefant mit »Ja« beantworten. Im Grunde muss man ihn noch nicht einmal fragen, man muss einfach nur zusehen, wie er sein Leben lebt. Mit diesem Buch möchte ich Sie bitten, in den Spiegel zu blicken und darüber nachzudenken, wie viel Sie mit einem Elefanten gemeinsam haben. Ich werde Ihnen dazu von meinen Erlebnissen mit Elefanten berichten und mich dabei lose an den wichtigsten Meilensteinen des Elefanten-(und Menschen-)Lebens orientieren. Ich werde das Verhalten der Elefanten erörtern, ihre körperliche Entwicklung und die Begegnungen, die sie im Laufe ihres Lebens mit Menschen haben. Mein Ziel ist es letztlich, dass Sie Elefanten neu kennenlernen, nicht nur als die majestätischen, unglaublichen Tiere, die sie sind, sondern auch als klar unterscheidbare Individuen, als Freunde und sogar als Familienmitglieder, zu denen sie für diejenigen Menschen werden, die in ihrer unmittelbaren Nähe leben. All dies soll weder auf Kosten der Wissenschaft noch des Staunens gehen, sondern die Voraussetzung dafür schaffen, dass Sie Ihre Haltung gegenüber Tieren insgesamt und vielleicht auch die Wichtigkeit, die der Naturschutz für Sie hat, überdenken oder dass Sie einfach nur neu definieren, wen Sie zu Ihrem Freundeskreis zählen. Mein Buch soll außerdem zeigen, dass entgegen unserer Annahme oft gar nicht so klar ist, wer wir eigentlich sind.
Um es ganz deutlich zu sagen: Dies ist nicht das Buch, das ich eigentlich schreiben wollte. In der frühen Phase des Projekts, als ich gerade Gastdozentin an der Colorado State University war, saß ich dort eines Tages auf einer ovalen Rasenfläche. Die helle Sonne spiegelte sich im Bildschirm meines Laptops, während ich tippte. Es war ein niederschmetternd sonniger Frühherbsttag, für mich so ungewohnt, dass ich davon schlechte Laune bekam und erst einmal damit klarkommen musste, dass eine Jahreszeit, die doch von Vergänglichkeit geprägt ist, in so üppiger Schönheit erstrahlte. Der Herbst in Cambridge (dem in England, das ich nur zu gut kannte) war irgendwie weniger widersprüchlich und in seiner Düsternis sehr viel tröstlicher. Ein Student kam auf mich zu und fragte mich, was ich da machte, und ich sagte ihm, dass ich gerade versuchte, ein »populärwissenschaftliches Buch« über Elefanten zu schreiben. Er entgegnete, dass es vielleicht ein bisschen anmaßend sei, davon auszugehen, dass das Buch »populär« werde. Ich beherzigte den Rat und beschloss also, dass ich einfach versuchen würde, ein Buch über Elefanten zu schreiben. Auf diese Weise wollte ich meine Ideen einem größeren Publikum vermitteln, als es bisher möglich gewesen war. Außerdem begeisterte mich die Aussicht, das rein akademische Schreiben hinter mir zu lassen. Man kann über Elefanten schreiben oder darüber, wie es sich anfühlt, ein Elefant zu sein. Ich bin mir ziemlich sicher, was mehr Spaß macht, und falls Sie es nicht erraten können: Ich stoße einen Trompetenlaut aus, während ich dies schreibe.
Da saß ich also: Colorado, im Herbst (der in meinem britischen Kopf »autumn« hieß, und nicht »fall«), und destillierte meine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu etwas, das einem annehmbaren Scotch ähneln würde. Was sollte da groß schiefgehen? Doch was ich dann schrieb, fühlte sich seltsam falsch an — eine chronologische, konventionelle Aufzählung von »Wissenswertem über Elefanten«. Ich sprach mit verschiedenen Leuten über das Problem, und alle sagten das Gleiche: Du selbst bist in dem Text nicht zu erkennen, man sieht die Wissenschaft nicht durch deine Augen. Ich wollte die Wissenschaft, aber nicht mich im Text haben. Wie so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehme ich mich gern aus der Gleichung heraus, weil sie dadurch einfacher wird. Man bringt uns bei, möglichst reduktiv zu sein, Ockhams Rasiermesser, sooft es geht, zum Einsatz zu bringen. In vielen Fällen führt das zu eleganten und vernünftigen Lösungen. Aber in diesem Fall war ich wohl eher so etwas wie mein eigener »Sweeney Todd« gewesen und hatte den ganzen Fußboden vollgeblutet. Aus den Resten war nichts Brauchbares zustande zu bringen. Es war also entschieden: Ich musste auch selbst in dem Buch auftauchen.
Über mich selbst zu schreiben, finde ich alles andere als interessant; es kommt mir meist peinlich und selbstverliebt vor. Ich bin sehr streng mit mir, auch beim Schreiben. Allerdings musste ich einsehen, dass mein persönlicher Werdegang spätestens dann relevant wird, wenn es darum geht, die zeitlichen Sprünge zu überbrücken, die in dem Buch gemacht werden. Zum ersten Mal begann ich mich während meines Studiums, zwischen 2004 und 2007, für das Leben von Tieren zu interessieren. Mit Elefanten arbeite ich jetzt, seit ich im Jahr 2010 ein Praktikum in Kenia gemacht habe. Auch während meiner Doktorarbeit, für die ich in Myanmar forschte, und auf meiner ersten Postdocstelle blieb ich dem Thema treu. Ich hatte das Glück, eine Reihe von Forschungsstipendien zu bekommen, mit deren Hilfe ich von 2015 an nach Afrika zurückkehren konnte, wo ich mir ein Team aufbaute und erfreulicherweise sogar einige meiner ehemaligen Studierenden einstellen konnte. Im Jahr 2019 bekam ich eine Assistenzprofessur und zog wieder zurück nach Asien. Nach einem ganzen Jahrzehnt mit Elefanten und geschätzten fünfzehn Jahren im Wissenschaftsbetrieb absorbiert mich das Nachdenken über Tiere und darüber, wie wir Menschen mit ihnen umgehen, inzwischen vollständig. Es ist mein Beruf als Wissenschaftlerin, aber auch meine Berufung als Mensch. Am meisten denke ich über meine Lieblingstiere, über Elefanten, nach — und über jene Tiere, zu denen mein Verhältnis am kompliziertesten ist, über Menschen. Es beschäftigt mich, wie Elefanten sich untereinander verhalten und wie sie mit ihrer (unbelebten und belebten) Umwelt umgehen, unter anderem mit uns Menschen. Dabei geht es jedoch nicht nur ums Nachdenken. Ich beobachte die Elefanten auch und frage Leute, die sich mit ihnen auskennen. Ich versuche herauszufinden, was Elefanten tun und warum sie es tun, und manchmal sitze ich stundenlang in einem Unterstand und hoffe, dass noch irgendetwas anderes passiert, als dass meine Beine einschlafen. All das ist in einer solchen Intensität Teil meines Lebens, dass ich manchmal vollkommen das Gefühl dafür verliere, dass dampfende Elefantendungkugeln vielleicht nicht das richtige Thema für ein Gespräch beim Abendessen sind. Ich muss gestehen, dass diese Kugeln für mich etwas absolut Wundervolles sind; aber es ist wohl doch besser, anderen Menschen damit frühestens bei einem Drink nach dem Abendessen zu kommen — vor allem, wenn etwas Kugelförmiges oder Braunes oder Klebriges auf der Speisekarte steht.
Ich glaube eigentlich nicht, dass man selbst besonders gut beurteilen kann, wer man ist, weshalb ich am liebsten den einen oder anderen Elefanten bitten würde, mich vorzustellen. Leider kann ich nicht alles, was diese Tiere sagen, angemessen in Worte fassen. Vor ein paar Jahren, auf einer meiner Exkursionen in Afrika, blieb zum Beispiel einmal ein junger Elefantenbulle plötzlich stehen, um mit seinem großen, runden Kopf den südafrikanischen Steppenstaub zu berühren, nur um ihn dann wieder anzuheben und mit weit aufgefächerten Ohren hin und her zu schütteln. Er zeigte mir, wie groß er war, und fand es offenbar wichtig, mich in meine Schranken zu verweisen. Die älteren Bullen, die mich an diesem Tag demonstrativ ignoriert hatten, als sie wie gewöhnlich im Zeitlupentempo an unserem Fahrzeug vorbeigeschlendert waren, sahen das vielleicht ganz anders. Für sie war ich nicht mehr als ein Stück Hintergrundkulisse.
In Ermangelung eines erläuternden Beitrags der Elefanten wäre dann wohl meine Familie am besten geeignet, mich vorzustellen. Meine Eltern würden Ihnen erzählen, dass ich schon als Kind ziemlich seltsam gewesen bin. Großäugig, ernst, alles um mich herum aufsaugend wie teures, fünflagiges Klopapier. Ich lebte hauptsächlich in meinem Kopf und schwieg die meiste Zeit eigensinnig vor mich hin. Doch manchmal hatte ich plötzlich eine Menge zu sagen. Sie würden erzählt bekommen, wie ich einmal meinen Dad bat, mich mit einer klobigen Videokamera aufzunehmen, denn ich wollte einen Dokumentarfilm drehen. Er handelte von mir, wie ich am Meeresstrand stand und ernsthaft und ausführlich über die echten und fantastischen Wesen sprach, die ich dort gefunden hatte. Meine Eltern würden auf das flimmernde Filmmaterial von dem im Seetang stochernden Kind zeigen und sagen, dass es genauso kommen sollte — im Grunde war ich schon immer Feldbiologin gewesen.
Ich selbst scheue vor solchen Gewissheiten zurück. Ob es vorherbestimmt war, dass ich die Elefanten fand, um mich selbst zu finden, kann ich nicht wissen. Ich habe keine Ahnung, ob ich zur Wissenschaftlerin, Professorin, Pädagogin bestimmt war, zu einer Art Bindeglied, durch das ein wenig Erkenntnis und Wissen fließt, zur Elefantenfrau. Aber es ist nun einmal so gekommen. Wahrscheinlich haben mich Neugier, Glück und meine Unerschrockenheit (die manchmal auf Naivität beruht) bis hierher gebracht. Wenn ich an mich selbst denke, sehe ich mich vor einem Elefanten stehen und ihm tief in die Augen blicken, dann den Kopf schütteln, weil mir klar wird, dass Elefanten es mit Blickkontakt nicht so haben, und ihm stattdessen meine schmutzige Wäsche entgegenstrecken, damit er daran schnuppern kann. Und ich meine wirklich schmutzige Wäsche. Sie riecht nach mir (anders als ich gern riechen würde), und wer wäre besser geeignet, als ein Elefant mit seinen unglaublichen olfaktorischen Fähigkeiten, um jede einzelne Gestanksschicht deutlich von der anderen zu unterscheiden. Wenn man sich selbst wirklich zeigen will, ganz und gar, mit all seinen individuellen Fehlern und Hässlichkeiten, ist das der konsequenteste, aber auch der diskreteste Weg. Elefanten können Geheimnisse für sich behalten. Wobei eines der größten Geheimnisse dieses ist: Abgesehen von ihrer grauen Haut, ihrer Körpermasse, ihrer Erhabenheit und der Angst, die sie auslösen, sind Elefanten manchmal und in gewisser Weise genau wie wir. Wie auch immer ich meinen Platz gefunden habe, diesen Platz der Begeisterung und der Wissenschaft — ich möchte nirgendwo anders sein.
Einige Elefantennamen wurden auf Bitten von Organisationen, die sich für die Betreuung und/oder Erhaltung von Elefanten einsetzen, für diesen Text geändert.
Ein Elefant werden
Es gab eine Zeit, in der ich mich viel mit den Axolotl beschäftigte. Ich ging ins Aquarium im Jardin des Plantes, wo ich sie stundenlang betrachtete und ihre Reglosigkeit, ihre leisen Regungen studierte. Ich bin jetzt ein Axolotl.
Julio Cortázar
»Ich höre nichts.«
»Gar nichts?«
»Nein, wirklich nicht, nur die Rückkopplung. Aber hier war doch seine letzte Position?«
»Schon, aber das war heute Morgen ganz früh. Wir müssen ihn suchen.«
Ich seufzte und nahm das Funkgerät vom Ohr. Ich befand mich in der nordöstlichsten Ecke Südafrikas, und zusammen mit Ronny und Jess, zwei Mitarbeitern, die viel Erfahrung mit Feldforschung hatten, verfolgte ich die Spur eines männlichen Elefanten namens Bulumko. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, ein klares, verbindliches »Piep, piep« von dem Sender zu empfangen, den Bulumko nun schon seit mehreren Jahren um den Hals trug. Der Sender kommunizierte mit einem Satelliten, damit wir Bulumkos Bewegungen aus der Entfernung mitverfolgen konnten, und normalerweise kommunizierte er auch mit der Antenne, die ich gerade in die Luft streckte. Aber heute nicht. Von Bulumko keine Spur; alles, was wir hatten, waren die in ihrer Genauigkeit höhnisch wirkenden GPS-Koordinaten, die wir viele Stunden zuvor empfangen hatten, als er hier in der Nähe auf Nahrungssuche gewesen sein musste. Ich war etwas gereizt, weil mich die Technik im Stich gelassen hatte. Aber vielleicht lag es auch daran, dass ich, seit wir im Morgengrauen aufgebrochen waren, nicht genügend Tee und Zwieback vertilgt hatte.
Auf der Dachplane unseres schicken neuen, strahlend grünen Pick-up-Trucks, den die Mitarbeiter von Elephants Alive liebevoll Shrek nannten, suchte Ronny bereits den Horizont ab. Nachdem wir die Spur der Elefanten vorher in einem geschlossenen Bakkie-4×4-Geländewagen verfolgt hatten, bedeutete das offene Fahrzeug für uns Freiheit, Luxus und Abkühlung. Es war beinahe Herbst, aber die Tagestemperaturen konnten noch immer auf 34°C klettern, und Shrek war mit Abstand die beste Alternative zum Swimmingpool. Ich kraxelte nach oben zu Ronny, sprang dann aber gleich wieder runter, um mir mein Fernglas zu holen: Mir war eingefallen, dass zwischen seiner und meiner Sehkraft Welten lagen.
Oben auf dem Dach verschwanden Hunger und Frust sofort, als ich die wundervolle leichte Brise spürte, die mein aufgekrempeltes Shirt zum Flattern brachte. Ich hörte melodische Vogelrufe und das Summen der von unserem Schweiß angezogenen Fliegen. Eine Sekunde später drang die Landschaft in mein Bewusstsein. Diese Gegend konnte unendlich groß und eintönig wirken. Aber nachdem ich ein paarmal hier gewesen war, fielen mir die Unterschiede auf — an manchen Stellen war die Landschaft eine unermessliche, gewellte Fläche aus dünnblättrigen Mopane-Bäumen, die gemeinsam eine Art Decke bildeten; an anderen Stellen war sie eher eine offene Savanne mit verstreuten Termitenhügeln, Krokodilbäumen mit stacheliger Rinde und duftenden Marula-Bäumen mit ihren ausladenden Blätterdächern. Erfreut bemerkte ich, dass die Vegetation entlang der Hänge und Flussufer etwas zugenommen hatte. Auch das änderte sich mit den Jahreszeiten. In diesem Jahr hatten wir etwas mehr Regen gehabt, und unter den Bäumen war eine Schicht Grün zu sehen. Nicht besonders hoch oder dicht, aber an diesem Ort, der so rau und ausgedörrt sein konnte, sprach sein Anblick von der Beharrlichkeit des Lebens. Ich dachte an letztes Jahr, an die mit Blasen bedeckten, sonnenverbrannten Flusspferde, die sich in trockenen Gräben wälzten, die eigentlich Schlammlöcher hätten sein sollen. Ich schüttelte mich, um die Erinnerung loszuwerden.
Ronnys Augen waren weiterhin in die Ferne geheftet. Er wusste genau, wie man die Spur von Elefanten und anderen Tieren verfolgte, und ich wiederum wusste, dass ich mich nur auf seine Hinweise zu verlassen brauchte. Er war in einer Safari-Lodge ganz in der Nähe aufgewachsen, wo seine Mutter Hauswirtschafterin war und sein Onkel als Fährtensucher arbeitete. An diesem Tag hielten wir nach den typischen Anzeichen für Elefanten Ausschau: verräterische Bewegungen in den Bäumen am Horizont oder das Geräusch knackender Äste. Ich mochte mich über die protzige Technik beschweren, die uns im Stich gelassen hatte, aber dies war der eigentliche Weg, einem Elefanten auf die Spur zu kommen. Auf diese Weise — indem wir uns auf unsere Sinne verließen, offene Augen für den Busch, die Sonne und uns selbst inmitten dieser Landschaft behielten — bekamen wir ein viel besseres Gefühl für die Dimensionen, dafür, wie sich die Tiere in das Landschaftsbild einfügten. Trotzdem hatte ich schon jede Menge Phantomelefanten gesichtet und Felsen, Baumstämme oder gar Büffel für eines unserer großen grauen Untersuchungsobjekte gehalten. Aber heute wollten wir das Original finden.
Plötzlich lächelte Ronny. »Da ist er ja! Dahinten, bei der großen, rechteckigen Baumgruppe!«
Ich hielt das Fernglas an meine kurzsichtigen Augen, die ich mir durch langes Starren aus zu großer Nähe auf Bildschirme und Bücher eingehandelt hatte und wohl auch dadurch, dass ich nicht oft genug draußen, an Orten wie diesem, gewesen war. Ronny hatte natürlich recht: Bulumko. Er war ein hochgewachsener, eindrucksvoller Bulle in seinen besten Jahren. Alt genug, um ein paar markante Kerben an den Ohren zu haben, die er sich wahrscheinlich durch Äste und Dornen zugezogen hatte. Elefanten haben immer zerfetztere Ohren, je älter sie werden. Mit ihrer Hilfe konnten wir sie gut identifizieren. Bulumko hatte außerdem ein paar ausladende Stoßzähne, keineswegs die längsten, die ich je gesehen hatte, aber beide über einen Meter lang. Elephants Alive beobachtete ihn schon seit Jahren. Das war genau das, was mich ursprünglich an dieser Organisation angezogen hatte: dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Elefanten als Individuen kennenlernten, mit ihrem besonderen Leben und all den Erfahrungen, die sie über die Jahre machten. Dazu kam, dass sie den Elefanten Namen gaben, und nicht bloß Nummern. Der Name Bulumko bedeutete Weisheit, aber was mich an ihm am meisten beeindruckte, war die Art, wie er sich bewegte. Er schlenderte ruhig dahin und betastete dabei die Bäume mit seinem Rüssel, nahm sich Zeit zu überlegen, welchen Weg er gehen wollte. Besonders gern bewegte er sich entlang der unbefestigten Straßen, auf denen wir mit unserem Pick-up fuhren, und manchmal trödelte er länger als die anderen Bullen an einer Wasserstelle herum. Wie alle Elefanten, die ich kennengelernt hatte, hatte auch Bulumko seine kleinen Marotten und besonderen Kennzeichen. Doch auch darüber hinaus war er ein bisschen anders als die anderen. Bulumko war blind.
Es gibt viele Tierarten, bei denen ein blindes Exemplar schlicht und einfach nicht überleben würde. Aber für Elefanten ist das Sehvermögen nicht so wichtig wie für andere Tiere. Gehör und Geruchssinn sind viel entscheidender. Bulumko hatte einen Weg gefunden, sich ohne Augenlicht in der Welt und im sozialen Gefüge seiner Gruppe zurechtzufinden. Es kam vor, dass er andere Bullen vertrieb, um sich seinen Zugang zu frischem Wasser zu sichern oder den schönsten Schattenplatz zum Ausruhen zu ergattern. Zwar war es nicht so, dass die anderen Tiere explizit für ihn sorgten, aber er wurde akzeptiert und hatte aufgrund seiner Statur, seines Alters und seiner Stoßzähne sogar eine dominante Stellung. Unsere Beziehung zu Bulumko war einzigartig. Während die anderen Elefanten sich einfach an unsere Gegenwart gewöhnten, erkannte uns Bulumko als Freunde und Mitreisende an. Wir durften an einem Wasserloch stundenlang in seiner Nähe bleiben, während er badete und wir neidisch in der Sonne schwitzten. Wenn er aufbrach, stieß er ein kurzes, aber tiefes und lautes Knurren aus, mit dem er uns zu verstehen gab, dass wir ihm folgen sollten — auf geht’s Leute! Ich habe mich oft gefragt, ob seine Blindheit der Grund dafür war, dass er öfter als andere Elefanten auf diese besondere Weise mit uns kommunizierte. Wenn wir Zeit mit ihm verbrachten, waren wir mehr als Beobachter, wir wurden fast selbst zu Elefanten. Vielleicht fiel es ihm leichter, mit uns als Freunde umzugehen, weil er uns nicht sehen konnte, vielleicht war unser Wagen für ihn einfach so etwas wie ein anderes großes Tier. Davon abgesehen, dass dieses Tier nach Mensch roch und auch so sprach wie ein Mensch.
Aufgeregt, weil wir nun endlich wieder mit Bulumko »sprechen« (und, vor allem, von ihm hören) konnten, kletterte ich vom Dach und wollte sofort losfahren, damit wir eine bessere Sicht auf ihn bekamen. Ich strahlte Ronny und Jess an. »Na bitte, so gefällst du mir!« Jess lachte und schüttelte den Kopf über mich. Aber das war es nun einmal, was ich wirklich wollte: von einem Elefanten als Elefant behandelt werden. Jess brachte Shreks schweren Motor auf Touren, und wir fuhren, eine dichte Staubwolke hinter uns herziehend, zu Bulumko.
Was ist ein Elefant? Die Lieblingsfigur aus einem Kinderbuch, eine Kriegswaffe, ein religiöses Symbol, ein Zugtier, eine Plage, ein Aushängeschild des Naturschutzes, eine Einkommensquelle, die Gefährdung einer Einkommensquelle, eine Jagdbeute, eine Touristenfalle, eine Furcht einflößende Bestie, ein sanfter Riese, eine Quelle von Elfenbein und eine Quelle von Macht. Zu bestimmten Zeiten ist er alles auf einmal gewesen, und die Vielfalt der Bilder ist Ausdruck der Komplexität und der langen Geschichte der Beziehung, die wir Menschen zu dem größten Landsäugetier der Erde unterhalten. Wenige Tiere beschwören so heftige Leidenschaften und Meinungsverschiedenheiten herauf wie Elefanten. Manchmal fällt mir plötzlich ein, wie viel Bedeutung diese riesigen Tiere mit sich herumtragen, wie viel Symbolisches und wie viel Ballast — aber immerhin sind sie stark genug dafür. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen die Tierart, die sie erforschen, aufwendig vorstellen und beschreiben — Buntbarsch, Fruchtfliege, Honiganzeiger, Stichling. Wenn ich dagegen sage, dass ich mit Elefanten arbeite, haben die meisten Menschen schon ein festes Bild im Kopf, gegen das ich manchmal nur schwer ankomme. Aber meine Art, Elefanten zu sehen, ist genauso persönlich wie die der anderen. Für mich sind Elefanten die größten, komplexesten und faszinierendsten Puzzles, die mir jemals vorgelegt wurden. Und ich habe durchaus eins von diesen 1000-Teile-Online-Dingern fertiggepuzzelt! Inwiefern machen Elefanten mit ihrem langen Leben, ihrer ineffizienten Verdauung und ihrer langsamen Fortpflanzungsrate aus Sicht der Evolution eigentlich Sinn? In einer Welt, in der man schließlich auch klein sein kann, mit einer schnellen Fortpflanzungsrate und exponentieller Vermehrung. Warum gibt es Riesen auf dieser Welt? Und wie können wir mit ihnen leben?
Mein eigenes Leben hat sich durchaus nicht zwangsläufig so entwickelt, dass es heute voll und ganz von Elefanten bestimmt ist: von ihrem Lebenszyklus, ihren Bewegungen und ihren Gewohnheiten sowie von den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen ihnen und uns Menschen. Ich bin nicht im Busch aufgewachsen wie Ronny. Ich komme nicht aus Südafrika wie er und Jess. Wenn Sie mich mit sieben gefragt hätten, was ich später werden will, hätte ich gesagt, Indiana Jones oder David Attenborough. Aber diese frühen, auf Feldforschung basierenden Träume verblassten, als ich plötzlich intensiv in Fachliteratur und Prüfungsvorbereitungen versank. Heute kommt es mir so vor, als wäre ich in meiner Teenagerzeit eingeschlafen und erst als Studentin am Kings College in Cambridge wieder aufgewacht: etwas verdutzt, dass ich es hinbekommen hatte, ausgerechnet hier zu landen — schließlich war ich die Erste in meiner Familie, die überhaupt studierte —, aber wild entschlossen, zumindest davon auszugehen, dass ich hier richtig war. Die dräuende Architektur überwältigte mich, sie hatte etwas klösterlich Beklemmendes und war zugleich von atemberaubender Pracht. Auf eine Weise spiegelte sie meine Unfähigkeit, mich auf die an diesem Ort herrschenden subtilen und manchmal auch sichtbaren und spektakulären Rituale einzulassen, die andere mit einer Natürlichkeit und Leichtigkeit praktizierten, von der ich nur träumen konnte. Ebenso eingeschüchtert war ich von den allgemeineren Anforderungen des Studentenlebens. Ich ruderte in keinem der Collegeboote, spielte nicht Theater, schrieb nicht für die Zeitung und ergatterte keine tollen Praktikumsplätze. Stattdessen saß ich in der Bibliothek — zutiefst erschüttert, wie wenig ich wusste und wohl jemals zu wissen hoffen konnte.
Haltlos, wie ich war, brauchte ich ein Bezugssystem, innerhalb dessen ich mich selbst verstehen konnte — als Individuum und als Mensch. Ich beschloss, dass ich der genauen Bedeutung des Menschseins auf den Grund gehen musste, wenn ich meinen Platz in der Welt erkennen wollte. Aber auch diese Eingrenzung war — wer hätte das gedacht — für eine Bachelorarbeit noch leicht überambitioniert. Aber dann, während einer Lehrveranstaltung im dritten oder vierten Semester, änderte sich mein Leben in Cambridge dramatisch. Ich entdeckte die Ideen der Life-History-Theorie und mit ihnen die elegante Klarheit, die mit jeder gut konstruierten wissenschaftlichen Theorie einhergeht. Im Kern will diese Theorie erklären, wie es lebenden Organismen in ihrer Entwicklung, ihrer Fortpflanzung und ihrem Alterungsprozess gelingt, Energie und Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Mir selbst ging es um das Verständnis von Organismen insgesamt, für das mir die Aneignung der praktischen Grundlagen unerlässlich schien: Ich wollte erfahren, wie sie geboren werden oder ins Leben kommen, wachsen, sich fortpflanzen (oder darauf verzichten) und sterben. All das sind universelle Erkennungszeichen, die uns an andere Lebewesen binden, doch wir erleben sie als Individuen. Aus diesem Grund sind zwischen unterschiedlichen Organismen, aber auch zwischen einzelnen Lebensläufen derselben Art enorme Variationen zu beobachten. So ist der grobe Eindruck, dass Menschen langlebige Tiere mit einem langsamen Lebenstempo sind, sicherlich richtig, verdeckt aber die Tatsache, dass einige von uns nur einige Minuten oder Stunden leben und andere älter als ein Jahrhundert werden. Welche Art von Druck üben solche Mortalitätsmuster auf unsere Spezies aus? Für mich war diese Theorie die perfekte Brille, durch die ich mich selbst und die Welt betrachten konnte. Sie erlaubte mir, die Vorstellung ad acta zu legen, dass Menschen etwas Besonderes sind. Nun konnte ich für das Verständnis meines eigenen Lebens dieselben Prinzipien anwenden wie für das jedes anderen Lebewesens auch.
In diesem Sinne begann ich, mich mit dem Leben von Primaten zu beschäftigen. Nicht-menschliche Primaten wie Affen, Menschenaffen oder Lemuren waren schon immer die erste Wahl, wenn es um einen Vergleich mit menschlichen Organismen geht. Und in gewisser Weise ist das auch sinnvoll, denn sie sind nun einmal unsere nächsten Verwandten. Ich entwarf eine ehrgeizige Studie, die ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit durchführen wollte. Mithilfe eines Schemas, das der Life-History-Theorie entlehnt war, wollte ich herausfinden, ob das Tempo des menschlichen Lebens dem des typischen Primatenlebens entsprach oder als Sonderfall betrachtet werden musste, der sich vom üblichen Muster abhob. Mit Lebenstempo meinte ich nicht nur die Lebensspanne. Ich meinte, ob wichtige »Meilensteine« unserer Lebensgeschichte, wie die Entwöhnung oder das Alter, in dem man sich zum ersten Mal fortpflanzt, weit auseinander- oder eng beisammenliegen. Oft ist es sinnvoll, die Lebensgeschichten verschiedener Arten als ein zusammenhängendes Ganzes zu betrachten. So reicht bei den Säugetieren die Bandbreite von »schnelllebigen« Wesen wie der Maus, die rasch die Geschlechtsreife erreicht, viele Nachkommen zeugt und ein relativ kurzes Leben hat, bis zu Tieren, die sich über viele Jahre entwickeln, in größeren Abständen Nachwuchs bekommen und ein längeres Leben haben, wie zum Beispiel Menschen. All das kann von der Körpergröße beeinflusst sein: Große Körper brauchen länger zum Wachsen, entsprechend muss man diesen Faktor herausrechnen. Ohne mich selbst zu sehr zu loben: Ich entdeckte, dass wir Menschen kein absoluter Sonderfall sind, obwohl wir sogar im Kreis der Primaten zu denen gehören, die vergleichsweise langsam leben. Aber von den Arten, die ich mir genauer angesehen habe, waren wir noch nicht einmal die langsamsten.
Ich war wahnsinnig stolz auf meinen Beitrag zur Wissenschaft, und der Direktor des Fachbereichs Anthropologie empfahl meine Arbeit zur Veröffentlichung. Ich fühlte mich auf eine Weise akzeptiert und wertgeschätzt, die ich während all der Jahre mit Portwein-und-Käse-Empfängen nicht erlebt hatte (obwohl es mir mit der Zeit gelungen war, in Sachen Portwein auf den Geschmack zu kommen und sogar eine veritable Angst zu entwickeln, dass ich davon die Gicht bekommen könnte, ganz zu schweigen von meiner besonderen Vorliebe für Trüffelpecorino). Dann dachte ich noch etwas länger über meine Arbeit nach und dann noch länger und irgendwann zu viel. Ich erkannte, wie begrenzt meine Studie in Wirklichkeit war. Ich hatte das furchtbare und niederschmetternde Gefühl, mit der Nase wenige Zentimeter vor einem pointillistischen Gemälde zu stehen und aller Welt fröhlich zu erzählen, dass ich das große Ganze im Blick hatte. Dabei sah ich nur ein paar hübsche grüne Punkte, aber definitiv kein Picknick am Ufer der Seine (oder was immer Ihre pointillistische Lieblingsszene ist).
Zu dieser Zeit hatte ich einen Job an einem der Colleges in Cambridge, wo ich eine Datenbank für Alumni aufbauen sollte. Ich drehte Däumchen und stellte mir in blühenden Farben mein Leben als Wissenschaftlerin vor, war aber andererseits noch gar nicht bereit, dieses Leben wirklich zu führen. Also fing ich an, meinen Misserfolg penibel auseinanderzunehmen und meinen ursprünglichen Ansatz zu überdenken. Der Sache nach hatte ich Menschen als Primaten betrachtet, aber Menschen sind mehr als nur Primaten. Und wie viel haben wir mit entfernter verwandten Primaten wie den Lemuren tatsächlich gemeinsam? Ich musste das Thema Verwandtschaft vergessen und im gesamten Tierreich nach langsamen Lebenszyklen suchen. Wenn ich ein Tier finden konnte, das sich getrennt vom Menschen entwickelt hatte und nicht mit ihm verwandt war, wäre das umso interessanter. Auf diese Weise könnte ich Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Lebenszyklen untersuchen, ohne befürchten zu müssen, dass ich nur das allgemeine Primatenmuster beschrieb. Ich legte eine Liste an. Das erste Wort war »Wale«. Ich sah mich seekrank über einer Reling hängen, verzog das Gesicht und strich das Wort durch. Dann schrieb ich »Elefanten«. Und mein ganzes Leben änderte die Richtung.
Wenige Monate später landete ich in Kenia. Ich hatte noch nie einen Flug mit Bedarfshalten mitgemacht, geschweige denn in einem so winzigen Flugzeug. Ein glücklicher Zufall hatte es gewollt, dass der ehemalige Direktor des Colleges, an dem ich arbeitete, in den 1960er- und 1970er-Jahren ein einflussreicher Elefantenforscher gewesen war und mir empfohlen hatte, mich an einen seiner ehemaligen Doktoranden zu wenden. Dieser Doktorand war Iain Douglas-Hamilton, inzwischen selbst eine Koryphäe der Elefantenforschung. Bevor ich ihn kennenlernte, hatten mir alle gesagt, er sei selbst ein Elefant. Ich hatte gehört, dass er unglaublich intelligent und produktiv war und sich leidenschaftlich für seine Arbeit engagierte. Aber die Sache mit dem »Elefant sein« klang für mich doch ziemlich irre. Man erzählte sich, er sei einmal von einer Elefantenkuh um einen Dornenbusch gejagt worden und glücklicherweise mit ein paar Kratzern davongekommen. Wie er mir später sagte, war es ihm bis heute ein Rätsel, was der Zweck des ganzen Manövers gewesen sei: »Wollte sie mich umbringen, als sie mich überrannte und ihre Stoßzähne direkt über meinem Kopf 20 Zentimeter tief in den Boden stieß? Und als ich unter ihr lag und ihr vollkommen ausgeliefert war, entschied sie sich dagegen? Oder wollte sie mir von vornherein nur Angst einjagen? So oder so, sie hat es geschafft, meinen Herzschlag zu beschleunigen!«
Trotz dieser zufälligen Anknüpfungspunkte erschien mir Kenia fremder, als Cambridge es jemals gewesen war. Als das Flugzeug in Samburu landete, war ich überglücklich, dass ich noch lebte, und sehr stolz, dass ich mein Frühstück bei mir behalten hatte — Letzteres war einem der jüngeren Passagiere nicht vergönnt gewesen. Ich zerrte meinen Rucksack aus dem Flugzeug und schleifte ihn durch den Sand an den Rand der Landebahn. Aus dem Augenwinkel erkannte ich ein wackeliges Tischchen mit Nippes, an dem ein »duty-free«-Zeichen prangte. Ich war nicht sicher, ob hier jemand mutig versuchte, einen Laden aufzumachen, oder ob es sich um einen Spaß handelte. Der Landeplatz lag verlassen in der Sonne. Ich setzte mich auf meinen Rucksack und wünschte, ich hätte etwas Wasser dabeigehabt. Die Sonne stieg höher, und ich blinzelte. Vielleicht hätte ich jemanden erinnern sollen, dass ich heute ankommen würde. Konnte es sein, dass niemand davon wusste und ich zurück in dieses furchterregende Miniflugzeug steigen musste? Zum Glück wurden meine angstvollen Gedanken von zwei Männern unterbrochen, die mich fragten, wo ich hinwolle.
»Save the Elephants«, antwortete ich.
Die Vertreter dieser Organisation trafen eine halbe Stunde später ein: zwei lächelnde junge Männer namens Jerenimo und Benjamin. Ich fühlte mich unbehaglich, weil ich eindeutig älter war als sie und es mir irgendwie lächerlich vorkam, ihnen hinterherzulaufen, aber mir wurde schnell klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Die beiden schienen sich keineswegs unbehaglich zu fühlen, im Gegenteil, sie grinsten mich freundlich an. Im Auto begannen wir zu plaudern, während wir die sandigen Straßen entlangrumpelten. Der überwältigende erste Eindruck von Samburu war der von warmem, orangefarbenem Sand und von Dornen. Dornen, die so beeindruckend waren, dass ich noch nicht einmal daran denken wollte, in eine von ihnen zu treten. Ich suchte wieder einmal Schutz bei der Wissenschaft und überlegte, dass die fünf Zentimeter langen Dornenzinken darauf hindeuteten, dass sich die entsprechenden Gewächse hier wohl mit aller Kraft gegen pflanzenfressende Tiere zur Wehr setzen mussten. Während ich gedankenverloren vor mich hin starrte, stoppte Jerenimo den Wagen. Er lächelte noch immer.
»Den Rest müssen wir zu Fuß gehen.«
Ich betrachtete den Fluss, neben dem er geparkt hatte, und die Überreste einer Brücke, die ihn überspannte. Benjamin erzählte mir, dass der Fluss Anfang des Jahres über die Ufer getreten war und die Brücke und einen Großteil des Camps überflutet hatte. Der Fluss sei voller Krokodile, weshalb wir besser über das kletterten, was von der alten Brücke übrig geblieben war. Galant nahmen Jerenimo und Benjamin mein Gepäck. Ein besserer Gleichgewichtssinn wäre jetzt praktisch gewesen — noch so etwas, das ich hätte kultivieren sollen, anstatt immer nur zu lesen. Ich versuchte, mir selbst gut zuzureden. So sieht Feldforschung nun einmal aus, Hannah. Du hast doch gesagt, dass du so was machen möchtest. Du willst Elefanten verstehen? Dann musst du im Zelt schlafen, auf Schotterpisten laufen und über diese Brücke klettern! Ich redete mir ein, dass ich für Krokodile als Mahlzeit unattraktiv war, ohne dieser These die wissenschaftliche Genauigkeit zu widmen, die sie zu anderen Zeiten vielleicht verdient hätte. Unbeholfen zog ich mich am Brückengeländer hoch und lugte über den Rand.
Paviane!
Die gefletschten Eckzähne der größeren Männchen gingen mir stärker an die Nieren, als ich erwartet hätte. Ich wusste, dass das hauptsächlich Imponiergehabe war, duckte mich aber sofort zurück nach unten. Jerenimo und Benjamin brachten ihr Wissen über das Verhalten von Tieren zum Einsatz und bauten sich zu ihrer vollen Größe auf, streckten die Brust raus, klatschten in die Hände und brüllten. Die Paviane zerstreuten sich beflissen, und ich nahm mir vor, mich in der Gegenwart von Pavianen demnächst mehr wie ein Pavian zu verhalten.
Ein paar Tage später hatte ich mich an das Leben im Camp gewöhnt. Obwohl es nur fünf Monate zuvor von jener Flut verwüstet worden war, die auch die »Pavian-Brücke« zerstört hatte, war das Camp sauber, gut ausgerüstet und voll funktionsfähig. Die Tage nahmen schnell einen vertrauten Rhythmus an, und ich erkannte, dass ich mich sehr viel leichter an ein Leben in fremder Umgebung anpassen konnte, als ich gedacht hätte. Ich schlief in einem Zelt, das unter einem Wellblechdach stand, damit ich vor den Exkrementen der Grünen Meerkatzen geschützt war, die morgens, wenn ich aufwachte, vom Baum fielen. Zum Waschen hatte ich einen orangefarbenen Plastikeimer, der gleichzeitig von einer kleinen Antilope zur Frischwasserversorgung genutzt wurde, die wegen ihrer Sprungkraft als Klippspringer bekannt ist. Morgens ging ich als Erstes zur Pumpe und füllte eine durchsichtige Flasche mit Wasser. Die ließ ich in der Mitte des Camps in der prallen Sonne stehen, damit sich das Wasser für meine nachmittägliche Eimerdusche erwärmte. Ich gewöhnte mich an das Plumpsklo (und war sogar dankbar für die leichte Brise, die einen von unten anwehte, wenn man darauf saß) und fand es bald ganz normal, das Seil über die Tür zu hängen, damit jeder wusste, dass ich gerade drin war. Mit den Kronkorken von Bierflaschen spielte ich Schach, und das Markenzeichen des Tusker-Biers brachte mich zum Nachdenken über die symbolische Macht, die Elefanten über uns Menschen haben. Neben dem neugierigen Klippspringer lernte ich noch andere Tiere kennen, die regelmäßig ins Camp kamen: ein runzeliges Nashornvogelpärchen, das auch im Alter noch beeindruckend aussah, mit seinen schwarzen und weißen Federn und den gebogenen orange-gelben Schnäbeln; und eine Gruppe Mungos, die in der Nähe unseres Frühstückstischs auf die Jagd gingen. Die Paviane, denen ich zum ersten Mal bei der Brücke begegnet war, wirkten nun viel gelassener, als sie ungerührt den Hügel neben unserem Frühstückstisch überquerten. Es gab auch eine Gruppe von Klippschliefern, flauschige Säugetiere, die ein bisschen aussehen wie zu groß geratene Meerschweinchen, die aber in Wirklichkeit zu den engsten lebenden Verwandten der Elefanten gehören. Sie schliefen viel und unterbrachen ihr Sonnenbad nur gelegentlich, um die Mehlsäcke im Lebensmittelladen unter die Lupe zu nehmen. Doch so charmant all diese Wesen auch waren, einen Elefanten hatte ich bisher nicht zu Gesicht bekommen. Und schließlich war das der Grund gewesen, weshalb ich mich auf den weiten Weg nach Kenia gemacht hatte.
Am nächsten Morgen beim Frühstück bekam ich mehr als Chai, Toast und Honig: Ich sah zum ersten Mal einen Elefanten in freier Wildbahn. Bis heute kann ich mir keinen besseren Anfang für die Elefantenbeobachtung vorstellen. Ich bin so froh, dass es passierte, als ich gerade zu Fuß unterwegs war und mich im Camp aufhielt. Das erlaubte es mir, sowohl die Größe des Elefanten vor mir als auch meine eigene Zerbrechlichkeit zu spüren, was in einem Fahrzeug einfach nicht möglich ist. Toll war auch, dass ich mich im Camp schon so gut auskannte, dass mir die Begegnung keine Angst einjagte oder mich überwältigte. Ein alter Elefantenbulle namens Yeager hatte sich entschlossen, einige gebrauchte Halsbänder zu untersuchen, die früher von Elefanten getragen worden waren, damit man die Peilsender darauf montieren konnte. Es rührte mich, wie zart er mit diesen alten, klobigen Ausrüstungsgegenständen umging, die niemand mehr brauchte. Er erkundete sie mit der Spitze seines Rüssels, drehte sie vorsichtig um, bemerkte den fast verflogenen Geruch ihrer ehemaligen Träger. Ich erinnere mich so deutlich an sein Gesicht. Es lag weit oberhalb seines Rüssels, wie das im Alter bei Elefantenbullen oft der Fall ist, mit tiefen horizontalen Falten, die die Vorderseite seines Gesichts durchzogen. Er blickte nach unten, wodurch die dramatisch langen, feinen Wimpern betont wurden, die seine Augen umrahmten. Seine Stoßzähne waren am Anfang ziemlich dick, ein weiteres Zeichen seines Alters. Der rechte Stoßzahn war nach außen abgespreizt und endete in einer kurzen, knubbeligen und trotzdem beeindruckenden Spitze, während der linke etwa fünf Zentimeter unterhalb der Lippenlinie einen unschönen, zerklüfteten Bruch aufwies, der mehrere Schichten hartes Gewebe sichtbar machte, was ihm ein verwegenes und markantes Aussehen gab.
Yeager bewegte sich sehr langsam, aber überaus kraftvoll und zielgerichtet. Ich sah zu, wie er mit der Spitze seines Rüssels Gras ausrupfte, dann den Rüssel hin und her schwenkte, um den Dreck von den Wurzeln zu schütteln, sich das Gras in den Mund steckte und methodisch und rhythmisch zu kauen begann. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit verging, während ich dastand und ihm zusah. Es können Minuten, aber auch Stunden gewesen sein, aber das spielte keine Rolle, denn jetzt war seine Zeit der Maßstab. Meine Wahrnehmung verlangsamte sich, um sich an sein Tempo anzupassen, und im Zuge dessen verlor die Welt ein Stück ihrer Dringlichkeit: Mein unwiderstehlicher Drang, vorwärtszustürmen, selbst wenn ich gar nicht wusste, wohin, verschwand. Auf seinem schlendernden Rückweg aus dem Camp blieb Yeager noch einmal stehen, um fünf karamellfarbene Dungkugeln fallen zu lassen. Als er weit genug weg war, ging ich hinüber zu der Stelle, wo er gestanden hatte, um mir in Ruhe seine Fußabdrücke im Sand anzusehen, mit ihren über Kreuz laufenden Rissen, die an Pfade auf einer Landkarte erinnerten. Aus der platten Stelle im hinteren Bereich seiner Füße konnte ich mir erschließen, in welche Richtung er gelaufen war. Ich konnte erkennen, wo sein Rüssel den Boden berührt und ein geriffeltes Tal hinterlassen hatte. Ich roch an seinem Dung, grasig, warm und kein bisschen eklig. Ich knetete ihn zwischen meinen Fingern und ließ mir das grüngelbe Wasser den Arm hinunterlaufen. Es war Leben in diesem Dung. Ich spürte das kaum verdaute Pflanzenmaterial, das viele Kilometer entfernt gesammelt und hier abgelegt worden war; die Möglichkeit, dass Mistkäfer ihn wegrollten oder ein Frosch darin sein Haus baute oder die Samen, die darin lagen, keimten. Ich dachte an die Wurmeier, die ich erst später unter dem Mikroskop erkennen würde, und an noch viel Kleineres, seine DNA, seine Darmbakterien, die verstoffwechselten Fragmente seiner Hormone. Ich sah ihn als Ganzes, das so viel mehr war als die Summe seiner Teile, das unverzichtbare Element eines Systems, das sowohl viel größer als auch viel kleiner war als er selbst.
Ich war nach Kenia gekommen, weil ich ein langsam lebendes Tier als Modell brauchte, an dem ich meine Theorien überprüfen konnte. Im Nachhinein muss ich wirklich lachen, dass ich, bevor ich jemals selbst einem Elefanten begegnet war, die Idee abgelehnt hatte, Iain könne ein Elefant geworden sein. Ich verdanke Yeagerallen