ISBN Printausgabe 978-3-86191-002-2
ISBN eBook 978-3-86191-236-1

 

Deutsche Originalausgabe

© Crotona Verlag GmbH & Co.KG

Kammer 11 · D-83123 Amerang

www.crotona.de

© Martin Buber, "Die Erzählungen der Chassidim",

"Hundert chassidische Erzählungen", "Die Legende des

Baalschem". Copyright © by Manesse Verlag, Zürich,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

 

 

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

unter Verwendung von Fotolia_17005061_M

 

Danksagung

 

Ich danke dem Manesse Verlag,

insbesondere Frau Tonia Kempe,

für die freundliche Erlaubnis,

diese Auswahl aus den Werken

Martin Bubers zusammenstellen

zu dürfen.

Vorwort

Martin Buber zählt auch am Beginn des 21. Jahrhun­derts, ein knappes halbes Jahrhundert nach seinem Tod, zu den prägenden Persönlichkeiten des Gei­stes­lebens. Ohne sein epochales Werk wäre die chassi­dische Weisheit, ein einzigartiges Zeugnis euro­päischer Spiritualität, wohl im Dunkel der Zeiten versunken. So aber leuchtet das Wirken der großen chassi­dischen Rabbis und Zaddikim noch immer in der Welt und belegt einen authentischen geistigen Weg, der unvergleichlich und einmalig ist.

Buber hat in seinen »Erzählungen« und »Geschichten« auf meisterhafte Weise die geheimnisvolle Welt der Mystik des osteuropäischen Judentums eingefangen und dokumentiert. Ihrer bemerkenswertesten Persönlichkeit, Rabbi Israel ben Elieser, dem Baalschem, hat Buber einen eigenen kleinen Band gewidmet, in dem Lehre und Leben dieser herausragenden Gestalt der jüdischen Mystik ein Denkmal gesetzt wird.

Die nachfolgende Werkauswahl greift auf diese drei Meisterwerke zurück, indem sie aus der Fülle der Erzählungen und Legenden die beeindruckendsten herausgreift. Sie alle legen ein berührendes Zeugnis ab von der Lebendigkeit der jüdischen Frömmigkeit Osteuropas, die im 20. Jahrhundert beinahe vollständig vernichtet worden wäre. Buber weist mit Recht in seinem Lebenswerk immer wieder darauf hin, dass wir es zwar mit einer dezidiert jüdischen Tradition zu tun haben, die aber in ihrer inneren Verwirklichung und in ihrer bewegenden Menschlichkeit längst über die Grenzen einer Glaubenswelt hinausgewachsen und Menschheitserbe geworden ist.

 

Als Hermann Hesse 1949 erstmals eine Ausgabe der »Erzählungen der Chassidim« in den Händen hielt, schrieb er bewegt an Buber: »Ich freue mich, das noch erlebt zu haben. … Scheinbar war es ja ein weiter Weg von den zerstreuten anekdotischen Legenden jener Epoche des Ostjudentums bis zu diesem Buch der Weltliteratur, aber wo ein Licht brennt, gehen seine Strahlen nicht verloren, und wenn die Geschichten der alten Chinesen vom Leben und den Gesprächen ihrer Weisen zweitausend Jahre auf ihren Eintritt ins Pantheon der Völker warten konnten, ohne dass von ihrer Kraft etwas verlorenging, so waren die zwei Jahrhunderte vom Aufblühen des Chassidismus bis zu dieser klassischen Sammlung eine kleine Zeit.«1

Ähnlich wie Hesse wurde auch Luise Rinser von Bubers Sammlung chassidischer Geschichten zutiefst berührt. Sie schrieb ihm am 20. Februar 1962: »Ich habe sie (die Erzählungen) mit fünfundzwanzig Jahren kennengelernt und bin seither niemals mehr von ihnen verlassen worden. … Ich nehme diese Geschichten als ›Meditationsübungen‹ und begreife von ihnen her unser Christliches. Auch helfen sie mir verstehen, was denn ›Heiligkeit‹ ist.«2

Hermann Hesse und Luise Rinser stehen hier exemplarisch für zahllose bekannte und unbekannte Leser von Bubers Werken, die auf sie alle einen unvergesslichen Eindruck machten. Die großen Weisen, Seher und Rabbis der chassidischen Tradition erfahren in Bubers Sammlung eine Auferstehung in die Unsterblichkeit der spirituellen Tradition oder, wie Hesse es nannte, ins »Pantheon der Völker«. Sie werden weiterwirken durch die Jahrhunderte!

Möge die nachstehende Auswahl Ihnen Freude und Inspiration schenken. Möge Sie Ihnen ein Licht in einer dunklen Zeit sein und Ihren persönlichen Weg erhellen. Möge der Segen des EINEN aus ihnen hervorleuchten und Ihnen Trost und Ermutigung bringen.

 

Peter Michel


1 (Grete Schaeder, Briefwechsel Martin Buber, Bd.III, Heidelberg 1975, S.226)

2 (Schaeder, a.a.O., S.558)

Gottes Wohnung

»Wo wohnt Gott?«

Mit dieser Frage überraschte der Kozker einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren.

Sie lachten über ihn: »Wie redet Ihr! Ist doch die Welt seiner Herrlichkeit voll!«

Er aber beantwortete die eigene Frage: »Gott wohnt, wo man Ihn einlässt.«3

In dieser Begebenheit wird auf wundervolle Weise beschrieben, dass die verborgene Anwesenheit Gottes zwar eine Realität ist, aber nur bewusst werden kann, wenn sie in jedem einzelnen Menschen vollzogen wird. Gott kann nur dort einkehren, wo ihm die Herzenstüren geöffnet werden. Manchmal mag er an einer Tür klopfen − und keinen Einlass finden. Dann wird er weitergehen. Der Mensch sollte immer vorbereitet sein, um die göttliche Gegenwart einzulassen.

Es gibt, dazu passend, eine berührende Anekdote aus dem Leben des großen indischen Yogi Paramahansa Yogananda. Als Yogananda ein Jugendlicher war, kam wieder einmal ein Bettler vor das Haus seiner Eltern. Yogananda wollte ihn unwirsch von der Tür weisen, als seine Mutter hinzukam und dem Bettler eine milde Gabe reichte. Als dieser schon gegangen war, blickte seine Mutter ihn an und sagte zu Yogananda: »Weise niemals einen Bettler ab, du kannst nicht wissen, ob es nicht Gott ist, der in einer Verkleidung zu dir kommt, um die Güte deines Herzens zu prüfen!« In dieser Achtsamkeit berühren sich die Chassidim und die großen Weisen des Ostens. Gott kann uns jeden Tag begegnen −­ wir sollten immer darauf vorbereitet sein!


3 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 6)

Nicht was zum Munde eingeht …

Der Jehudi trug einst seinem Schüler Rabbi Bu­nam auf, eine Reise zu unternehmen. Bunam fragte nicht, sondern ging mit etlichen Chassidim zur Stadt hinaus, wohin die Straße sie führte. Ge­gen Mittag kamen sie in ein Dorf und kehrten beim Schankpächter ein, der, erfreut über die frommen Gäste, sie zum Essen einlud. Rabbi Bu­nam setzte sich in die Wirtsstube, die andern gin­gen aus und ein und for­schten allerlei wegen des Fleisches, das ihnen vor­gesetzt werden sollte: nach der Fehlerfreiheit des Tieres4, nach der Person des Schächters5, nach der Sorgfalt des Salzens6. Da hob ein Mann in zerris­se­nen Kleidern, der hinter dem Ofen saß und den Wanderstecken noch in der Hand hielt, zu reden an: »0 ihr Chassidim! Ihr macht viel Aufhebens, ob euch rein genug sei, was ihr in den Mund tut, aber was euch aus dem Munde geht, um dessen Lauterkeit tragt ihr min­der Sorge!«

Rabbi Bunam wollte entgegnen. Schon aber war der Wandersmann, wie es Elijas Sitte ist, ver­schwun­den. Der Rabbi verstand, zu welchem Ende ihn sein Lehrer auf den Weg geschickt hatte.7

Seit den Tagen der mosaischen Speisevorschriften spielt die Essenszubereitung eine bedeutende Rolle in der jüdischen Tradition. Allerdings hat es den Anschein, dass manche Gebote, die Moses unter anderem aus hygienischen Gründen erteilte, in ihrer Bedeutung durch die Jahrtausende hindurch manchmal überbewertet wurden. Daher wiesen die Zaddikim, die großen Meister der Chassidim, immer wieder einmal darauf hin, dass es nicht so wichtig sei, was durch den Mund in den Menschen eingehe, als vielmehr auf das zu achten, was aus ihm hinaus in die Welt gesandt werde. Nicht die »äußere Reinheit« entscheidet über das wahre Wesen eines Menschen, sondern seine »innere Reinheit«.


4 Bestimmte Erkrankungen und andere Defekte ma­chen den Genuss eines sonst »reinen« Tieres zu einem unerlaubten.

5 Ob ihm vertraut werden kann, dass er die Vorschrif­ten beim Schächten genau eingehalten hat.

6 Um das Blut, dessen Genuss verboten ist, dem Fleisch völlig zu entziehen, wird dieses ganz mit Salz bestreut.

7 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 23)

Flickarbeit

Ein Chassid des Lubliners fastete einmal von Sab­bat zu Sabbat. Am Freitagnachmittag überkam ihn ein so grausamer Durst, dass er meinte, sterben zu müssen. Da erblickte er einen Brunnen, ging hin und wollte trinken. Aber sogleich besann er sich: um einer kleinen Stunde willen, die er noch zu ertragen hätte, würde er das ganze Werk dieser Woche vernichten. Er trank nicht und entfernte sich vom Brunnen. Stolz flog ihn an, dass er die schwere Probe bestanden habe. Wie er dessen inne ward, sprach er zu sich: »Besser, ich gehe hin und trinke, als dass mein Herz dem Hochmut verfällt.« Er kehrte um und trat an den Brunnen. Schon wollte er sich darüberneigen, um Wasser zu schöpfen, da merkte er, dass der Durst von ihm gewichen war. Nach Sabbatanbruch betrat er das Haus seines Lehrers. »Flickarbeit!«, rief ihm der an der Schwelle zu.8

Diese kleine Geschichte beschreibt auf humorvolle Weise die kleinen täglichen Kämpfe des Menschen. Es ist die Auseinandersetzung mit dem sprichwörtlich berühmten »inneren Schweinehund«. Zwei ›Seelen‹ wirken im Menschen, die ihn in Richtung auf seine Größe führen oder in seiner kleinen Erdenpersönlichkeit halten wollen. Niemand kann diesen Kampf für einen Menschen führen − er muss ihn selbst gewinnen. Der Lehrer kritisiert den Schüler daher auch nicht, dass er die Prüfung nicht bestanden hat, er weist nur auf die fehlende innere Konsequenz hin, eben die »Flickarbeit«. Wer diese als solche erkennt, vermag bei der nächsten Prüfung vielleicht besser zu bestehen.


8 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 24)

Der Stolze und der Demütige

Der Apter kam einst in eine Stadt, da bewarben sich zwei Männer um die Gunst, ihn beherbergen zu dürfen. Beide führten die Wirtschaft mit from­mer Sorgfalt, beider Häuser waren geräumig und wohlversehen. Aber um den einen spann sich ein schlimmes Gerücht von Buhlschaft und sündigem Treiben; er selber wusste, dass er schwach war, und dachte gering von seinem Wert. Den andern hingegen konnte kein Mensch in der Gemeinde irgendeines Übels bezichtigen; er schritt stattlich und stolz in seiner Makellosigkeit einher. Der Rabbi wählte das Haus dessen, von dem die arge Rede ging. Als er nach dem Grund seiner Wahl befragt wurde, antwortete er: »Vom Hochmütigen spricht Gott: ›Ich und er können nicht zusammen in der Welt verweilen‹9.« Und wenn der Heilige, gesegnet sei Er, bei ihm keinen Platz hat, wie sollte ich ihn haben? Dagegen heißt

es in der Thora: ›… er bei ihnen wohnt inmitten ihrer Unreinheiten‹.10 Und wenn Gott da Herberge nimmt, wie sollte ich es nicht?«11

Diese Erzählung behandelt ein klassisches Motiv aller religiösen Traditionen. Vor dem Himmel ist der auf seine »Reinheit« Stolze immer schlechter angesehen als der Sünder, der um seine Schwäche weiß und um den rechten Weg ringt. Es scheint so zu sein, dass der Stolz, ein »Reiner« zu sein, einen solchen Schatten auf die Seele wirft, dass es ihr nicht möglich ist, das Himmelstor damit zu durchschreiten.Nur wer in Bescheidenheit und Demut den Weg ins Licht sucht, der wird Aufnahme finden, und die Engel des Allerhöchsten werden ihm voller Liebe seinen Weg erhellen.


9 talmudisch (Sota 5a)

10 Leviticus 16,16

11 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 43)

Vom Storch

Der Jehudi wurde gefragt: »Der Talmud erklärt, der Vogel Storch heiße deshalb im Hebräischen Chassida, die Fromme oder Liebreiche, weil er den Seinen Liebe erweise. Warum wird er dann aber unter die unreinen Vögel gerechnet?« Er gab zur Antwort: »Weil er nur den Seinen Liebe er­weist.«12

Die Chassidim lehnten die alte Überlieferung nicht ab, wonach Gott mit dem Volk Israels einen besonderen Bund geschlossen habe, nur leiteten sie daraus keine Überheblichkeit und keine Exklusivität ab. Jeder Mensch war ein Kind Gottes, und wer glaubte, ein besonderes Kind‹ Gottes zu sein, der hatte die Botschaft völlig falsch verstanden. In allen Geschöpfen wirkt der »verborgene Seelenfunken«, den es zu erlösen und ins »Paradies« zurückzuführen galt. Es gibt keine Seelenfunken erster oder zweiter Ordnung. Vor dem Antlitz des Allerhöchsten waren »alle Geschöpfe Störche«!


12 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 48)

Die Erscheinung

Rabbi Meir von Primischlan erzählte: »In meiner Jugend sehnte ich mich sehr, dass mir Elija er­scheine. Als ich es meinem Vater sagte, beschied er mich: ›Lerne nur eifrig, so wirst du ihn sehen‹. Vier Wochen lernte ich von früh bis spät. Dann sagte ich es wieder meinem Vater. ›Geh lernen!‹, antwortete er. Einst saß ich im Lehrhaus über einem Buch, da kam ein Mann in Lumpen herein, ein schweres Bündel auf den gebeugten Schultern, das Gesicht ganz vom wirren Haupt- und Barthaar bedeckt. ›Darf ich hier meine Last abladen und von meinem langen Weg ausruhn?‹, fragte er. ›Lie­ber Jude‹, sagte ich, ›dies ist keine Herberge.‹ Er wiederholte: ›Ich bin müde von meinem langen Weg‹. Aber ich gab nicht nach, er musste von dannen ziehn. Bald danach trat mein Vater ins Lehrhaus. ›Hast du Elija gesehen?‹, sprach er.«13

13 (aus: Hundert chassidische Geschichten, S. 72)