»In der Nicht-Saison ist Salzburg, wie jedermann weiß, bezaubernd. Jetzt ist Saison.«
Alfred Polgar
Das soll Salzburg sein? Haufenweise Steine, Pflastersteine, Ziegelsteine, auch jede Menge von prächtigen Marmorquadern, gewiss – aber dazwischen überall Gras. Als der Komponist Franz Schubert 1825, Mozart ist da längst tot, aus der brodelnden Weltmetropole Wien in die Stadt an der Salzach kommt, bemerkt er zweierlei: die »unaussprechliche Schönheit« Salzburgs zum einen, und zum anderen die fast unheimliche Stille, die hier herrscht. Nicht nur viele Salzburger Häuser stünden leer, schreibt der verblüffte Schubert seinem Bruder, sondern auch die meisten Plätze der Stadt: »Zwischen den Pflastersteinen wächst Gras, so wenig werden sie betreten.«
Wer heute versucht, sich während der Festspielsaison mühsam einen Weg durch die Salzburger Getreidegasse oder durch das Touristengewimmel auf den Plätzen der Altstadt zu bahnen, kann angesichts dieses Briefes nur zu einem Schluss kommen: Der Schubert spinnt! Außerdem wird er einfach die falsche Jahreszeit für seine Salzburg-Visite erwischt haben, oder auch nur die falsche Tageszeit, halb vier Uhr früh womöglich, nach einem ausgiebigen Weingelage; da kann einer leicht sogar mitten in Salzburg das Gras wachsen sehen …
Und doch ist Schuberts merkwürdiges Salzburg-Erlebnis kein Einzelfall. Ein anderer Wiener Besucher, der schriftstellernde Arzt Josef Schulte, zeichnete zwanzig Jahre vorher exakt das gleiche Bild von Salzburg: »Stille und Öde auf den Hauptplätzen der Stadt; Gras, das vor den Palästen zwischen den Quadersteinen des Pflasters hervorwächst.«
Heute meldet das Salzburger Fremdenverkehrsamt deutlich mehr als zwei Millionen Übernachtungen jährlich; auch seit die Zweimillionengrenze im Jahr 2006, als die Stadt den 250. Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes Wolfgang Amadeus feierte, erstmals deutlich überschritten wurde, steigt sie Jahr für Jahr weiter an. Ebendort, wo die Touristen des vorletzten Jahrhunderts die große Stille verspürten, führen 130 staatlich konzessionierte Fremdenführer Jahr für Jahr 800 000 Neugierige durch die Straßen. Fast eine halbe Milliarde Euro setzt allein die Tourismusindustrie der Stadt Salzburg pro Jahr um, vom Umland ganz zu schweigen. Und die amtliche Tourismuswerbung jubelt: »Salzburg ist nicht nur die Stadt der Festspiele und ein Treffpunkt für Größen aus Film und Fernsehen, sondern auch ein einzigartiges Einkaufszentrum.«
Da haben wir es bereits, das permanente Salzburger Dilemma: Ein Teil der Besucher, wenn auch möglicherweise der kleinere, wünscht sich nichts so sehr zurück wie die alten Zeiten, um sich in aller Ruhe der Schönheit dieser Stadt, der nahezu unglaublichen Fülle ihrer Sehenswürdigkeiten widmen zu können. Die anderen Touristen, denkt er (wie wir kulturell interessierten Entspannungstouristen halt so denken), können ihm dabei getrost gestohlen bleiben. Der andere Teil aber kommt gerade hierher, weil auch alle anderen kommen, weil hier also garantiert etwas los ist.
Wem soll man es da recht machen? Da trifft es sich, dass die Salzburger Festspiele so gut wie alle Bühnenkünste umfassend präsentieren – bis auf eine: das Ballett. Dafür sind hier nicht die Künstler zuständig, sondern die Politiker und die Fremdenverkehrsfunktionäre. Und zumindest in der Kunst des Spagats haben die es nach mittlerweile hundertjähriger Übung bemerkenswert weit gebracht. Ohne eine Miene zu verziehen, kommen sie auch den gegensätzlichsten Ansprüchen ihrer lokalen Wähler wie ihrer internationalen Touristenkundschaft aufs Bereitwilligste entgegen, indem sie deren jeweils einem Teil exakt das versprechen, was der jeweils andere um keinen Preis will.
Salzburg soll sich dem Zeitgeist öffnen und sich als moderne Metropole präsentieren? Aber gerne, der städtische Flughafen heißt eh schon Airport, die seit Langem leidlich Englisch sprechenden Busfahrer absolvieren mittlerweile auch eine Elementarausbildung im Japanischen, die unübersichtlich vielen altösterreichischen Arten, im Café einen Kaffee zu bestellen, wurden weitgehend auf die global üblichen drei Grundformen (Espresso, Cappuccino und White Coffee) zurückgeführt. Und auch die Zukunft geht man beherzt an. Marketingspezialisten haben soeben entdeckt, dass es tatsächlich noch die eine oder andere Woche im Kalender gibt, in der kein Event die Aufmerksamkeit der Welt an die Salzach lenkt. Das lässt sich ändern; spätestens das aus gegebenem Anlass nahezu lückenlos mit Salzburger Hypes zugepflasterte Mozart-Jahr 2006 hatte da Maßstäbe gesetzt, deren Trend zur Gigantomanie sich auch in der Folge nicht umkehren ließ.
Andererseits aber: Salzburg soll sich der grässlichen Hektik des Zeitgeists entgegenstellen, sich stattdessen auf seine bodenständigen Traditionen besinnen und im gleichmacherischen Strom des Massentourismus eine Zufluchtsstätte für alle diejenigen bilden, die nicht auf materielle und kulturelle Schnäppchenjagden aus sind, sondern auf individuelles Lebensgefühl und auf Entspannung. Aber ja doch, bittschön; seit vielen Jahren schon setzt die Stadt auf den Trend zum sanften Tourismus. Und die einheimischen Lokalpolitiker kämpfen ohnehin um nichts lieber als um die Bewahrung von Salzburgs Eigenständigkeit und um die Erhaltung, ja wenn möglich sogar die Wiederbelebung gewachsener kultureller Strukturen. Und was schließlich den Zeitgeist betrifft: Bemühen sich nicht sogar die für die Festspiele Verantwortlichen immer wieder um Programme und Künstler, die beherzt Breschen schlagen in den Mainstream der oberflächlichen Konsumgesellschaft?
Kurzum, es ist die Quadratur des Kreises, die die Salzburger sich stets aufs Neue zumuten. Die Behauptung, dass ihnen das immer und überall gelingt, wäre übertrieben. Doch immerhin den Spagat, den Salzburg seinen unzähligen Bewunderern zuliebe vollführt, bringen zur Not und Salzburg zuliebe auch wir Bewunderer noch fertig. Genau genommen bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf Schritt und Tritt hingerissen zu sein von dieser Stadt – und oft genug dabei spöttisch den Mund zu verziehen oder gar entsetzt die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen angesichts der Eskapaden, die dieses Salzburg sich leistet oder die es seinen Gästen widerstandslos durchgehen lässt.
»Ich war auch in Salzburg«, erzählt uns ein begeisterter Besucher. »Und war auch im Café Bazar und trank eine ›Teeschale Kaffee mit Schlag‹, und sah zu, wie der junge Thimig der Lady Diana, der ›Mirakel-Madonna‹, die Hand küsste.« – Wie, das kannten Sie noch nicht, den Beinamen »Mirakel-Madonna« für die selige Lady Diana? Das liegt daran, dass zwar die Salzburger Festspiele einmalig sind, nicht aber die Lady Dianas, die sie besuchen, und nicht die Zaungäste, die die Prominenten bestaunen: Die gerade zitierte Mitteilung stammt aus dem Jahr 1926; sie bildet den Auftakt zu einer Glosse des damals zum Kreis der expressionistischen Avantgarde gehörenden deutschen Schriftstellers Georg Britting. Die Diana, die Britting damals zu Gesicht bekam, hieß mit vollem Namen Lady Diana Manners und darf mit vollem Recht als Vorgängerin, vielleicht sogar als unerreichtes Vorbild der rund siebzig Jahre späteren Lady Di bezeichnet werden. Und, was kaum jemand weiß: Sogar den Spitznamen »Lady Di« hat die spätere Diana von der früheren übernommen.
Diana Manners, jüngste Tochter des Herzogs und der Herzogin von Rutland, galt weltweit nicht nur als schlechthin schönste, sondern auch als eine der gescheitesten und obendrein emanzipiertesten Frauen der Zwanzigerjahre. Mit anderen Worten: Diana Manners war der Popstar ihrer Zeit, verehrt und bewundert auch in allerhöchsten Kreisen. Sämtliche Junggesellen des europäischen Hochadels waren hinter Lady Diana Manners her, berühmte Schriftsteller wie Evelyn Waugh himmelten sie hoffnungslos an, während sie als Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Femina sowohl die Adeligen wie die Schriftsteller in ironischen Glossen aufs Korn nahm. Nicht nur ihre Familie hatte auf eine Verlobung der damaligen Lady Diana mit dem damaligen Prince of Wales gehofft. Stattdessen heirate Diana Manners 1920 den Diplomaten Duff Cooper, ohne allerdings deswegen ihr eigenständiges und mitunter ziemlich extravagantes Leben aufzugeben. Übrigens tat das ihrer Gesundheit recht gut: Als die junge Lady Diana Spencer 1981 Prince Charles heiratete, bekam die alte Lady Di – mittlerweile eine Vicounte of Norwich – das noch mit; sie starb erst 1986, im Alter von 96 Jahren.
Wirklich extravagant (wenn auch, was die Höhe der Eintrittspreise angeht, nicht ganz so exklusiv wie heute) waren damals freilich nicht nur manche Gäste, sondern die Salzburger Festspiele selbst. Max Reinhardt, der längst auch international gefeierte Regisseur und Mitbegründer der Festspiele, engagierte für seine 1923 am Broadway entstandene Inszenierung seines Stückes »Das Mirakel« – einer Art von vorweggenommenem Musical, in dem die Madonna für einen Ritter in den Zweikampf zieht – die prominente Laiendarstellerin Lady Diana Manners als Madonna, und importierte die bejubelte Aufführung zwei Jahre später nach Salzburg inklusive der Lady Diana, die dort, hier schließt sich der Kreis, mit Richard Demel nun einen weiteren Dichter zum Kreis ihrer Bewunderer hinzufügte.
Es lässt sich eine Menge lernen aus jener amüsanten Geschichte, nicht nur über die kesse Verbindung von Kultur und PR, die das Image der Festspiele von Beginn an prägte, sondern auch – und jetzt müssen eventuelle Salzburger Leser ganz, ganz tapfer sein – darüber, dass es zumindest in den so wichtigen ersten Jahren so gut wie nichts spezifisch Salzburgerisches im Programm der Festspiele gab. Das gilt verblüffenderweise auch für das Drama, das in aller Welt als das Salzburger Originalstück schlechthin gilt: Mit Hugo von Hofmannsthals »Jedermann« wurden am 22. August 1920 zwar tatsächlich die ersten Salzburger Festspiele eröffnet. Nur handelte es sich dabei keineswegs um die Uraufführung des »Jedermann«; genau genommen konnte, auch wenn die offizielle Festspielchronik davon nichts wissen mag, nicht einmal von einer Neuinszenierung die Rede sein.
Die Wahrheit ist: Der berühmte Salzburger »Jedermann« war damals längst zum Publikumshit in Berlin geworden, wo Reinhardt das »Stück vom Sterben des reichen Mannes« schon 1911 am Deutschen Theater inszeniert und es 1919 für die Aufführung in einer umgebauten Berliner Zirkusarena neu einstudiert hatte. Jene »Zirkus«-Inszenierung war es auch, die Reinhardt dann nach Salzburg mitbrachte, weitgehend unverändert und mit den Hauptdarstellern der Berliner Aufführung, allen voran Alexander Moissi (als damals immer noch prominentester Schauspieler auch so ein Popstar jener Jahre) als Jedermann.
Wir wollen die lange Geschichte der Salzburger Festspiele hier jetzt nicht nacherzählen; wer mag, kann sich in zahlreichen Büchern darüber informieren. Allerdings hat es ziemlich lange gedauert, bis auch jene dunkle Festspielepoche genau untersucht wurde, die nicht erst mit dem Einmarsch der deutschen Naziarmee im Jahr 1938 begann (Max Reinhardt verließ Österreich ahnungsvoll schon im November 1937) und allem Reden von einer »Stunde null« zum Trotz auch mit der deutschen Niederlage 1945 noch nicht völlig zu Ende ging. Wer beispielsweise erfahren will, wie sich die bis heute als Salzburger Pioniere gefeierten Musiker Wilhelm Furtwängler und Richard Strauss 1934 auf Geheiß des deutschen Propagandaministeriums von den Festspielen zurückzogen, um dann 1938 triumphal wiederzukehren, welchen Pressionen der antifaschistische Dirigent Arturo Toscanini, der sich aus Protest gegen Hitler seinerseits aus Bayreuth nach Salzburg gewandt hatte, dort zunehmend ausgesetzt war oder wie vieler Verrenkungen es bedurfte, um nach dem Krieg die vor den Nazis geflohenen Künstler mit deren ehemaligen Günstlingen wieder zusammenzubringen, sollte das 2005 – sozusagen gerade noch rechtzeitig zum Mozart-Jubiläum – erschienene Buch des österreichischen Autors Andreas Novak lesen, das als Titel einen Satz trägt, den François Mauriac 1937 geprägt hat: Salzburg hört Hitler atmen. Das stimmte übrigens fast wörtlich: Der Obersalzberg, Hitlers Privatresidenz, liegt ja tatsächlich nur ein paar Steinwürfe entfernt von der Salzburger Grenze.
Und weil wir gerade bei Büchern sind: Einen zugleich kritischen und höchst lebendigen Überblick über Vorgeschichte und Geschichte der Salzburger Festspiele gibt, gewissermaßen als beabsichtigte Nebenwirkung, auch Andres Mürys kleines feines Buch Jedermann darf nicht sterben, das sich eben nicht nur auf die »Jedermann«-Aufführungen von 1919 bis heute konzentriert, sondern auch stets das jeweilige Salzburger Drum und Dran mitkommentiert.
Ja aber, hören wir jetzt die Salzburg-Fans aus aller Welt fragen, ist denn das Allerwichtigste an den Festspielen nicht die Kunst, und ganz besonders die Musik? Keine Sorge: Auch wenn wir diese Frage allenfalls mit einem herzhaften »Schön wär’s!« beantworten würden – wir drücken uns um die Musik schon nicht herum. (Ungeduldige können hier gleich in unserem Mozart-Kapitel weiterlesen.) Ansonsten aber, wie wäre es, wenn wir die Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Salzburger Festspiele einer Frau überließen, die es nun wirklich wissen muss, nämlich der langjährigen Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler, die mittlerweile auch für die Festspielfinanzen allein zuständig ist? Sie bringt die Sache so auf den Punkt: »Die Festspiele erzeugen direkt und indirekt einen wirtschaftlichen Nutzen von 160 Millionen Euro. Das Produkt Festspiele stimmt.«
Wir lernen daraus: Auch in der Kunst, zumindest in der Festspielkunst, sind feinsinnige Interpretationsfragen oder hitzige Spielplandiskussionen (Mehr Neues? Oder doch lieber mehr von den alten Meistern?) sehr viel unwichtiger als ökonomische Basisdaten. Nicht Beethoven oder Wagner oder Verdi, ja nicht einmal Mozart heißt deshalb der wahre Überbegriff der Salzburger Festspiele, sondern: Umwegrentabilität. So nennt man das, wenn Leute ihr Geld an einem Ort ausgeben, den sie eigentlich einer ganz anderen Sache zuliebe aufgesucht haben. Wir kennen das alle aus Kaffeeröstereiketten: Man betritt sie, weil einem die Kaffeebohnen ausgegangen sind, und verlässt sie mit einer Sommersteppdecke, einem Handy oder gar einem günstigen Laptop in der Einkaufstasche. Nach exakt diesem Prinzip funktionieren die Salzburger Festspiele, und das ganz ausgezeichnet: Wir auswärtigen Besucher kommen wegen Mozart oder Puccini oder einer zeitgeist-fetzigen Theateraufführung hierher, und geben pro Tag – Opern- und Konzertkarten nicht mitgerechnet! – durchschnittlich rund 260 Euro in Salzburg aus.
Was aber für die Stadt gut ist, kann auch dem ganzen Land Salzburg nicht schaden. Deshalb beschränken sich viele Städte und Gemeinden in den fünf Gauen des Salzburger Landes – Flach-, Tennen-, Pinz-, Pon- und Lungau, wir werden sie alle nach und nach kennenlernen – nicht darauf, touristische Umwege der Salzburger Festspielbesucher auch für sich rentabel zu machen, sondern erfinden nach Herzenslust eigene Festspiele. Nicht immer klappt das so ausgezeichnet wie beim vielleicht kleinsten dieser Salzburger-Land-Festivals, den Neukirchner Sommerfestspielen. Die haben sich in einem Pinzgauer Ort aus den Aktivitäten einer Theatergruppe entwickelt, die sich unter ironischer Anspielung auf ihre überschaubare Größe »m²-Kulturexpress« nennt.
Es spielen dabei ausschließlich Laiendarsteller, doch mit der Heimattümelei sogenannter »Bauernbühnen«, wie sie auch im Salzburger Land zu Dutzenden auftreten, mag die von Charly Rabanser 1980 gegründete und seither geleitete Truppe ausdrücklich nichts zu tun haben. Stattdessen setzt sie sich in ihren Inszenierungen immer wieder mit der oft genug gefährdeten oder schon gestörten Realität ihrer ländlichen Umwelt auseinander. Mittlerweile stehen 52 Produktionen und fast 900 Aufführungen in der Neukirchner »m²«-Bilanz. Und wie die großen Festspiele in Salzburg, haben es die kleinen in Neukirchen dabei mit der lokalen Politik und der einheimischen Geschäftswelt nicht immer ganz leicht gehabt. Als zum Beispiel im Juni 2004 Felix Mitterers höchst kritisches Dorfstück »Kein Platz für Idioten« auf dem Spielplan stand, kam es, wie sich Charly Rabanser erinnert, »zur großen Verstimmung innerhalb der Gemeinde«.
Am Ende haben sich aber wie immer die Wogen geglättet; schließlich wissen die Neukirchner ganz gut, was sie an ihrem immer wieder neues, auch junges Publikum anziehenden Theater haben, und nicht nur sie allein: »Das Land Salzburg ist stolz auf diese wirklich hervorragende Kulturstätte im Pinzgau«, sprach zum 25-jährigen »m²«-Jubiläum der Salzburger Kulturreferent – und der ist doch schon von Berufs wegen ein ausgewiesener Experte in Festspielfragen.
Bevor wir aber jetzt der Versuchung erliegen, uns ausgerechnet auf der Festspielspur weiter in den schönen Pinzgau hineinlocken zu lassen (das mittlerweile hübsch arrivierte Tauriska-Festival im und beim unglücklichen, weil immer wieder von der Salzach überschwemmten Mittersill wäre so eine Verlockung), versuchen wir erst einmal, die kleine Welt- und große Provinzstadt Salzburg ein wenig näher kennenzulernen.
Wohin auch immer Sie in Salzburg gehen wollen, was immer Sie hier vorhaben, und ganz gleich, ob Sie der Stadt einen mehrtägigen Besuch oder nur eine halbtägige Stippvisite widmen: An der Getreidegasse, die (wenn auch unter wechselnden offiziellen Straßennamen) das gesamte historische Stadtzentrum zwischen Hohensalzburg und Salzach in West-Ost-Richtung durchquert, führt kein Weg vorbei. Weil auch die Salzburger Geschäftsleute wissen, dass ihnen hier kein einziger Tourist auskommt, präsentieren sich die beiden Seiten der schmalen Getreidegasse als buchstäblich lückenloses Spalier von Läden, Restaurants, Cafés und Mini-Museen wie Mozarts Geburtshaus, auf das wir später zu sprechen kommen werden, oder einem Wachsfigurenkabinett, von dem wir ausdrücklich nicht reden wollen – seine belanglosen Exponate sind den Besuch (und schon gar die hohen Eintrittspreise) nicht wert.
Zugegeben, eine derartige Dichte von Konsuminstitutionen auf so engem Raum trifft man so schnell nicht wieder. Sie werden so gut wie keinen Salzburg-Führer finden, der die Getreidegasse nicht als »Einkaufsparadies« oder dergleichen bezeichnet. Infolgedessen ist die Getreidegasse, Domplatz hin, Hohensalzburg her, für Massen von Touristen (um nicht zu sagen: für Massentouristen) zur eigentlichen Hauptattraktion Salzburgs geworden: Nicht mehr ein Weg, an dem man nicht vorbeikommt, sondern das Ziel, zu dem alle Wege führen. Eine Shopping Mall in pittoresker historischer Kostümierung, das bedeutet: Man kann hemmungslos der Lust am Konsumieren frönen und dabei doch das erhebende Gefühl eines kulturellen Bildungserlebnisses genießen.
Stimmt schon: Die Salzburger Getreidegasse ist wohl die prominenteste Gasse der Welt. Doch von einem Paradies kann hier in Wahrheit längst keine Rede mehr sein, nicht einmal von einem Einkaufsparadies. Die Getreidegasse als exklusiver Boulevard des Luxus und der Moden, dessen Edelläden heiter flanierenden Festspielgästen die Gelegenheit boten, ihre Theater- oder Dinnergarderobe durch ein paar ausgesucht kostbare oder wenigstens hoch originelle Accessoires zu vervollständigen – das ist Jahre und Jahrzehnte her. Längst bilden die wirklich erstklassigen Läden nur noch versprengte Ausnahmen, gleich ob sie hochkarätiges Geschmeide feilhalten oder sündteure Modellkleider aus Mailand und Paris, und über kurz oder lang werden sie ganz verschwunden sein. An ihre Stelle, da geht es in der Salzburger Getreidegasse auch nicht anders zu als in den großen Einkaufsmetropolen dieser Welt, treten immer mehr Boutiquen, Allerweltsshops und Filialen von Imbissketten, die man nur deswegen schlecht als Billigläden bezeichnen kann, weil das alte Nobelimage der Getreidegasse immer noch für gesalzene Preisaufschläge gut ist.
Nun existieren ja, auch wenn man das angesichts der teils aufgeregt schnatternden, teils konsumgestresst depressiv vor sich hin stierenden Gassen-Massen kaum glauben mag, noch andere, sozusagen ideelle Gründe, die einen Gang durch die Getreidegasse zum obligatorischen Punkt eines jeden Salzburg-Programms machen. Ob der Besuch von Mozarts Geburtshaus dazugehört, entscheiden wir später. Und beschäftigen uns erst einmal mit dem städtebaulichen Ambiente der Getreidegasse und ihrer Fortsetzung als solcher. Zugegeben, eine ganz einfache Übung ist das nicht. Denn um das besondere Flair des Straßenzugs zwischen Bürgerspital- im Westen und Waag- beziehungsweise Mozartplatz im Osten wahrzunehmen, müssen wir uns den hier herrschenden Touristentrubel entweder wegdenken, was allerdings nur fortgeschrittenen Zen-Meistern nach mehrjährigem Konzentrations- und Meditationstraining gelingen dürfte (die asiatischen Touristen, die einen Großteil der Salzburg-Besucher stellen, gehören offenkundig nicht in diese Kategorie) – oder aber wir kommen zu den Zeiten hierher, in denen die Massen noch im Anrollen oder schon wieder abgerollt sind, am frühen Vormittag also oder am späten Abend. Wer das schafft, muss sich an die Stille erst gewöhnen; dann allerdings, versprochen, werden ihm die Augen auf- und übergehen.
Schon der erste Anblick der halbwegs menschenleeren Getreidegasse versetzt einen in eine längst vergangene Welt, auch und gerade dann, wenn man die unzähligen Details noch gar nicht als solche wahrnimmt, wenn also das Hinter-, Durch-, Mit- und Nebeneinander von Fassaden und Dächern, Giebeln und Erkern, Portalen und Zunftschildern zu einem im übertragenen Sinn hyperromantischen Gesamteindruck verschmilzt. Mit der eigentlichen Romantik, nämlich mit der erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufblühenden Kunst- und Architekturepoche dieses Namens, hat die Getreidegasse allerdings überhaupt nichts zu tun. Wohl aber mit einer ganzen Reihe von früheren Stilepochen; ja, man kann ohne Übertreibung sagen: Hier finden sich auf wenigen Hundert Metern so gut wie alle Elemente, die Europas Kulturgeschichte zwischen dem hohen Mittelalter (um 1200 n. Chr.) und der Zeit der Aufklärung (im 18. Jahrhundert) geprägt haben.
Gewiss gilt auch hier: Man sieht nur, was man weiß. Wer sich also tatsächlich die Mühe machte, mit einem ausführlichen Kunstführer in der Hand ein paar Stunden lang durch die Getreidegasse zu wandern, würde ohne Zweifel eine Menge von interessanten oder gar aufregenden Details bemerken, an denen er womöglich noch am Tag vorher achtlos vorbeigeschlendert ist – und er würde so wichtige Baustile wie Gotik oder Renaissance, Barock oder Klassizismus danach garantiert nie wieder miteinander verwechseln. Es ist wahr, es gibt kaum einen Platz im alten Europa, an dem sich Architekturgeschichte so rasch und so anschaulich lernen ließe wie in der Getreidegasse. Wahr ist aber leider auch, dass solche Feststellungen dem heutigen Reisenden eher Angst als Lust machen.
Zu viel Bildung im Gepäck? Wir geben es ja zu: Das unüberbietbar umfassende wie unüberbietbar akribische »Dehio«-Kunsthandbuch Salzburg, erschienen im österreichischen Verlag Ferdinand Berger, bringt mit seinen 752(!) Seiten ein gutes Kilo auf die Waage. Und die beiden anderen zuverlässigen Kunstführer aus den Verlagen Reclam und DuMont, die wir zum Thema Salzburg guten Gewissens empfehlen könnten, sind – jedenfalls kurz vor Ausbruch des großen Mozart-Jubeljahres, während dieser Text geschrieben wird – nicht lieferbar.
Freilich, mit solch ehrwürdigen Standardwerken versuchen wir es im Rahmen dieses kleinen Buches gar nicht erst aufzunehmen. Und beschränken uns stattdessen auf ein paar spezielle Hingucktipps für alle die, deren Neugier über die Schaufenster der Getreidegasse hinausreicht.
Eine einfache Faustregel lautet dabei: Die Häuser in der Getreidegasse sind fast immer noch um einiges älter, als sie ausschauen; die allermeisten von ihnen, und damit die Gasse als solche, entstanden zwischen 1200 und 1400, also zur Zeit der Gotik. Was wir von der Straße aus zu sehen bekommen, die Fassaden, die Hauseingänge und deren Verzierungen, stammt in der Regel aus späteren Jahrhunderten.
Auf die Aufmerksamkeit besonders stilbewusster Passanten darf das Modegeschäft in der Getreidegasse 5 rechnen; allerdings gilt das Interesse der wirklichen Kenner weniger dem (zweifellos tadellosen) Textilienangebot im Schaufenster als vielmehr dem hinreißend elegant gearbeiteten Rokokoportal des »Zenzihauses«.
Zuweilen treffen hier in der Getreidegasse bis zu vier Stilepochen an einem einzigen Haus aufeinander. So auch am »Hagenauerhaus«, heute weltberühmt als Mozarts Geburtshaus, in der Getreidegasse Nr. 9 – Sie können’s eh nicht verfehlen, gehen Sie einfach den Japanern nach. Gebaut wurde das Hagenauerhaus kurz vor 1400; zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand das geschwungene Barockportal, das von einem steinernen Medaillon überhöht wird (dreisten Reiseführerlügen zum Trotz ist die darauf abgebildete Heilige, im Salzburger Volksmund »das Schleierweiberl« genannt, keineswegs mit der Mutter des göttlichen Wolferl identisch); wenig später, mittlerweile war die Zeit des Rokoko gekommen, erhielt das ganze Haus eine wunderschöne Fassade, die allerdings nur noch an der (dem Universitätsplatz zugewandten) Rückseite zu sehen ist; auf der Getreidegassen-Seite wurde sie um 1850 durch eine großartig-klassizistisch gemeinte, aber im Ergebnis eher trostlose Schauseite ersetzt – damals gab es entweder noch keinen Denkmalschutz, oder er war schon so leicht korrumpierbar wie heute …
Erhalten geblieben ist Mozarts Geburtshaus allerdings eine Eigenschaft, die auch für viele andere Getreidegassenhäuser typisch ist: Die Fenster werden von Stockwerk zu Stockwerk kleiner, was die Fassaden höher erscheinen lässt als sie in Wirklichkeit sind.
An dieser Stelle kann es nicht verkehrt sein, einen jungen Mann zu erwähnen, dessen ganz große Zeit erst kam, als er Salzburg den Rücken gekehrt hatte. Und doch erinnern die Salzburger sich und ihre Besucher bis heute an ihn. Tausende, während der Hochsaison Zehntausende von Salzburg-Touristen laufen tagtäglich an dem Stadthaus dicht bei der Getreidegasse vorbei, in dem der Jüngling seine ersten Werke schuf. Die Rede ist von – ach so, Sie wissen eh, von wem hier die Rede ist? Wunderbar; dann brauchen wir die Gedenktafel, die an jenem Haus angebracht ist, ja gar nicht erst zu zitieren. Wir tun’s aber trotzdem, und sei’s nur deswegen, weil ein Salzburg ohne Na-Sie-wissen-schon-Wen einfach nicht vollständig wäre. Auf der Gedenktafel also steht: »In diesem Haus arbeitete der deutsche Sozialistenführer August Bebel als Drechslergehilfe 1859 bis 1860.«
Nur für den Fall, dass der eine oder andere an dieser Stelle doch einen anderen Namen erwartet haben sollte: Auf Mozart werden wir schon bald und dann immer wieder zu sprechen kommen. Nur eben nicht jetzt; jetzt haben wir Mozarts Geburtshaus, vor dessen Eingang diesmal gleich vier große Reisegruppen (drei davon aus Japan, eine aus Rest-Asien) aufeinanderprallen, rechts liegen gelassen, sind ein paar Häuser weiter stadteinwärts geschlendert und dann in eine jener Passagen abgebogen, die die Getreidegasse mit dem Universitätsplatz verbinden.
Passagen? Das kann nicht sein. In Salzburg, das weiß jeder Salzburger und auch jeder halbwegs ortskundige Besucher, in Salzburg gibt es keine Passagen – und das, obwohl die Salzburger die Passage als solche wahrscheinlich erfunden haben. Nur eben, sie werden hier nicht Passagen genannt, sondern Durchhäuser, einfach um das ganz Besondere dieser Passagen deutlich zu machen. Worin dieses Besondere besteht? Na eben darin, dass sie Durchhäuser heißen. Der Ton macht die Musik oder, prosaischer ausgedrückt: Der Wortklang beeinflusst nicht nur die Sache, die das Wort bezeichnet, sondern auch unseren Umgang damit.