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FRANZ HOHLER

Gleis 4

Roman

1

»Darf ich Ihnen den Koffer tragen?«

Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden, sie wäre ihrer kleinen Stimme, die sie zu hören glaubte und die ihr zuraunte: »Nicht!« gefolgt, hätte rechtsum kehrtgemacht und schnellen Schrittes ihren Rollkoffer hinter sich hergezogen, bis ins Bahnhofscafé, um der unerwarteten Freundlichkeit eines fremden Mannes zu entgehen. Hinterher lässt sich so etwas gut denken, aber im Moment sprach nichts gegen die Annahme dieser Hilfe.

Isabelle war unterwegs zum Zürcher Flughafen. Sie wollte zwei Wochen in Stromboli verbringen und hatte einen Flug nach Neapel gebucht. Da sie in der Nähe des Bahnhofs Oerlikon wohnte, fuhr sie jeweils von dort aus mit der S-Bahn zum Flughafen. Vorher hatte sie noch in der Apotheke Medikamente geholt und stand nun in der Unterführung, von der aus die Treppen zu den Perrons hinaufführten. Zu spät hatte sie daran gedacht, ganz nach hinten zum Ende der Geleise zu gehen, wo es schräg ansteigende Auf- und Abgänge ohne Treppen gab, und erst als sie die Stufen vor sich sah, die ihr so steil und feindlich vorkamen wie noch nie, merkte sie, wie schwer ihr Koffer eigentlich war, und ärgerte sich, dass ein so stark frequentierter Bahnhof wie dieser immer noch nicht über Rolltreppen verfügte, sondern wie die Provinzstation behandelt wurde, die sie vor hundert Jahren einmal war. Sie hatte eine Operation hinter sich und wusste, dass sie mit dem Tragen von Lasten vorsichtig sein sollte.

Wieso also nicht ja sagen, wenn ein gut gekleideter graumelierter Herr mit einem Bärtchen, der ihr Aufseufzen bemerkt haben musste, sich anerbot, ihren Koffer die Treppe hochzutragen? Sie war knapp dran, wie meistens, wenn sie auf Reisen ging, ihr Zug fuhr in drei oder vier Minuten, und da stand dieser Herr da wie ein Gentleman der alten Schule, dem Hilfsbereitschaft ein nobles und selbstverständliches Gesetz war – kein Grund also, abzulehnen, nichts Falsches, wenn sie »Oh, danke!« sagte.

Und als er die kleine Mappe, die er bei sich trug, von der rechten in die linke Hand wechselte, den Koffergriff anfasste und das Gepäckstück mit einem leichten Ruck hochhob (war er doch etwas erstaunt über das Gewicht?), dabei ein bisschen mit dem herausragenden Zugbügel zu kämpfen hatte, der sich ihm unter die Achsel schob, fragte sich Isabelle, ob sie ihn schon irgendwo gesehen hatte, oder an wen er sie erinnerte.

Aber es kam ihr nur jener Mann in den Sinn, welcher sie und ihre Freundin, die als junge Frauen nach London gereist waren und am Morgen mit einem Stadtplan vor ihrer Hotelpension standen, gefragt hatte: »Can I help you?« Er hatte ihnen den kürzesten Weg zur Westminster Abbey erklärt und war dann weitergegangen.

Diese Freundin erwartete sie jetzt in Stromboli. Sie hatten dort für drei Wochen ein kleines Haus gemietet, in dem sie zusammen ihre Ferien verbringen wollten, doch dann war der Spitalaufenthalt dazwischengekommen, und nun reichte es Isabelle noch für zwei Wochen; die waren ihr zur Erholung von der Operation sehr willkommen.

Gallensteine hatte sie sich entfernen lassen, als die Koliken immer unerträglicher wurden und die medikamentöse Behandlung wirkungslos blieb. Alles war gut verlaufen. Die entfernten Steine hatte man ihr in einem Gläschen überreicht, etwa ein Dutzend waren es, kantige, runde, zentimeterdick vielleicht, sie könne sich ja, hatte Isabelle mit der Krankenpflegerin gescherzt, eine Halskette daraus machen lassen, aus Gallenperlen, das wäre doch etwas Neues. Natürlich war sie froh gewesen, dass beim Eingriff nichts Bedrohliches entdeckt worden war, und nach einer schonend verbrachten Woche zu Hause fühlte sie sich der Reise gewachsen und freute sich darauf.

Sie stieg hinter dem unverhofften Helfer die Treppe hoch, öffnete dazu die Handtasche, um sich zu versichern, dass die Fahrkarte und der Beleg für ihre Buchung darin waren und nickte, als sich der Herr umdrehte und sie fragte: »Zum Flughafen?« Auf Gleis 5 war die S-Bahn nach Rapperswil angekündigt, auf Gleis 4 diejenige nach Effretikon via Flughafen.

Der Mann rollte den Koffer zum Rand des Bahnsteigs, ließ ihn stehen und machte eine galante Geste zu Isabelle hin. »Vielen Dank«, sagte sie, »das war aber sehr nett.« Der Angesprochene nickte lächelnd, doch anstatt den Kopf wieder hochzuheben, ließ er ihn auf die Brust sinken, hielt sich einen Moment am Kofferbügel fest und fiel dann der Länge nach hin. Sein Schädel schlug mit einem bösen Geräusch auf dem Boden auf, und er blieb mit geöffnetem Mund und geschlossenen Augen liegen. Der eine Arm ragte ein bisschen über die Bahnsteigkante hinaus, auch die Mappe wäre beinahe auf das Geleise hinuntergefallen.

Isabelle entfuhr ein Schreckenslaut, sofort eilten einige Leute herbei, Isabelle kniete neben dem Mann nieder und beugte sich zu seinem Gesicht. »Hallo, hören Sie mich?« fragte sie ihn. Er öffnete seine Augen, die irgendwohin ins Weite schauten, und als er auf ihren Blick traf, sagte er leise: »Bitte …« Der einfahrende Zug pfiff, als erschrecke er selbst, und jemand ergriff schnell die Hand des Mannes und legte sie ihm auf seine Brust. Eine Frau nahm die Mappe von der Perronkante auf und stellte sie auf Isabelles Koffer.

Ein junger Mann mit pomadisierten Haaren rief auf seinem Handy die Ambulanz. Ein anderer rannte die Treppe hinunter zum Bahnhofsgebäude hinüber. Zwei asiatische Touristen hasteten am Verletzten vorbei auf die S-Bahn, die ungerührt und pünktlich abfuhr.

Isabelle erkannte den Tod sofort. Sie war Stationsleiterin in der Pflegeabteilung eines Altersheims und hatte schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Sie suchte den Puls des Unbekannten, fühlte keinen mehr, hielt ihr Gesicht so nahe wie möglich an seinen Mund, ohne einen Atemzug zu spüren, öffnete ihm dann unverzüglich das Hemd und versuchte es mit einer Herzmassage, aber sie merkte, dass sie keine Chance hatte, ihn zurückzuholen.

Zwei Bahnangestellte kamen mit einem weißen Zelt, fragten in die Runde, ob jemand die Ambulanz benachrichtigt habe. Der junge Mann bejahte, und dann fragten sie Isabelle, ob sie fachkundig sei. »Ausgebildete Pflegefachfrau«, sagte sie kurz, während sie mit der Massage fortfuhr, und die Bahnangestellten richteten ihr Zelt über ihr und dem Liegenden auf und baten die Leute, weiterzugehen.

Die Rettungssanitäter, die nach zehn Minuten eintrafen, hatten einen Defibrillator, einen Beatmungsbeutel mit Sauerstoff und ein Infusionsbesteck dabei, aber Isabelle winkte ab, sie hatte die Massage schon abgebrochen. Eine Ärztin aus der Permanence-Praxis gleich beim Bahnhof, die ebenfalls von jemandem gerufen worden war, stellte den Tod des Mannes fest. Sie sagte zu Isabelle, dass es ihr sehr leidtue und fragte sie, wie es denn genau passiert sei. Er habe ihr den Koffer die Treppe hochgetragen und sei dann kollabiert, sagte sie. Ob er Herz- oder Kreislaufbeschwerden gehabt habe, fragte die Ärztin weiter, und war etwas erstaunt, als Isabelle zur Antwort gab, sie habe keine Ahnung, und dann erst hinzufügte, dass sie sich gar nicht kannten.

Nun betraten zwei junge Streifenpolizisten das Zelt und ließen sich über das Geschehene informieren. Draußen ging der Normalbetrieb weiter, Züge hielten an, Leute stiegen aus und ein, manche blieben neben dem Zelt stehen und versuchten einen Blick ins Innere zu werfen. »Sicher ein Selbstmord«, war einmal zu hören, oder »Nein, es ist einer zusammengebrochen«, Mutmaßungen, die sich über das Geräusch der aufsetzenden Schuhe legten, das bei der Ankunft eines Zuges dem Trampeln einer Schafherde glich, Durchsagen ertönten, »Achtung, Zugdurchfahrt auf Gleis 5!«, gefolgt vom Lärm eines vorbeibrausenden Schnellzuges, der jedes Gespräch zudröhnte.

Der eine der Polizisten kniete nun nieder und griff dem Toten in die Jacke seines Anzugs, auf der Suche nach einer Brieftasche oder einem Kreditkartenetui oder sonst etwas, aus dem sich seine Identität ablesen ließe. »Seltsam«, sagte er, nachdem er alle Taschen abgesucht hatte, »gar nichts, kein Ausweis«. Er bat die Sanitäter, den Mann etwas zur Seite zu drehen, sodass er ihm sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche ziehen konnte, doch da war auch kein Portemonnaie. In der rechten Hosentasche fand sich ein kleiner Schlüssel und ein weißes Taschentuch mit einem blauen Rand und den Initialen M B. »Das ist nicht gerade viel«, sagte er, während sein Kollege, dem er den Schlüssel gegeben hatte, sagte, »kopierfähig«. Ein Allerweltsschlüssel also. Ob er nichts bei sich gehabt habe, Gepäck oder so, fragte er, doch Isabelle war nicht in der Lage, wirklich hinzuhören, und von den Zufallspassanten war niemand mehr da.

Und sie habe ihn also nicht gekannt, wandte sich einer der Polizisten nun an Isabelle. Nein, sagte diese und musste nochmals erzählen, was vorgefallen war, und obwohl sie beteuerte, sie habe mit dem Verstorbenen nicht das geringste zu tun, wollte er ihre Personalien, ihre Adresse mit E-Mail, Telefon und Handy-Nummer sowie die Nummer ihres Arbeitgebers wissen und bat sie, sich noch für eine Befragung zur Verfügung zu halten.

Dann sprachen fast alle gleichzeitig. Die Sanitäter fragten, ob sie aufbrechen konnten oder ob sie den Toten gleich in die Gerichtsmedizin bringen sollten, die Ärztin wollte wissen, ob der Totenschein vom Amtsarzt erstellt werde, der eine der Polizisten versuchte diesen zu erreichen, der andere informierte die Fahndungsabteilung und fragte nach einem Bezirksanwalt, und als auf Gleis 5 wieder ein Schnellzug durchdonnerte und alle ihre Stimmen anhoben und sich die telefonierenden Polizisten mit einer Hand das freie Ohr zuhielten, nahm Isabelle ihren Rollkoffer und verließ unbemerkt und ohne sich zu verabschieden das Zelt.

Auf Gleis 4 war der nächste Zug zum Flughafen angekündigt, er kam zwei Minuten später, und Isabelle stieg ein. Erst als sie drin war, merkte sie, dass die kleine Mappe noch auf ihrem Koffer lag. Unmut stieg in ihr auf, und da sie ihren Flug nicht verpassen wollte, ging sie nicht nochmals zurück ins Zelt, sondern öffnete den Reißverschluss ihres Koffers und schob die Mappe hinein.

Wie viel Zeit sie mit dem Zwischenfall verloren hatte, wurde ihr erst klar, als man ihr am Check-in-Schalter bedauernd sagte, ihre Maschine sei bereits gestartet.

2

Isabelle saß an ihrem Küchentisch, hob das Säcklein mit dem Verveinetee aus der Tasse, wusste nicht, wohin damit, stand auf und legte es auf das Abtropfbrett der Spüle, setzte sich, sah die Tropfspur auf dem Tisch, stand wieder auf und riss ein Haushaltpapier von der Rolle, wischte die Tropfen auf, zerknüllte es und legte es neben sich, rührte mit dem Löffel den Zucker um und nahm dann einen Schluck.

Eigentlich müsste sie jetzt in Neapel sein, unterwegs zum Hafen, wo die Aliscafi nach den Liparischen Inseln anlegten. Am Schalter der Airline hatte sich herausgestellt, dass die nächsten möglichen Flüge alle entweder über Frankfurt, Amsterdam oder Paris gingen, mit langen Wartezeiten, und Neapel so spät erreichten, dass sie dort übernachten müsste und erst tags darauf ein Boot nehmen könnte. Dazu fühlte sie sich nicht in der Lage und hatte sich von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Schon nur der Gedanke, zuerst nordwärts fliegen zu müssen, um in den Süden zu gelangen, hatte sie entmutigt.

Dann war sie nochmals zum Bahnhof gegangen.

Das Zelt war noch da, und einer der jungen Polizisten stand davor und war sehr froh, sie zu sehen. Er hätte sie nicht gehen lassen dürfen, sagte er und bat sie in das gläserne Wartehäuschen auf dem Perron, aus dem er ein älteres Paar hinausschickte. Als er sich entschuldigte und sagte, das sei eben sein erster AGT, tat er Isabelle fast ein bisschen leid. Was denn ein AGT sei, fragte sie. Ein außergewöhnlicher Todesfall, und dann musste sie nochmals erzählen, wie sich dieser genau abgespielt hatte. Der Polizist schrieb auf einem Formular mit, das er auf einer Mappe auf den Knien hatte, ihre Personalien waren schon eingetragen, die Leute, welche draußen auf ihre Züge warteten, warfen neugierige Blicke hinein, und zuletzt unterschrieb Isabelle das Befragungsprotokoll.

Nun saß sie wieder zu Hause und nahm nochmals einen Schluck Tee. Auf einmal war sie unglaublich müde. Der Schrecken über den plötzlichen Tod, mit dem sie so unselig verkettet war, die Aufregung und die Enttäuschung über den verpassten Flug ließen sie spüren, dass ihre Gesundheit doch noch nicht so robust war, wie sie sich erhofft hatte. Wieso hatte sie den Ausdruck »postoperativ«, den sie in ihrem Beruf so oft benutzte, nicht auf sich selbst anwenden wollen? Auf einmal kam ihr die geplante Reise, auch wenn sie diese einfach um einen Tag verschieben würde, als krasse Überforderung vor. Was sie brauchte, war eine ruhige Zeit ganz in der Nähe, in Braunwald in den Glarner Bergen, oder am Vierwaldstättersee, in Weggis vielleicht, aber wenn sie schon nur an das Rütteln eines Tragflügelbootes bei unruhigem Wellengang dachte, wurde ihr halb schlecht.

Sie nahm die Tasse, stellte sie in ihrem Wohnzimmer auf den kleinen Glastisch und legte sich mit einem Seufzer, der schon fast ein Stöhnen war, auf die Couch. Sie schloss die Augen und atmete tief. Gleich würde sie ihre Freundin anrufen müssen, und sie würde ihr nicht sagen, dass sie erst morgen komme, weil sie ihren Flug verpasst habe, sondern sie würde ihr sagen, dass sie überhaupt nicht komme.

Als sie wieder erwachte, war es späterer Nachmittag, und sie brauchte eine Weile, um sich wieder zurechtzufinden. Sie war es nicht gewohnt, tagsüber zu schlafen und hatte einen schweren Kopf. Im Badezimmer ließ sie das Wasser aus dem Hahn laufen, bis es ganz kalt war, hielt dann beide Hände darunter und kühlte sich damit das Gesicht. Danach rieb sie sich mit einem Frottiertuch trocken und schaute sich im Spiegel an.

Sie sah eine Frau zwischen vierzig und fünfzig, mit schwarzem Kraushaar, blauen Augen, einer Stupsnase und ganz leichten Sommersprossen. Mit diesem Gesicht war Isabelle durchaus zufrieden; überhaupt gefiel sie sich so, wie sie war, außer dass sie gern ein paar Kilo weniger gehabt hätte. Im Übrigen wurde sie öfters jünger eingeschätzt, dabei hatte sie eine 22jährige Tochter.

Was ging in einem Mann vor, der dieser Frau im Spiegel behilflich sein wollte? Wollte er sich bei ihr einschmeicheln? Wollte er sie kennenlernen? Wäre er mit ihr zum Flughafen gefahren? Hätte er sie um ihre Adresse gebeten? Oder wollte er einfach ohne jeden Hintergedanken freundlich sein und der Frau, die mit einem Koffer etwas hilflos am Fuß einer Treppe stand, einen Dienst erweisen? Denn dass sie eine Frau war, spielte zweifellos mit, er sah aus wie jemand, der einem auch in den Mantel helfen würde, jemand, der über Umgangsformen verfügte und der mit Vergnügen in die alte und heute etwas vergessene Rolle des Gentleman schlüpfte.

»Hätte ich mir, wenn ich ein Mann wäre, auch geholfen?« fragte sich Isabelle, merkte jedoch, dass ihre Vorstellungskraft bei dieser Frage versagte. Tatsache war, ihr hatte jemand geholfen, ein fremder Mann, und war dann oben auf der Treppe tot zusammengebrochen. Hatte er sich mit dem Gewicht des Koffers zu viel zugemutet? Aber so schwer war dieser nun auch wieder nicht, ohne ihre Operation hätte sie das locker geschafft. Wäre der Mann auch gestorben, wenn er ihr nicht den Koffer getragen hätte? Ein Herzversagen, wenn es denn das war, kommt ja nicht aus dem Nichts, das baut sich auf, Kreislaufprobleme, Herzrhythmusstörungen, zu hoher Blutdruck, oder sogar ein Herzklappenfehler, möglicherweise nicht diagnostiziert, schwere Sorgen, Stress … Der Mann hatte nicht gewirkt, als ob er im Stress wäre, dann wäre er auch kaum auf die Idee gekommen, jemandem einfach so zu helfen. Sein Alter? Nicht ganz leicht zu schätzen, doch eher älter, als er sich gab. Ein Bärtchen strafft das Aussehen und verbirgt Hautfalten, aber als sie ihm die Hand von der Brust genommen hatte, um sein Hemd zu öffnen, das fiel ihr jetzt ein, hatte sie braune Leberflecken und Runzeln darauf gesehen, also bestimmt über sechzig, um die siebzig eher, bei entsprechendem Vorleben ohne weiteres Zeit für ein Herzversagen, das ja auch bedeutend Jüngere trifft. Isabelle suchte dringend nach Gründen, warum nicht sie und ihr Koffer die Hauptschuldigen sein konnten.

Ihre Freundin war furchtbar enttäuscht, als Isabelle ihr am Telefon mitteilte, dass sie nicht kommen konnte. Bei der Schilderung des fatalen Vorfalls geriet sie ins Stocken und brach auf einmal in Tränen aus. »Ich konnte es nicht wissen!« rief sie weinend in den Hörer, »nicht wahr, Barbara, ich konnte es nicht wissen?« Barbara versuchte sie zu beruhigen. Auf keinen Fall habe sie das wissen können, das sei doch klar, und sie habe den Mann ja nicht gebeten, er habe es offenbar von sich aus getan, freiwillig, ein Gutmensch eben. Isabelle hörte auf zu weinen. Nein, sagte sie entschieden, nein, ein Gutmensch sei das nicht gewesen, eher der Typ mit perfekten Manieren.

Ob sie denn nicht vielleicht ein paar Tage später noch fahren wolle, fragte ihre Freundin, es sei prächtiges Spätsommerwetter und das Meer angenehm warm, doch Isabelle erklärte ihr, wie ihr erst durch dieses Malheur klar geworden sei, dass sie noch viel zu rekonvaleszent sei für eine solche Reise und bat sie um Entschuldigung.

Nach diesem Gespräch war sie erschöpft, aber auch erleichtert, als hätte sie geschenkte Zeit vor sich, legte sich nochmals etwas hin, ohne einzuschlafen, und ging dann in die Küche, um sich ein Essen zuzubereiten. Da sie sich auf eine zweiwöchige Abwesenheit eingestellt hatte, war nichts Frisches mehr da, und sie machte sich einen Teller Makkaroni mit einer Sauce aus der Büchse, öffnete dazu auch ein Zweideziliterfläschchen Chianti. Der war eigentlich als Kochwein vorgesehen, aber sie hatte Lust auf einen Hauch von Italien, pasta e vino, und hob das Glas vor sich in die Höhe. »Prost Barbara«, sagte sie, trank dann einen Schluck und machte sich hungrig über die Nudeln her.

Als sie die Hälfte gegessen hatte, hörte sie aus dem Korridor ihr Handy klingeln. Sie erhob sich, ging zur Garderobe und holte den Apparat aus ihrer Manteltasche. Er war ausgeschaltet. Nun merkte sie, dass das Klingeln aus ihrem Koffer kam, der immer noch ungeöffnet dastand. Sie kippte ihn auf den Boden, kniete nieder, machte ihn auf und sah zuoberst die Mappe, die sie im Zug zum Flughafen schnell hineingelegt und dann in der ganzen Verwirrung vergessen hatte. Jetzt verstummte das Klingeln, aber es gab keinen Zweifel, dass es aus der Mappe gekommen war, denn ein zweites Handy besaß sie nicht.

Isabelle bekam eine Gänsehaut. Da war ein Anruf für einen Toten. Und sie hatte nichts damit zu tun. Vorsichtig nahm sie die Mappe heraus, erhob sich und legte sie auf den Hocker, der im Gang stand. Sie blieb einen Moment stehen. Nein, die Mappe ging sie nichts an. Gleich nach dem Essen würde sie damit zur Polizei fahren und sie abgeben. Sie ging zurück in die Küche, setzte sich vor ihren Teller, aber sie hatte keinen Hunger mehr. Dann stand sie auf, ging wieder in den Korridor, öffnete den Reißverschluss der Mappe, spreizte sie mit der linken Hand auseinander und angelte neben einer Zeitung das Handy heraus, ein weinrotes Sony Ericsson, dieselbe Marke wie ihr eigenes. Wenn man nicht wusste, wer der Tote war, dachte sie, dann wäre ein eingeschaltetes Handy eine wichtige Spur. Sie entsperrte es, und auf dem Display, das nun aufleuchtete, sah sie als Erstes das rote Signal bei der Ladungsanzeige. Würde der Akku zusammenbrechen, wäre bestimmt auch der Code weg, den niemand kannte, und ohne Code wäre das Gerät nicht mehr zu gebrauchen. Gar nichts hatte sie tun wollen, und nun tat sie doch etwas. Sie holte ihr Ladegerät, steckte es in das Handy des Fremden ein, es passte, und schloss es dann an die Steckdose im Badezimmer an, die sie sonst für den Haarföhn benutzte. Sogleich bewegte sich auf dem Bild das Zeichen für den Ladevorgang.

Isabelle setzte sich nochmals vor ihren Teller in der Küche, trank aber nur einen Schluck Wein. Wenn sie nichts mit dem Toten zu tun hatte, wieso lud sie dann sein Handy auf? Klar war, dass dies sofort getan werden musste, denn bis sie auf dem Polizeiposten wäre, wären die Funktionen des Geräts vielleicht schon erloschen und der Kontakt mit dem Umfeld des Mannes verloren. Isabelle stützte den Kopf in ihre Hände. Es ging sie eben doch etwas an. Sie hatte erste Hilfe geleistet, und nun musste sie auch zweite Hilfe leisten.

3

Da Isabelle nicht recht wusste, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte, hatte sie begonnen, ihren Koffer wieder auszupacken und stand gerade mit drei Blusen vor ihrem Kleiderschrank, als sie das Handy im Badezimmer klingeln hörte. Sie legte die Blusen auf ihr Bett, eilte ins Badezimmer und blieb dann zögernd stehen. Wieder wollte jemand den Toten anrufen. Den Toten, nicht sie. Sie ging dieser Anruf nichts an. Aber wer immer es sein mochte, er sollte wissen, dass der Angerufene tot war. Sie griff nach dem Handy, drückte auf die grüne Empfangstaste und hob das Gerät an ihr Ohr. Zu spät, der Anrufer hatte aufgehängt.

Isabelle ärgerte sich. Das wäre eine Spur zum Verstorbenen gewesen. Sie hätte geholfen, zu klären, wer er war. Ein bisschen seltsam war es ja schon, dass jemand herumlief, ohne irgendein Dokument bei sich zu tragen. Dann dachte sie daran, wie sie einmal noch schnell die Jacke gewechselt hatte, bevor sie wegfuhr, und bei der Kontrolle in der Straßenbahn weder ihre Monatskarte noch irgendeinen Ausweis dabeigehabt hatte. Natürlich war so etwas möglich, aber dennoch schien es ihr merkwürdig, wenn sie an diesen Mann dachte. Er hatte nicht ausgesehen, als ob er noch schnell die Jacke gewechselt hätte.

Wer mochte der Anrufer sein? Oder die Anruferin? Und wie würde sie reagieren, oder er, auf die Nachricht, dass der Angerufene tot war? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie jemandem mitteilen müsste, ein Angehöriger sei gestorben. Im Altersheim kam das immer wieder vor. Aber da waren die Söhne und Töchter darauf gefasst, und man wusste von allen Bewohnern, wer zu verständigen sei.

Das Handy war noch nicht fertig aufgeladen.

Auf einmal kam ihr in den Sinn, dass ihre Tochter noch nicht Bescheid wusste. Sie setzte sich ins Wohnzimmer, wo ihr Telefon auf einem Tischchen stand, und wählte die Nummer. Besetzt.

Der Kugelschreiber und der leere Block neben dem Apparat verlangten nach einer Notiz.

Zeitung? Post? schrieb sie untereinander. Sie hatte die Zeitung für 14 Tage abbestellt und die Post zurückbehalten lassen. Morgen würde sie sich überlegen müssen, ob sie daran etwas ändern wollte. Hierbleiben, als ob sie gar nicht da wäre, schien ihr auch ganz reizvoll, ins Kino gehen, wozu sie sonst meistens zu müde war, und ins Hallenbad, oder in ein Konzert. Ihre Schwester wohnte im Toggenburg und sprach manchmal mit einem gewissen Neid davon, wie toll es sein müsse, in der Stadt zu wohnen, mitten im großen Vergnügungskuchen, wie sie sich ausdrückte, und Isabelle fragte sich dann, ob sie eigentlich von diesem Kuchen genügend esse. Das Tessin kam ihr in den Sinn, ihr Cousin und seine Frau hatten dort ein Ferienhaus, im Verzascatal, hatten sie schon einmal dorthin eingeladen und wurden nicht müde, ihr das Haus für einen Aufenthalt anzubieten, wann immer es sie gelüste. Sie war aber nicht ganz sicher, ob sie sich dort entspannen konnte, denn es musste alles genau so sein, wie es sich ihr Cousin vorstellte, an jeder zweiten Schranktür klebte ein Zettel mit Anweisungen für die Gäste, die Benützung von Dusche, Kochherd und Waschmaschine war an ganz bestimmte Regeln geknüpft, die mit 1., 2., 3. aufgeführt wurden, es galt, zusätzliche Hahnen und Vorsatzventile auf- und nach Gebrauch wieder abzudrehen, sodass Isabelle das Gefühl hatte, sie würde die Zeit vor allem mit dem Lesen und Verstehen von Gebrauchsanleitungen verbringen. Aber es gab ja auch hübsche Hotels und Pensionen.

Tessin? schrieb sie unter Zeitung und Post.