ROBERT MISIK

CHRISTIAN
KERN

EIN POLITISCHES PORTRÄT

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eISBN 978-3-7017-4547-0

INHALT

Einleitung

1. KAPITEL

Sieben Tage im Mai

Eine Art Tabula rasa

Eine Botschaft von Hope & Change

2. KAPITEL

Eine Jugend in Simmering

»Das Beste am Genie ist Fleiß.«

Als Arbeiterkind in Simmering

Politisch und unpolitisch zugleich

Die Siebziger – Jahre des Aufbruchs.

Junger Vater – und Jahre als Alleinerzieher

3. KAPITEL

Der furchtbarste Feind ist die Routine

Nicht die Menschen – wir haben etwas falsch verstanden

Kerns fünf große Baustellen

Ein Kanzler gegen ›das System‹

Wie kamen die Sozialdemokraten vom Weg ab?

Eine neue progressive Allianz – geht das?

Authentisch und glaubwürdig bleiben

4. KAPITEL

Christian Kern – mehr Solist als Teamspieler?

»Mein Rat: Such dir deinen Chef genau aus!«

Vom Energiemanager zum Bahnchef

Als Manager in der Politik – ein paar Fragen des (Führungs-)Stils

Kern und seine Niederlagen

Wie Kern tickt

5. KAPITEL

»Unser Gegner ist die Angst«

Sozialdemokratische Wirtschaftskompetenz

Die neoliberale Hegemonie brechen

Die EU aus der Sackgasse holen

6. KAPITEL

Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert

Warum überhaupt Sozialdemokratie?

In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?

Ein Wirbelwind an Ideen

Ein »linker Populismus«?

Wo bitte geht’s hier zum Narrativ?

Eine Story für eine moderne Sozialdemokratie

Ist die Krise des Kapitalismus überwindbar?

Knifflige Frage: Wie patriotisch dürfen Progressive sein?

Das schwierige Thema: Wenn Migration nicht nur Bereicherung ist

Der Aufstieg der Roboter – verschwinden unsere Jobs?

Schluss

EINLEITUNG

Wien, Ende Jänner 2017. Ballhausplatz, erster Stock, Büro des Bundeskanzlers. Christian Kern sitzt an der Längsfront seines großen Besprechungstisches und ist etwas angespannt. Er hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Draußen ist es klirrend kalt. Drei Stunden lang spricht Kern über seine Überzeugungen, seine Haltungen, über seine wirtschaftspolitischen Konzepte, darüber, wie er denkt. Über Staat und Markt. Er lacht darüber, dass ihn konservative Ideologen einen Staatsinterventionisten nennen, wo er doch gerade einen modernen Weg zu zeigen versucht hat, wie man durch innovatives Regieren Unternehmen dabei unterstützen kann, die Chancen offener Märkte zu nützen. Wie Staat und Markt zusammenarbeiten können, damit das Wirtschaftswachstum wieder anspringt und mehr Jobs geschaffen werden. Dass man unsere Schulen ins 21. Jahrhundert katapultieren muss. Dass man das Land entstauben muss, um wieder Zukunftsgeist zu beflügeln. Kern kommt von diesem zu jenem, spricht über progressive Kulturpolitik, darüber, dass wichtige Künstler mehr zu offenen Debatten und einer freien Gesellschaft beitragen können als die meisten Politiker, Minister oder Regierungsmitglieder. Dass man all das mit Elan, mit Energie anpacken müsse. Und dass man sich nicht anstecken lassen darf von dem bürokratischen Geist, der alles abbremst, und auch nicht von angeblichen politischen Partnern, die einem Prügel zwischen die Beine werfen wollen. Denn es gilt, keine Zeit zu verlieren.

Christian Kern ist gewissermaßen in Eile. Aber nicht nur, weil der nächste Termin wartet und ein Bundeskanzler einen vollgestopften Kalender hat und in der Regierung gerade wieder ein Konflikt mit dem Koalitionspartner hochkocht. Sondern weil er es in einem metaphorischen Sinne »eilig« hat. Ich erinnere mich an das berühmte Wort von John Maynard Keynes, der einmal sagte, er sei als Wirtschaftstheoretiker immer »in a hurry«, in Eile, sein Publikum fristgerecht zu überzeugen, da nur ein scharfer Kurswechsel noch ein Desaster verhindern könne. Und so ähnlich fühlt sich die Welt auch heute an.

Denn draußen vor der Tür geht gerade die Welt unter, wie wir sie gewohnt waren.

In den USA wurde eben in diesen späten Januartagen Donald Trump als Präsident angelobt. Lange Zeit hatte niemand einen Cent darauf gewettet, dass der Plutokrat und exzentrische Milliardär, der sich als Mann des einfachen Volkes kostümierte, überhaupt die Nominierung als Kandidat schaffen könnte. Dann hatte kaum jemand mit Trumps Wahlsieg gerechnet. Und als er schließlich gewählt worden war, hatten viele Kommentatoren sofort begonnen, den Kopf in den Sand zu stecken und wie die Honoratioren in Max Frischs »Biedermann und die Brandstifter« die Gefahr kleinzureden: Es würde schon nicht so arg kommen. Er würde schon wie ein normaler Präsident regieren. Man dürfe ja nicht alles, was der Mann so daherrede, wörtlich nehmen. Die Beamten würden ihn schon einbremsen. Und dann begann Trump, kaum war er ins Amt eingeführt, mit »Executive Orders«, also mit Präsidentendekreten, am Parlament vorbei einen haarsträubenden Beschluss nach dem anderen zu erlassen. Er erklärte, dass er mit der freien Presse »im Krieg« sei und Kritiker rundum zu »Feinden des amerikanischen Volkes«. Seine Sprecherin verkündete, dass man Fakten und Wahrheiten, so sie einem nicht in den Kram passten, bestreiten werde, schließlich habe man »alternative Fakten«. Seine Rede zum Amtsantritt war eine grimmige, nationalistische Schock-Ansprache, die von Trumps Strategieberater, einem bekennenden Rechtsextremisten, formuliert worden war. An der Grenze zu Mexiko, so ein Präsidenten-Ukas, werde sofort mit dem Bau einer Mauer begonnen. Lauter Ungeheuerlichkeiten, die eigentlich niemand für möglich gehalten hatte.

Was lange Jahre als selbstverständlich galt – Rechtsstaat, pluralistische Demokratie, Freiheit der Kunst, Weltoffenheit und Modernität, wechselseitiger Respekt und dass jeder und jede nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden könne –, kurzum, all diese Werte sozialer und pluralistischer Demokratie und offener Gesellschaften sind heute nicht mehr selbstverständlich. Politische Konkurrenz bedeutet heute, im Unterschied zu den vergangenen Jahrzehnten, nicht mehr den Wettbewerb unterschiedlicher Konzepte auf Basis gemeinsam geteilter Grundwerte – heute ist es die Konkurrenz zwischen denen, die für Fortschritt und Demokratie stehen, und jenen, die genau diese Demokratie zerstören wollen. Damit ist die politische Konkurrenz aber auch zu einer geworden, in der man nicht als Beobachter abseits bleiben kann. Sondern in der man sich für eine Seite ins Getümmel werfen muss. Christian Kern will daher auch die Menschen ermuntern, mitzutun.

Als Christian Kern im Mai 2016 in einer Art Palastrevolte zum SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler wurde, lag über Österreich eine Stimmung bleierner politischer Depression. Die rechtspopulistische FPÖ lag auch hier in Umfragen seit vielen Monaten stabil an erster Stelle. Das Projekt, das mit dem Namen Christian Kern verbunden ist, war daher auch vom ersten Tag an der Versuch, das Land aus der politischen Sackgasse, aus der Depression und dem Stillstand zu reißen. Um einen Weg in den Abgrund à la Donald Trump zu verhindern. Als Kern damals erstmals öffentlich auftrat, reagierten viele Menschen überrascht – und nicht wenige begeistert. Endlich ein Politiker, der Klartext spricht, der um Probleme nicht herumredet, der Optimismus verbreitet und dem man zuhören kann, weil er keine intellektuelle Zumutung für seine Zuhörer darstellt. Damals lag so etwas wie ein Zauber des Neubeginns über der Szenerie. Und die Mühen der Ebene noch vor dem neuen Kanzler.

Ein Buch über Christian Kern zu schreiben, ist dennoch eine Herausforderung: Schließlich hat er ja noch nicht unbedingt ein erfülltes Politikerleben hinter sich, das eine Biografie rechtfertigen würde.

Dieses Buch ist auch keine Biografie – es ist ein Porträt. Es ist der Versuch, eine Person zu beschreiben: Biografische Elemente sind natürlich wichtig, aber sie bilden nur einen Aspekt unter mehreren. Ein Porträt versucht, eine Person gewissermaßen zu zeichnen, wie sie tickt, es versucht zu ergründen, was ihre mentalen Leitplanken sind, aber auch die politischen Grundhaltungen, die sie prägen. Ein Porträt wird dazu beitragen, diese Person besser zu verstehen, und es wird skizzieren, was wir von ihr möglicherweise zu erwarten haben – auch das ist etwas, was es von der Biografie unterscheidet, die primär retrospektiv ist. Und natürlich ist dieses Buch nicht nur ein Porträt der Person Christian Kern – sondern mindestens so sehr der Aufgabe, vor der er steht: der Restaurierung der Sozialdemokratie und der Modernisierung Österreichs. Beides hängt eng zusammen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Nur wenn Kern der Sozialdemokratie eine Verjüngungskur verpasst, kann er jene Wählerzustimmung und damit jene Mehrheit erkämpfen, die er braucht, um auch das Land zu verändern. Zweitens: Eine moderne soziale und demokratische Reformpolitik – grundiert durch das, was man am besten die »sozialdemokratische Idee« nennt – ist gerade in ökonomisch herausfordernden Zeiten, in denen die Ungleichheit wieder wächst und Chancen und Wohlstand unfair verteilt sind, genau das, was Europa und Österreich benötigen. Ein solches Modernisierungsprojekt hat mit vielen Widerständen zu kämpfen, mit Bremsern beim Koalitionspartner, aber auch in der eigenen Partei. Es kann auch ins Stocken geraten. Dieses Buch ist also das Porträt einer Person, die vor dieser Aufgabe steht. Das Porträt eines Projektes. Und auch eine Chronik der laufenden Ereignisse.

Ich kenne Christian Kern seit rund dreißig Jahren. Ich habe mit ihm bei unzähligen Gelegenheiten geredet, und dieses Buch beruht im Besonderen auf vielen Vier-Augen-Gesprächen, die wir seit dem Herbst 2016 geführt haben. Wir haben gesprochen. Wir haben diskutiert. Wir haben auch viel gestritten. Oft sind wir einer Meinung. Sehr oft sind wir aber auch diametral entgegengesetzter Meinung.

Es ist ein Porträt aus der Nähe. Aber ich bin darüber hinaus auch in anderer Hinsicht natürlich nicht neutral: Ich hoffe, dass Kern nachhaltigen Erfolg hat mit seiner Bemühung, die Sozialdemokratie wieder zu einer vitalen, progressiven Bewegung zu machen und dieses Gefühl des Stillstands und der Aussichtslosigkeit aus der österreichischen Politik zu vertreiben. Als Manager, aber auch als jemand, der ein grundlegendes Verständnis von makroökonomischen Zusammenhängen hat, verkörpert er eine Wirtschaftskompetenz, die gerade Sozialdemokraten immer brauchten, um das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen zu gewinnen. Er ist sowohl von seinem intellektuellen Background her, als auch von seinem Auftreten und einfach als Typ ein Politiker, dem die Wähler zutrauen können, dass er die Wirtschaft in den Griff bekommt. Wenn man ihn »Politiker« nennt, sagt er, »dann reißt es mich immer noch. Ich fühle mich nicht angesprochen.« Und er ist ein fähiger Kommunikator. Er bringt jedenfalls eine Reihe an Talenten und Charakterzügen mit, die nötig sind, um das Land aus der tiefen mentalen und politischen Krise zu bringen. Wäre ich nicht dieser Meinung, hätte ich dieses Buch schlichtweg nicht geschrieben – denn warum sollte man ein Buch über eine Person schreiben, der man das nicht zutraut? Eine solche Person wäre nicht interessant genug, um ein paar Monate Lebenszeit auf ihr Porträt zu verschwenden. Anders gesagt: Christian Kern als Person ist gerade deshalb interessant, weil er eine Möglichkeit für dieses Land verkörpert. Und insofern wäre es natürlich lächerlich, so zu tun, als wäre ich unparteiisch.

Aber dennoch: Wenn man als Freund, Weggefährte und Diskussionspartner an ein solches Buch herangeht, dann nimmt man sich natürlich als Erstes vor: Dieses Buch darf keine Hagiografie werden, keine Lobhudelei. Es muss möglichst objektiv und nüchtern sein – schon allein, damit es überhaupt glaubwürdig bleibt. Es darf auch schwierige Fragen nicht auslassen, es muss Raum für Zweifel geben und auch für Kritik, dort, wo sie notwendig ist. Im Prozess des Schreibens ertappe ich mich dabei, geradezu obsessiv nach Sachen zu suchen, die ich auch kritisieren könnte. Mir wurde dann bald klar, dass die Frage, ob dieses Buch eine Hagiografie oder eine Kritik würde, nicht die richtige Richtschnur war. Dass das nicht die zentrale Frage war. Denn eines ist ja viel wichtiger: dass die Leser und Leserinnen in diesem Buch etwas erfahren, was sie nicht schon vorher wussten. Dass sie interessante Einblicke und spannende Perspektiven gewinnen. Dass dieses Buch die Aufgaben und Herausforderungen, vor denen Kern und sein neues Team stehen, wahrheitsgetreu wiedergibt. Und Wahrheitstreue bedeutet in diesem Fall: So wie der Autor, also ich, die Dinge sehe und einschätze. Und diese Einschätzung muss auch nicht unbedingt mit der Sicht Christian Kerns übereinstimmen. Wie das Bruno Kreisky einmal in Anlehnung an einen katholischen Philosophen formuliert hat: Ein Mensch sagt dann die Wahrheit, wenn er sagt, was er sich denkt. Objektive Wahrheit wird es nicht geben, aber subjektive Wahrhaftigkeit. Ich habe versucht, in diesem Sinn ein möglichst »wahrhaftiges« Buch zu schreiben.

Dieses Buch lebt, neben den Gesprächen, die ich mit Christian Kern führte, auch von den Einblicken in Kerns Politikerleben, die mir vom ersten Tag an hinter die Kulissen gestattet waren. Und von Gesprächen mit vielen anderen, aus Kerns Team, mit langjährigen Freunden, Schulkollegen, Familienmitgliedern, Weggefährten. Es versteht sich von selbst, dass ich allen von ihnen zu Dank verpflichtet bin. Ich will hier auch nicht weiter von mir reden, sondern gleich zurückblenden zu einem Tag im Mai – dem Tag, an dem Christian Kern erfährt, dass er tatsächlich Bundeskanzler und SPÖ-Parteivorsitzender wird.

1.KAPITEL

SIEBEN TAGE IM MAI

Der Bürotower am neuen Wiener Hauptbahnhof, 22. Stock. Ein imposanter Glaspalast, hoch oben über dem Südosten der Stadt: Signalarchitektur eines Unternehmens, das sich in den vergangenen Jahren ein modernes Image verpasste. Ein spektakulärer Ausblick über Wieden nach Margareten in die Innenstadt hinein, rechter Hand das Schloss Belvedere von Prinz Eugen von Savoyen, dem Oberkommandierenden diverser Erbfolgekriege. Die Zukunft schaut von hier herunter auf die Vergangenheit.

Es ist vielleicht kein Erbfolgekrieg, aber doch ein spektakulärer Kampf um das Kanzleramt, der an diesem 12. Mai sein Ende findet. Im Büro des bisherigen Bahnchefs versammeln sich Freunde, langjährige Wegbegleiter, Mitarbeiter und Vertraute – oder Leute, die es demnächst werden sollen. »Gratulation, Herr Bundeskanzler«, sagt einer. Christian Kern setzt sein typisches ironisches Lächeln auf, das wohl so etwas sagen soll, wie: »Spar dir die Scherze, bevor es endgültig und unwiderruflich entschieden ist.« Aber echte Unsicherheit gibt es in diesem Moment nicht mehr. Seit dem Vormittag ist endgültig fix, was schon vorher im Grunde klar war: Christian Kern wird Nachfolger von Werner Faymann, der drei Tage zuvor mehr oder weniger freiwillig zurückgetreten ist – eher weniger freiwillig. Denn ohne dass Faymann etwas davon mitbekommen hatte, verabredeten fünf Landesparteivorsitzende der SPÖ, einen Sonderparteitag einzuberufen, der einen neuen Parteichef wählen sollte. Als Faymann erfuhr, dass das Quintett in einem Etablissement mit dem klingenden Namen »Hotel Schani« geheim getagt und ein entsprechendes Papier unterzeichnet hatte, trat er binnen weniger Minuten vor die Presse und verkündete seinen Rücktritt.

Ein bunt zusammengewürfelter – und schnell zusammentelefonierter – Haufen steht an diesem Tag in Kerns Vorstandsbüro. Veteranen aus diversen Kanzlerkabinetten des vergangenen Vierteljahrhunderts, ein emeritierter Spitzendiplomat ist dabei, auch ein führender Mitarbeiter der Wiener SPÖ, dazu Kerns bisherige ÖBB-Vorstandsassistentin, die 30-jährige Maria Maltschnig. Es sind erst ein paar Stunden vergangen, seit sich Kern mit dem Wiener Bürgermeister Michael Häupl getroffen hat, und von ihm unter vier Augen auf dem Sofa im Bürgermeisterbüro die Worte gehört hat, Häupl sei überzeugt, dass Kern der Richtige sei. Häupl hatte sich lange Zeit gelassen, bis sich fast alle Bundesländer und auch die einflussreichsten Gewerkschafter für Kern ausgesprochen hatten. Das »Ja« des Wiener Bürgermeisters hat den Sack dann nur mehr zugemacht. Es war knapp nach ein Uhr Mittag, da brachte der »Kurier« als Erster die Meldung: »SPÖ einigt sich auf Christian Kern.«

Ab jetzt wird alles ganz schnell gehen: Am folgenden Tag soll sich Kern den neun Landesparteichefs der SPÖ im Rathaus präsentieren, am Dienstag – also vier Tage später – dann vom SPÖ-Präsidium als neuer Kanzler und Parteivorsitzender designiert werden. Unmittelbar danach steht die Angelobung durch den Bundespräsidenten bevor und dann irgendwann die erste Regierungserklärung im Parlament. Dazwischen muss auch noch ein Regierungsteam zusammengestellt werden.

Aber die Bürger und Bürgerinnen wissen zu diesem Zeitpunkt herzlich wenig von Kern, und auch die einfachen SPÖ-Parteimitglieder haben kaum eine Ahnung, wer denn eigentlich dieser Neue an der Parteispitze ist. Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass Kern als junger Twenty-something bei den Sozialistischen Studenten aktiv war, danach arbeitete er ein paar Jahre in Kabinetten und im SPÖ-Parlamentsklub. Aber seitdem er sich vor knapp zwanzig Jahren aus der zweiten Reihe der Politik verabschiedet und als Manager in die Industrie davongemacht hat, hat Kern sich aus naheliegenden Gründen kaum mehr explizit politisch geäußert, jedenfalls nicht in einer breiteren Öffentlichkeit. Immerhin führte ihn seine Wirtschaftskarriere durch staatsnahe Unternehmen wie den Verbundkonzern und die Bundesbahn, wo man nicht nur mit den Eigentümervertretern, also mit der jeweiligen Regierung, zurechtkommen, sondern in alle politischen Richtungen gesprächsfähig bleiben muss. Grundsatzreden zu schwingen gehört nun einmal nicht zum Jobprofil eines Spitzenmanagers. So erwarten sich die meisten jetzt einen Pragmatiker und Technokraten mit Wirtschaftskompetenz, einen seriösen Mann mit einem zielorientierten Führungsstil, aber ganz sicher keinen Visionär, der über ideologische Grundsatzfragen grübelt, und schon gar keinen Revolutionär.

Die Versammelten im 22. Stock der ÖBB-Zentrale kennen Kern natürlich besser. Die meisten sind mit ihm seit Jahrzehnten bekannt, wenn nicht sogar befreundet, und haben sich mit ihm auch in den letzten Monaten und Jahren immer wieder unterhalten. Diese Gespräche liefen nicht sehr viel anders ab, als die vielen anderen Unterhaltungen unter Leuten, die sich für Politik interessieren, in diesen Jahren abgelaufen sind: Man jammerte über den politischen Zustand des Landes im Allgemeinen, man beklagte die innere Sklerose der Sozialdemokratie und die Tatsache, dass dem Aufstieg des Rechtspopulismus hilf- und tatenlos zugesehen wird. Kam man auf die Performance der Partei- und Regierungsspitze zu sprechen, machte sich, höflich formuliert, kein großer Enthusiasmus breit. Gelegentlich merkte man vielleicht auch an, dass die althergebrachte Parteiform selbst in Zeiten loser Bündnisse und einer lebendigen Zivilgesellschaft altmodisch geworden sei, und es ganz neue Formen progressiven Politikmachens bedürfe. Kurzum: Man tat so ziemlich das Gleiche wie alle anderen Menschen im Land, die sich über solche Fragen unterhielten.

Aber was Kern dann der Runde eröffnete, hat wohl doch selbst die Anwesenden ein wenig überrascht: Dass er ein Signal radikaler Erneuerung senden will – und zwar vom ersten Tag an. »Grundsätze gehen vor Machterhalt«, das sei doch eine Botschaft, nach der sich die Menschen sehnen würden, so Kern. Er habe keinesfalls vor, sich als jemand zu präsentieren, der die Sozialdemokratie zu einer bloß modisch aufpolierten Spielart der neoliberalen Mitte machen wolle. »Modernisierung nur um der Modernisierung willen ist Blairismus und das braucht heute niemand mehr«, wirft Kern in die verdutzte Runde.

EINE ART TABULA RASA

Die meisten Sozialdemokratien in Europa, die sich einem wirtschaftsliberalen Mainstream angepasst hatten, haben bei diesem Streben in die Mitte nicht an Zuspruch gewonnen, sondern massiv an Zustimmung verloren. Weil sie immer mehr als ununterscheidbare, austauschbare Repräsentanten eines politischen Establishments wirkten. Weil gerade diejenigen, die bei der »Modernisierung«, die eigentlich eine »Deregulierung« ist, unter die Räder kommen, das Gefühl haben, dass sie niemand mehr vertritt, und sich deshalb in ihrer Verzweiflung oft rechten Demagogen in die Arme werfen. Weil es nicht um die Anpassung an den Neoliberalismus gehen kann, sondern darum, seine Hegemonie niederzuringen. Und weil Sozialdemokratien, die sich derart von ihrer eigentlichen Aufgabe entfernen, nämlich Vertreter der einfachen Leute und der Mittelklasse zu sein, oft sogar auch noch Konkurrenz von Linksparteien erwächst, die frischer und moderner wirken als sie, wie etwa in Griechenland und Spanien. Kurzum: Die alte Tante Sozialdemokratie mit einem besseren Marketing auszustatten, wird wohl nicht reichen.

»Ich habe doch diese Art, wie bei uns Politik gemacht wird, diese politischen Rituale genauso satt wie jeder andere auch«, fährt der Noch-nicht-Kanzler fort. »Ich kann doch diesen ganzen Politjargon, diese Aneinanderreihung leerer Worthülsen genauso nicht mehr hören wie die meisten Wähler. Und ich werde das bei meinen ersten Auftritten auch klar sagen.« Dass mit dieser gesamten, alten Politik Schluss gemacht werden muss: »Ich werde mich für jeden vernehmbar von dem, was bisher war, distanzieren.«

»Okay«, wirft da einer der Anwesenden erschrocken ein: »Ich stelle mir das also jetzt einmal so vor: Du bist im Parlament, hältst deine erste Rede als Bundeskanzler, neben dir sitzt dein Vizekanzler und Koalitionspartner Wolfgang Mitterlehner, und du sagst: ›Alles, was ihr bisher getan habt, war Unfug‹? Das kannst du doch nicht machen.« Aber Kern hat sich das schon gründlich überlegt: »Ich werde mit Mitterlehner vorher reden. Aber ich werde das sagen. Da geht es auch um meine Glaubwürdigkeit. Und Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut.«

Die Runde der Anwesenden, so der designierte Kanzler, solle ihm bei der Ausformulierung dieser Gedanken und bei seiner ersten Regierungserklärung im Parlament helfen. Denn schließlich habe er weder einen Apparat noch eine intakte Unterstützerstruktur – und eine Woche vor sich, in der alles kopfstehen werde.

Es war eine Art Palastrevolte, die Kern an die Spitze der Regierung brachte, aber damit auch eine der ungewöhnlichsten Regierungsübernahmen in der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Dass eine Partei ihren Bundeskanzler mitten in der Legislaturperiode gegen dessen Willen und hinhaltenden Widerstand austauschte, das hat es in Österreich jedenfalls noch nicht gegeben. Normalerweise wird man Bundeskanzler, wenn man eine Wahl gewinnt – oder man bleibt es, weil man sie zumindest nicht krachend verliert. Oder man wird Bundeskanzler, weil der amtierende Regierungschef amtsmüde geworden ist, oder aus einem anderen Grund eine Hofübergabe vornimmt – meist geordnet und mit Bedacht auf Kontinuität. In all diesen Fällen ist man auf die Regierungsübernahme vorbereitet: Man hat ja vorher einen Wahlkampf geschlagen und in diesem politische Konzepte präsentiert, die man hinterher im Regierungsamt realisieren will. Oder man hat vorher schon ein Regierungsamt inne und damit einen Stab von Mitarbeitern und Parteifunktionären zur Hand, die Pläne ausgearbeitet haben.

Aber nichts von dem war hier der Fall: Kern musste – relativ unvorbereitet – innerhalb eines Wochenendes ein neues Regierungsteam präsentieren und zumindest ein paar grobe Richtlinien formulieren, wohin es seiner Meinung nach gehen sollte. Natürlich war Kern nicht völlig unvorbereitet. Aber die Schubladen voller Konzepte hat man selbstverständlich nicht, wenn man als Manager von einem Tag auf den anderen in die Politik wechselt.

Tag und Nacht telefoniert Kern jetzt: mit den Landesparteivorsitzenden, etwa dem Kärntner Peter Kaiser, dem Steirer Michael Schickhofer, dem Niederösterreicher Matthias Stadler, dem Salzburger Walter Steidl, mit den verschiedensten Leuten in der Partei, wie dem Fraktionsvorsitzenden Andreas Schieder und dessen Frau, der Wiener Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely, mit seinem engen Freund, Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer, mit Wiens Finanzstadträtin Renate Brauner, mit Franz Vranitzky, mit ein paar guten Freunden. Zunächst geht es für ihn darum, ein Regierungsteam zusammenzustellen. Vier Mitglieder aus Faymanns Kabinett will er ersetzen, die Regierungsmitglieder Sonja Stessl, Gabriele Heinisch-Hosek, Josef Ostermayer und Gerald Klug. »Ich habe wahrscheinlich rund hundert Leute blitz-gescreent.« Namen tauchen auf, zu jedem Kandidaten gibt es eine Schnellrecherche. Bei jenen, die in die engere Wahl kommen, werden bei Bekannten oder Gewährsleuten die Für-und-Wider-Argumente eingeholt. Dabei dürfen aber auch nicht zu viele Leute um ihre Meinung gefragt werden: Wenn mehr als drei Leute über potenzielle Kandidaten Bescheid wissen, kann man sicher sein, dass die Namen ein paar Stunden später in den Medien auftauchen. Landesparteiobleute werden um Vorschläge ersucht. Die Personaldecke ist dünn. Eine gewisse Balance zwischen den verschiedenen Landesparteien braucht es dennoch, dazu, wenn möglich, ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen, und es ist auch klar, dass es hoch an der Zeit und mehr als nur eine symbolische Notwendigkeit ist, ein Regierungsmitglied mit Migrationshintergrund zu bestellen – because its 2016. Und schließlich muss auch noch das Feintuning für die Aufgabenverteilung stimmen. André Heller wird gefragt, was er von Stella Rollig, der damaligen Direktorin des Linzer Kunstmuseums Lentos, als Kulturministerin hielte. Sonja Wehsely ist als Kanzleramtsministerin im Gespräch. Später wird klar, dass die Aufgaben des Kulturministers und des Kanzleramts-Staatssekretärs von einer Person erledigt werden müssen. So übernimmt dann Thomas Drozda diese Aufgabe, der als ehemaliger Geschäftsführer des Burgtheaters und Generaldirektor der Vereinigten Bühnen sowohl in Kulturagenden firm ist, aber auch schon Kanzleramtserfahrung hat. »Wenn du in einem großen Unternehmen ein Vorstandsmitglied neu bestellst, dann hast du erst ein Screening, dann ein Hearing, dann ein Gespräch, dann noch ein Gespräch, und dann triffst du eine Entscheidung. Aber in der Politik läuft das alles sehr anders und hektischer«, erinnert sich Kern später an diese Stunden, in denen er unter immensem Zeitdruck zwischen Kandidaten wählen musste, von denen er die einen besser, andere schlechter – und manche gar nicht kannte.

Es sind Chaostage, aber irgendwie auch strukturierte Chaostage. Zwischen Tür und Angel sagt Kern zu seiner ÖBB-Vorstandsassistentin Maria Maltschnig: »Ich würde vorschlagen, Sie kommen mit mir ins Bundeskanzleramt, und meine Vorstellung wäre, dass Sie dort die Funktion der Kabinettschefin übernehmen.« Die 30-Jährige, die bis dahin weder eine Vertraute noch eine langjährige Freundin des designierten Kanzlers war, schluckt einmal kräftig, überlegt ein paar Stunden und sagt abends dann per SMS zu, diese Schlüsselfunktion am Ballhausplatz einzunehmen.

Es ist weniger Zentralismus als die unsichtbaren Einflüsse und unterschiedlichen Stärken der Beteiligten, die die Tage strukturieren. Während Kern mit den wichtigsten Leuten aus der Partei die Regierungsmannschaft diskutiert, kümmert sich Maltschnig um das künftige Kanzleramt – nur zwei Mitarbeiter aus der Faymann-Ära sollen im Kanzlerkabinett bleiben –, und eine kleine Arbeitsgruppe sammelt hunderte Ideen und Konzepte für ein Regierungsprogramm. Währenddessen basteln Freiwillige den Social-Media-Auftritt von Kern, ohne dass ihnen dafür irgendjemand einen Auftrag erteilen hätte müssen. Sätze und Wendungen schwirren herum und werden wieder verworfen. Kern verliert bei alldem nicht das, was er später im Gespräch einmal scherzhaft seine »angeborene Freundlichkeit« nennen sollte – und seinen Humor auch nicht. »Ich kam in den letzten Tagen leider nicht zum Einkaufen«, entschuldigt sich der Noch-nicht-Kanzler lachend, als er am Sonntag – nur drei Tage nach dem entscheidenden Gespräch mit Michael Häupl – bei sich zu Hause die verschiedenen Konzeptvorschläge durchgeht. Die Schwiegermutter, die in diesen hektischen Tagen ein wenig auf Kerns jüngste Tochter und deren Freundinnen aufpasst, geht mit den Kindern zum Pizzabäcker um die Ecke, um ein paar Pizzen zu kaufen. So sitzt die Runde dann um den großen Holztisch in Kerns Wohnzimmer, isst Pizza aus Kartons, will die Textentwürfe ausdrucken – und kommt drauf, dass gerade niemand einen funktionstüchtigen Drucker besitzt.

Über all diesen Tagen liegt das, was Brecht einmal das »große Beginnergefühl« genannt hat. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits war es natürlich in banaler Weise ein wirklicher »Neubeginn« im Sinne des »allem Anfang wohnt ein Zauber inne« – ein Zauber, der immer begeistert, aber auch schnell verfliegen kann. Zugleich aber das Gefühl, dass im Rahmen des Möglichen Tabula rasa gemacht würde. Dass hier nicht nur ein Kanzlerwechsel über die Bühne ginge, sondern dass endlich Menschen vom Rande des politischen Systems, darunter nicht wenige, die sich eher als kritische Querköpfe fühlten, gemeinsam das Projekt beginnen würden, die lahme Etabliertenpolitik aufzumischen. Kurzum: dass hier etwas Neues in einem eminenteren Sinne beginne. Eine Botschaft von »Hope & Change« soll gesendet werden. Darüber sind sich alle Beteiligten einig. Die bleierne Lähmung, die erdrückend auf dem politischen Leben des Landes liegt, muss weggeblasen werden. »Der Spirit stimmt schon einmal«, sagt Maltschnig, als noch einmal die zentralen Botschaften durchbesprochen werden. Sie ist zu diesem Zeitpunkt als eine der wenigen noch immer mit ihrem Chef per Sie.