Inhaltsverzeichnis
Buch
Die Opernsängerin Gwendolyn Fischer steht am Beginn einer großen Karriere. Gerade hat sie wieder einen furiosen Erfolg auf einer Operngala in Köln gefeiert, da erreicht sie ein Anruf: Ihr Vater, Adrian Fischer, ist tot; sie soll zur Beerdigung nach Leip zig kommen. Gwen hat lange keinen Kontakt mehr zu ihrem Va ter gehabt, aber aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus reist sie zur Beisetzung. Ihr Aufenthalt in Leipzig bekommt jedoch schon bald eine dramatische Wendung: Die Polizei findet her aus, dass Gwens Vater ermordet wurde. Es wird eine Exhumie rung angeordnet, bei der eine Mappe gefunden wird, die Fischer anscheinend mit ins Grab nahm. Darin befindet sich ein Kuvert mit handschriftlichen Noten, die offenbar von Johann Sebastian Bach stammen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Gwens seit langem ver einbartes Engagement an der Mailänder Scala wird völlig überra schend storniert, und ein Unbekannter meldet sich bei ihr: Gwen soll die Noten noch diese Nacht übergeben, sonst sei ihre Karriere als Sängerin beendet. Sie geht tatsächlich zum vereinbarten Ort, wird dort jedoch überfallen, und die Noten werden ihr gestoh len. Gwen ist verzweifelt. Was soll sie jetzt tun? Gemeinsam mit Matthias Lenau, einem Schüler ihres Vaters, ergründet sie das er schreckende Geheimnis des Manuskripts. Doch kann sie Lenau, den sie kaum kennt, überhaupt trauen?
Autor
Oliver Buslau wurde 1962 in Gießen geboren. Er wuchs in Koblenz auf und studierte in Köln und Wien Musikwissen schaften und Germanistik. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau als freier Autor, Redakteur und Journalist in Bergisch Glad bach. Eine große Fangemeinde haben seine Regionalkrimis aus dem Bergischen Land um Privatdetektiv Remigius Rott. Darüber hinaus ist Oliver Buslau Chefredakteur der Literaturzeitschrift »TextArt«. Weitere Informationen zum Autor unter
Es ist vollbracht!
O Trost für die gekränkten Seelen!
Die Trauermacht
Lässt nun die letzte Stunde zählen.
Johann Sebastian Bach: Johannespassion
PROLOG
Der schwere Wagen kam vor der Garage zum Stehen, und die Scheinwerfer beleuchteten das Tor mit grellen Kegeln.
Fischer stellte den Motor noch nicht ab. Die CD im Player erreichte gerade die letzten Takte von Bachs h-Moll-Messe.
Dona Nobis Pacem.
Herr, gib uns Frieden.
Die gewaltige Schlusssteigerung der Fuge wirkte, als hätte der Komponist alle Energie, die ihn durch das gewaltige Werk geführt hatte, noch einmal in höchster Konzentration zusammenbringen wollen. Fischer schloss die Augen und versuchte, etwas von der Kraft festzuhalten, die das Klanggebäude ausstrahlte. Aber die Töne rannen davon wie die Körner in einer Sanduhr. Als wollten sie in die gewaltige Leere fliehen, die der Musik unweigerlich folgen würde.
Alles erinnerte ihn daran, dass die Zeit ablief.
Unerbittlich stürzen wir ungebremst durch Minuten und Sekunden, dachte er. Aber nicht in alle Ewigkeit.
Der Schlussakkord. Die Musik verklang. Fischer drehte den Autoschlüssel herum und schaltete das Licht aus. Die Stille, die er erwartet hatte, trat nicht ein. Das leise Trommeln des Regens erfüllte die Fahrerkabine.
Der Professor stieg aus, stand eine Weile unschlüssig inmitten der rauschenden Regentropfen und drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung.
Warum schließe ich eigentlich noch den Wagen ab?, fragte er sich. Warum gehe ich überhaupt noch in mein Haus?
Reine Gewohnheit. Außerdem hatte er noch etwas zu erledigen. Eine einzige Sache nur. Dann war er mit sich, der Welt und mit allem, was da noch kommen würde, im Reinen.
Im Haus angekommen, zog er den Mantel aus und lenkte seine Schritte auf die alte Holztreppe, die hinauf zu seinem Arbeitszimmer im ersten Stock führte. Dort ließ er sich in den großen ledernen Stuhl sinken und knipste die Schreibtischlampe an.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er an diesem Ort so etwas wie Geborgenheit empfunden. Jetzt, wo er fast alles erledigt hatte, was nötig war, wurde ihm klar, dass ihm an den Dingen hier nichts mehr lag.
Er ließ den Blick über die aufgeschlagenen Partituren, über die Tafel mit den mit Kreide geschriebenen Analysen schweifen. Als er auf dem kleinen Sekretär an der anderen Wand das Foto seiner Tochter entdeckte, spürte er einen Stich der Schuld in der Brust.
Es stimmt nicht, dass mir an den Dingen nichts mehr liegt, dachte er. Es gibt eine Ausnahme. Gwen.
Was sie im Moment wohl tat?
Wahrscheinlich stand sie auf irgendeiner Bühne. Fischer dachte nach. Nein, jetzt hatte sie wohl Proben. Am Sonntag sang sie eine Operngala in Köln, und danach kam eine Uraufführung.
Er riss sich los. Er würde sich um Gwen kümmern. Bald. Es würde vielleicht nicht mehr so werden wie früher, aber die Zeit der eisigen Kälte würde wohl der Vergangenheit angehören. Endlich.
Auf der Arbeitsfläche lagen einige karierte Blätter verstreut, die über und über mit Zahlen bedeckt waren. Mitten in dem Durcheinander befand sich ein aufgeschlagenes dickes Buch. Fischers Bibel.
Der Professor blätterte in den zerlesenen Seiten. Er hielt inne, als er auf die Passage stieß, die ihn Jahre seines Lebens gekostet hatte. Die er manchmal wie ein Mantra vor sich hin murmelte. Über die er philosophiert, diskutiert, nachgedacht und geschrieben hatte. Die ihn bis in seine Träume verfolgte. Und die er erst heute annähernd zu verstehen glaubte.
Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen. Jenen Tag aber oder die Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern nur der Vater.
Nur wenige Wörter. Aber so viele Geheimnisse.
Zwischen den nebeneinander gestopften Büchern klemmte ein alter Blumentopf. Fischer zog den irdenen Untersetzer heraus und stellte ihn auf den Schreibtisch. Sorgfältig riss er die Blätter mit den Berechnungen in kleine Fetzen und legte sie hinein.
In der Schublade fand er ein Feuerzeug. Kurz darauf hielt er die Flamme an das Papier und beobachtete, wie langsam kräuselnd der Rauch aufstieg, während sich auf den Blättern Schwärze ausbreitete und sie zu Asche zerfielen.
Denn gekommen ist der große Tag seines Zornes; und wer kann da bestehen …
Fischer hustete, als ihm Rauch in die Lungen drang, aber er ließ sich nicht beirren. Ein Blatt nach dem anderen. Die Schwärze fraß die Zahlen.
Und der erste Engel stieß in die Posaune. Und es entstand Hagel und Feuer, mit Blut gemischt, und es wurde auf die Erde geworfen, und der dritte Teil der Erde verbrannte...
Die Flammen leckten an den Blättern. Als wäre das Feuer ein lebendiges Wesen, begierig nach Zerstörung.
Und der zweite stieß in die Posaune. Und etwas wie ein großer, feuerglühender Berg wurde ins Meer geworfen, und der dritte Teil des Meeres wurde zu Blut, und der dritte Teil der Lebewesen im Meer starb...
Fischer verzog den Mund zu einem Lächeln. Wie hatte er nur so blind sein können? Es war doch im Grunde so einfach! Da diskutierten die Menschen Jahrhunderte um Jahrhunderte und erkannten die einfachsten Zeichen nicht!
Und der vierte Engel stieß in die Posaune. Und es fiel vom Himmel ein großer Stern, brennend wie eine Fackel …
Und der fünfte Engel stieß in die Posaune. Und ich sah einen Stern; der war vom Himmel auf die Erde herabgefallen …
Und der sechste Engel stieß in die Posaune...
Schließlich brannte das letzte Blatt. Fischer lehnte sich in seinen Ledersessel zurück und sah ruhig zu, wie das letzte Dokument seiner Notizen zu Asche wurde.
Erleichterung erfasste ihn.
Ein paar Zahlen. Jahrelang hatte er gearbeitet, und geblieben waren ein paar Zahlen. O Gott, dachte er, du bist nicht nur der Schöpfer des Universums, du bist auch der Erfinder der Ironie.
Das Feuer verlosch, und der Rauch verflüchtigte sich langsam.
Fischers Lebenswerk war vernichtet, aber er spürte tiefste Zufriedenheit.
Und der siebte Engel stieß in die Posaune... Und es tat sich der Tempel Gottes im Himmel auf … und es entstanden Blitze und Stimmen und Donnerschläge und Erdbeben und gewaltiger Hagel …
Jetzt bin ich wirklich bereit, dachte er.
Und es erschien am Himmel ein großes Zeichen …
Fischer atmete tief durch, doch der Rauch in seinem Zimmer ließ ihn wieder husten. Er stand auf und öffnete ein Fenster. Die abendliche Luft roch frisch. Der Regen hatte nachgelassen.
Was sollte er jetzt tun?
Warten. Nichts anderes. Warten, bis die letzten Sandkörner durch das Stundenglas der Zeiten geronnen waren …
Und Gwen anrufen.
Wieder dieser Stich.
Er stand da, bis ihn fror und er das Fenster wieder schließen musste.
Irgendwoher kam ein Knacken.
Fischer lauschte angestrengt. Wieder drang ein Geräusch an sein Ohr. Es kam von irgendwo aus dem Haus.
Jemand näherte sich über die Treppe. Holz knarrte, dann wurden die Schritte von dem Teppich im vorderen Teil des Durchgangs gedämpft.
Eine heiße Welle der Angst stieg in Fischer auf. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben.
Du hast deinen Frieden, redete er sich ein. Dir kann nichts geschehen. Du bist in Gottes Hand.
Die Schritte kamen näher. Jetzt musste der Besucher an der Tür stehen.
Wie zur Kontrolle überblickte Fischer noch einmal das Werk seiner Zerstörung. Es war nichts als Asche in dem Untersetzer. Er hatte es wiedergutgemacht. Er war frei von Sünde. Egal, was jetzt geschah.
Die Tür schwang auf.
Eine kompakte schwarze Figur stand im diffusen Licht des Arbeitszimmers und sah Fischer an. Der Professor brauchte ein paar Sekunden, bis er den Mann erkannte.
»Sie?« Fischer schnappte nach Luft. »Wie sind Sie hier hereingekommen?«
»Sie wissen, dass es für mich wenige Hürden gibt«, sagte der Mann.
»Was wollen Sie?«, ächzte Fischer. Der Raum schien zu schwanken, als befände sich der Professor auf einem Boot.
»Können Sie sich das nicht denken? Man wird Ihre Weigerung nicht einfach so hinnehmen.«
»Es ist zu spät«, rief Fischer, und seine Stimme brach vor Angst. »Es ist zu spät. Schauen Sie hier auf den Tisch. Es ist alles verbrannt.«
Der Mann kam einen Schritt auf Fischer zu. Die Enge in seiner Brust explodierte in einem schneidenden Schmerz. Und in diesem Moment wurde dem Professor klar, dass er seinen Frieden noch nicht so bald finden würde.
1
Gwendolyn Fischer steigerte sich in die letzten Takte des großen Duetts hinein.
Nur der Bruchteil einer Sekunde blieb ihr, um Kraft für die hohen Töne am Schluss zu sammeln – dem Höhepunkt des ganzen Stückes. Gemeinsam mit ihr übernahm der dicke norwegische Tenor Ole, dessen Nachnamen sie sich einfach nicht merken konnte, die Melodie. Für einen Moment fürchtete Gwen, ihre Stimme sei nicht stark genug, um mit Oles Heldenorgan mithalten zu können und das riesige Halbrund des Konzertsaals zu füllen, doch dann sah sie, wie der Dirigent Christopher Leonard sie anlächelte. Es war, als würde er den Norweger nicht im Geringsten beachten. Er sah nur sie, und allein sein Blick ging Gwen durch und durch. Ein Schauer lief durch ihren Körper, als sie sich dem Schluss des Duetts näherten, angetrieben vom Orchester und den Dirigierbewegungen. Der feuchte Glanz auf Christophers Haut hatte etwas ungemein Erotisches. Ein Schub heißer Emotionen durchströmte sie, während sie sich im Dreivierteltakt treiben ließ.
Natürlich wusste sie, dass sie den Norweger schon nach der dritten Nummer der Operngala an die Wand gesungen hatte. Ein, zwei Soloarien, und ihr Auftritt war die Sensation des Abends geworden. Dazu hatte nicht nur ihr Gesang, sondern auch ihr Äußeres beigetragen. Ihr grünes Taftkleid, das einen perfekten Kontrast zu ihrem kastanienroten Haar bildete, sorgte für einen exotischen Farbfleck auf der Bühne. Ein paar Verdi-Arien, ein paar Duette. Jetzt noch das großartige Trinklied aus La Traviata, und alle waren endgültig hingerissen.
Gwen durchschoss ein Glücksgefühl, als der letzte Ton verklang und noch in den Schlussakkord hinein Bravo-Rufe brachen. Wie eine gigantische Meereswelle gegen einen Felsen brandet, traf der Applaus die Bühne.
Sie atmete erschöpft durch und setzte automatisch ihr Bühnenlächeln auf, das ihr ihre Agentin Maria an einem langen Nachmittag beigebracht hatte und das sie vor dem Spiegel wochenlang hatte üben müssen. Gemeinsam mit dem Tenor verbeugte sie sich mehrmals, wandte den Kopf in die Mitte, dann auch in die Ecken des Auditoriums. Das hatte sie ebenfalls von Maria gelernt. Die Fans saßen schließlich überall im Saal.
»Was für ein Abend«, rief Christopher, als sie die Bühne verlassen hatten und im Seitengang standen. Ein Gefühl wie ein leichter elektrischer Schlag durchzuckte Gwen, als er sie kurz, viel zu kurz an der Schulter berührte. Ihr war klar, dass er an ihr nicht nur die Künstlerin schätzte. Schon bei der ersten Probe für diesen Abend waren sie sich nähergekommen, und der Kuss, den Christopher ihr zwei Minuten vor dem Konzert in der Garderobe gegeben hatte, hatte etwas zwischen ihnen besiegelt, was in Gwen mehr als Euphorie auslöste. Man hätte ihn als freundschaftliche Zärtlichkeit nehmen können, wie sie befreundete Kollegen vor einem schwierigen Auftritt austauschten, aber sie hatte genau gespürt, dass da noch mehr war.
Christophers Brust hob und senkte sich unter dem wei ßen Frackhemd. »Großartig!«, rief er. »Du warst einfach großartig.« Er rollte das »r« auf englische Art, und Gwen konnte am Gesichtsausdruck des Tenors erkennen, dass er das Lob auf sich bezog. So ein Dummkopf, dachte sie.
Sie war der Star des Abends, nicht er. In Marias Büro lagen eine ganze Reihe Anfragen der größten Opernbühnen. Zwei Produktionen in Berlin und Mailand waren bereits perfekt. Noch immer rauschte der Applaus im Saal. So klingt Erfolg, dachte sie. Sie sah zu Christopher, der ihr zuzwinkerte und sich dann mit einem weißen Taschentuch Schweiß von der Stirn wischte. Und so fühlt sich der Erfolg an.
Gwen fragte sich, ob Christopher vielleicht schon heute Abend mit in ihre kleine Kölner Wohnung kommen würde. Oder sollte sie sich erst zu einem Drink an der Bar seines Hotels einladen lassen? Oder würde er sie irgendwohin entführen?
Dreimal kehrten sie alle drei zurück auf die Bühne, badeten im Beifall, verbeugten sich, empfingen Blumensträuße von der Konzerthausleitung. Dann gingen die Mitwirkenden einzeln hinaus. Als Gwen an der Reihe war, steigerte sich der Applaus deutlich, und ganze Kaskaden von Bravo-Rufen versuchten das Klatschen zu übertönen. Reihenweise erhoben sich die Zuschauer von den Plätzen und jubelten ihr zu.
Zurück im Seitengang, sah Christopher Gwen auffordernd an. »Bereit für die Zugabe?«
Sie hätte gerne eine ihrer großen Soloarien wiederholt, da sie genau wusste, dass sie dem Publikum damit die größte Freude gemacht hätte. Aber das ging natürlich nicht. Bei einer Gala mussten bei einer Zugabe alle dabei sein. Und so sangen sie gemeinsam noch einmal das letzte Stück, das »Brindisi« aus Verdis La Traviata – ein Trinklied, in dem es um die Macht der Liebe und des Weins ging.
Gwen liebte dieses Stück. Schon mit sieben oder acht Jahren hatte sie es im Radio gehört und spontan mitgeträllert – freilich ohne eine Ahnung davon zu haben, was die Worte bedeuteten. Oder gar wovon die Oper handelte. Sie hatte damals nicht gewusst, dass Violetta, die man auch »die Traviata« nannte, eine Kurtisane war, und sie hatte auch von deren tragischem Ende nichts geahnt. Heute fand sie es erregend, in die Rolle einer Halbweltdame des 19. Jahrhunderts zu schlüpfen. Nicht nur hier in dieser Gala, sondern bald an den bedeutendsten Opernhäusern der Welt.
Der Jubel wollte auch nach diesem fulminanten Schluss kein Ende nehmen, und Gwen hätte sich noch ewig dem Beifall hingeben können.
Doch dann war es vorbei.
Mit gelben Rosen in der Hand ließ sie das Tosen des Saals hinter sich und eilte durch den schmalen, von Teppichboden gedämpften Flur zur Garderobe. Schließlich umgab sie nur noch das Rascheln ihres Kleids, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, befand sie sich in einem kleinen, fensterlosen, nur von Neon beleuchteten Raum in völliger Stille. In ihren Ohren rauschte es noch, und sie zwang sich, zur Ruhe zu kommen.
Sie legte die Blumen auf die Schminkkonsole vor dem Spiegel, wo bereits weitere Sträuße angekommen waren. Von Fans, Freunden, Kritikern. Leuten von Plattenfirmen, die sie nach dem Konzert treffen musste. Wahrscheinlich hatte der Veranstalter mit Maria zusammen etwas organisiert. Ein Zusammensein in einem schicken Restaurant in der Kölner Altstadt …
Solche Essen wirkten nach außen hin wie der fröhliche Ausklang eines Konzertabends, doch hinter der Fassade waren sie entscheidender Bestandteil des Geschäfts. Das heutige Konzert war die letzte Bewährung vor Gwens ganz großem Durchbruch. Eine letzte Hürde vor den Engagements, die vor ihr lagen. Schon in wenigen Monaten würde sie die Violetta in einer Neuinszenierung an der Mailänder Scala singen. Und vorher stand noch ein ganz besonderes Projekt an: eine Uraufführung. Wieder mit Christopher. Er war nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist.
Erfolg, Erfolg, Erfolg, hämmerte es in Gwens Kopf, und fast unbewusst flüsterte sie die beiden Silben in schnellem Stakkato vor sich hin, um die seltsame Stille zu füllen, die sie nach all dem Glanz in diesem kleinen, hässlichen Raum umgab. Doch es half alles nichts. Wie nach jedem Konzert welkte die Euphorie, die noch wenige Minuten zuvor durch ihre Adern geströmt war, dahin. Es war fast wie ein kleiner Anfall von Klaustrophobie oder eine Ahnung von Trauer, ein Wolkenschatten, der sich auf alles legte. Gwen wusste aus Erfahrung, dass sie sich gegen diese Momente der plötzlichen Depression nach dem Hochgefühl der Aufführung nur wehren konnte, indem sie wenig nachdachte und stattdessen einfach tat, was getan werden musste. Abschminken. Umziehen. Frisch machen. Die Niedergeschlagenheit verflog nach wenigen Minuten wieder.
Hinter der Garderobentür entstand Gemurmel. Die Fans warteten. Die Autogrammjäger. Einigen gelang es immer wieder, in die hinteren Räume der Philharmonie zu gelangen. Andere standen sicher bereits am Künstlerausgang.
Natürlich konnte sie ihre Bewunderer nicht warten lassen. Man durfte es dabei aber nicht übertreiben. Es war eine Kunst, genau die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Unnahbarkeit zu treffen. Einerseits sollte man nach einem Konzert erst auftauchen, wenn sich genug Fans angesammelt hatten. Damit man auch demonstrieren konnte, wie begehrt man war. Andererseits durfte man nicht riskieren, sie so lange auf die Folter zu spannen, dass sie enttäuscht nach Hause gingen.
Gwen schlüpfte rasch aus dem grünen Taftkleid, hängte es auf einem Bügel an die Schranktür und zog ihre Alltagskleidung an, die auf dem Stuhl bereitlag: eine blaue Jeans, ein heller Pullover. In dem großen Spiegel, der die gesamte Längsseite der Wand bedeckte, prüfte sie ihr Aussehen. Sie war noch stark geschminkt, viel zu auffallend, um sich auf der Straße sehen zu lassen. Das würde sie schnell ändern.
Die Menschen, die sie gleich traf, würden zweimal hinsehen müssen, um sie zu erkennen. Dieser Effekt war wichtig. Das Publikum musste nach der Begegnung den Eindruck haben, dass sie eine ganz normale junge Frau war.
Eine wie du und ich.
Kaum zu glauben, dass in diesem sympathischen Mädchen eine solche Stimme steckt. Und sie hat so gar keine Starallüren...
Gwen hantierte schon eine Weile mit ihren Schminkutensilien, als es klopfte und sich fast gleichzeitig die Tür öffnete. Es war Maria, die sich hereinquetschte und die Tür sofort wieder schloss.
»Gwen, du warst so was von großartig«, rief sie mit dunkler Stimme, stürzte auf die Sängerin zu und fiel ihr ohne Umschweife um den Hals. »Wie fühlst du dich?« Maria ließ von ihr ab und hielt sie an den Unterarmen fest. »Meine Güte. Ganz heiß. Hat es dich sehr angestrengt?«
Wie immer hatte Maria ihre etwas ausladende Figur in ein ockerfarbenes Kostüm gezwängt; die braunen Haare umspielten ihr kreisrundes Gesicht, und in der Hand hielt sie ihre berühmte Handtasche aus glänzendem bräunlichem Leder, die so unermesslich viele nützliche Dinge enthielt, dass es an ein Wunder grenzte: den Kalender mit allen Details für jeden Auftritt, Vertragsentwürfe, Kopfschmerztabletten, Hustenmittel, CDs, Papiertaschentücher, Programmhefte, Telefonnummern und vieles mehr. Marias Wundertasche war in der Branche legendär.
Gwen wandte sich wieder dem Spiegel zu und wischte sich mit einem Papiertuch über das Gesicht. »So gut ist es mir noch nie gegangen. Und den Norweger habe ich an die Wand gesungen.«
Maria lachte. »Du wirst noch ganz andere in Grund und Boden singen.«
»Wo gehen wir essen? Wer wird dabei sein?«
»Christopher auf jeden Fall«, sagte Maria und warf Gwen einen eindeutigen Blick zu. »Und auch sonst noch ein paar wichtige Leute. Presse. Veranstalter. Intendanten. Es ist alles organisiert.« Sie musterte die Blumensträuße und nickte anerkennend. »Das hier sind … eins, zwei, drei, vier... acht Stück. Wenn du an einem Abend mal dreihundert kriegst, hast du Maria Callas eingeholt.«
Gwen wollte etwas erwidern, doch da geschah etwas Unerwartetes.
Ein lautes Klingeln erfüllte den Raum.
»Ist das dein Handy?«, fragte Gwen.
Maria sah sich irritiert um. »Nein.«
Auf der kleinen Ablage zwischen dem schmalen Sofa und der Wand stand ein schmutzig grauer Festnetzapparat.
»Wer kann das sein?«, fragte Gwen.
»Vielleicht jemand vom Haus. Ich kläre das.«
Maria griff nach dem Hörer. »Ja?«, sagte sie in einem Ton, der nicht gerade freundlich klang.
Gwen hörte, dass auf der anderen Seite gesprochen wurde. Sie konnte jedoch kein Wort verstehen.
»Ja, sicher«, sagte Maria etwas sanfter und runzelte die Stirn. »Wenn es sein muss. Einen Moment.« Sie hielt Gwen den Hörer hin. »Für dich.«
In einer anderen Stadt viele hundert Kilometer entfernt lief ein Mann ziellos durch nächtliche Straßen. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, und seine Kleidung war längst durchnässt, aber er spürte es nicht.
Ab und zu wich er Passanten aus, die mit ihren gro ßen Regenschirmen die Gehsteige bevölkerten. Schließlich blieb er stehen und drückte sich in eine dunkle Toreinfahrt.
Es hat keinen Zweck, sagte er sich. Du musst dazu stehen, was geschehen ist. Der Weg ins Himmelreich ist ein für alle Mal verstellt. Es ist vorbei. Mach dir nichts vor. Alles, was du noch zu erwarten hast, ist die Gnade des Herrn.
Zwei Tage hatte er sich im Zimmer seiner kleinen Absteige verkrochen und von Gewissensbissen geplagt die Zeit verstreichen lassen. Dann hatte er es in der engen Kammer nicht mehr ausgehalten. Er war hinaus in die Stadt gerannt, durch die Dunkelheit, weiter und weiter – über den Asphalt und durch Parks, durch Wohngebiete und an nächtlichen Einkaufszentren vorbei. Einmal war er an einer Kirche vorbeigekommen, hatte sich hineingesetzt und versucht zu beten. Aber er war nicht zur Ruhe gekommen. Es hatte ihn wieder ins Freie getrieben.
Er wühlte in den Taschen seines Anzugs. Seine Finger betasteten die Perlen des Rosenkranzes, den er stets bei sich trug, doch dann fand er sein Handy. Er schaltete es ein und betrachtete die erleuchteten Zahlen des Tastenfelds, bevor er den vierstelligen Code eingab, um es anzuschalten.
Doch der Mann zögerte immer noch.
Schließlich gab er sich einen Ruck und drückte entschlossen die Wahlwiederholung. Quälend lange Sekunden verstrichen, während das Mobiltelefon eine Verbindung aufbaute.
Es klingelte nur ein einziges Mal, bevor sich eine Männerstimme meldete.
2
Gwendolyn fiel es schwer, sich auf den Mann zu konzentrieren, der auf sie einredete. Sie war ungeduldig. Drau ßen wartete die Presse, warteten die Fans, warteten wichtige Leute. Und dieser Mann sprach von ihrem Vater.
»Johansen. Ich bin Rechtsanwalt und Notar hier in Leipzig. Frau Fischer, es tut mir leid, aber Ihr Vater ist verstorben. Mein herzliches Beileid.«
»Wie ist das passiert?«, fragte sie mechanisch, dabei wusste sie, dass ihr Vater ziemlich alt gewesen war, weit über siebzig.
»Unsere Kanzlei regelt den letzten Willen Ihres Vaters«, sagte der Notar, und Gwen wurde vage bewusst, dass das keine Antwort auf ihre Frage war.
»Danke, dass Sie es mir gesagt haben, Herr Johansen. Entschuldigen Sie, aber ich kann gerade nicht so gut telefonieren.«
»Es ist einiges testamentarisch zu klären, Frau Fischer.«
Maria stand an der Tür und deutete auf ihre Armbanduhr. Gwen musste den Mann abwimmeln. Sie hatte nun wirklich keine Zeit.
»Das kann ich mir vorstellen. Wann kann ich Sie anrufen?«
»Wir müssen uns persönlich treffen, Frau Fischer. Und zwar sehr bald.«
»Meine Agentur meldet sich bei Ihnen, Herr Johansen. Es ist jetzt wirklich sehr ungünstig. Auf Wiederhören.«
»Warten Sie. Nur eine Minute, Frau Fischer.« Jemand klopfte an die Tür. Maria öffnete sie einen Spalt, sah Gwen an und deutete nach draußen. Dann verließ sie die Garderobe.
»Müssen wir das gerade jetzt besprechen, Herr Johansen? Ich habe gerade eine schwere Aufführung hinter mir.«
»Es tut mir sehr leid, ich habe versucht, Sie schon vor Tagen zu erreichen, aber es ist mir nicht gelungen. Auch nicht bei Ihrer Agentur.«
Kein Wunder. Gwen war nicht nur mit der Operngala beschäftigt gewesen, sondern sie hatte auch Leonards neues Stück lernen müssen. Maria war ununterbrochen bei den Proben dabei gewesen und hatte mit allen möglichen wichtigen Leuten gesprochen, die sich wegen der Operngala gerade in Köln aufhielten. Und jetzt am Wochenende war Marias Büro nicht besetzt.
»Es ist leider erforderlich, dass Sie schon morgen früh in Leipzig sind«, fuhr Johansen fort.
Gwen glaubte sich verhört zu haben. Hatte der Mann überhaupt eine Ahnung, was er von ihr verlangte?
»Morgen früh? Wie stellen Sie sich das vor? Und warum überhaupt?«
»Frau Fischer, ich weiß, dass Sie im Moment viel für Ihre Karriere zu tun haben. Aber es war der letzte Wille Ihres Vaters, dass die Beerdigung und die Testamentseröffnung am selben Tag stattfinden und dass Sie bei der Beerdigung dabei sind. Genau drei Tage nach seinem Tod wollte Ihr Vater beerdigt werden. Ich habe alles organisiert und mich exakt daran gehalten, und ich möchte Ihnen nur empfehlen, es auch zu tun. Selbstverständlich kann ich Sie zu nichts zwingen.«
Jetzt steckte Maria wieder den Kopf durch den Türspalt.
»Es tut mir leid«, sagte Gwen kühl. »Ich muss mich um meine beruflichen Belange kümmern. Nächste Woche kann ich es vielleicht irgendwann einrichten. Lassen Sie uns das Testament dann eröffnen. Ich bin sicher, dass die Beerdigung auch ohne mich stattfindet. Sollten irgendwelche Kosten entstehen, schicken Sie mir bitte die Rechnung.«
Gwen erschrak beinahe darüber, wie berechnend ihre Worte klangen. Sie wirkte auf Johansen sicher furchtbar pietätlos.
»Frau Fischer, lassen Sie mich noch etwas sagen. Sie lagen Ihrem Vater immer sehr am Herzen, das hat er mir selbst erzählt.«
Ich lag ihm sehr am Herzen?, dachte Gwen. Das ist wohl ein Scherz. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen? Es mussten Jahre sein.
»… aber wenn das Ihr letztes Wort ist, kann ich das nur akzeptieren. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen, dass in diesem Fall das Testament ungeöffnet vernichtet wird und Sie bis auf den Pflichtteil von dem Erbe ausgeschlossen werden.«
»Was?«
»So hat es Ihr Vater verfügt.«
»Aber warum ist es so wichtig, dass ich auf der Beerdigung erscheine?«
»Ich denke, er hatte seine Gründe. Und ich denke, Sie werden es erfahren, wenn Sie das erhalten, was ich Ihnen bei der Testamentseröffnung übergeben soll.«
Gwen schluckte. Was sollte das nun wieder bedeuten? Sie sah zur Tür. Maria war wieder verschwunden.
»Wenn Sie jetzt mit Ihrem Vater brechen, brechen Sie für alle Zeiten mit ihm«, sagte Johansen langsam. »Sie sollten das in Betracht ziehen.«
Gwen überdachte ihre Termine. Was stand als Nächstes an? Das Konzert in Berlin. Mit Christophers Komposition. Leipzig lag praktisch auf dem Weg.
»Bedenken Sie, was Ihr Vater Ihnen hinterlässt, Frau Fischer. Es geht ja nicht nur um Geld. Es geht um wissenschaftliche Forschungen. Um wertvolle Noten. Um den Nachlass eines Gelehrten.«
Ja, dachte Gwen, und vor ihrem inneren Auge entstand das Bild eines mit Büchern und Manuskripten vollgestopften Arbeitszimmers, in dem es nach Staub und schlechter Luft roch. Ein Nachlass, mit dem ich mich herumschlagen muss …
»Aber morgen früh in Leipzig sein … Wie soll das ge hen?«
»Ich habe alles geregelt«, sagte der Notar. »Ich habe für morgen früh einen Flug von Köln/Bonn aus gebucht. Sie werden sehr früh da sein. Schon gegen sieben Uhr. Ich kann Ihnen zum Aufenthalt bis zur Beerdigung um zehn ein Hotelzimmer besorgen, in dem Sie sich ausruhen können, wenn Sie möchten. Ihr Flugticket liegt am Flughafen für Sie bereit.«
Die Tür öffnete sich abermals, und Maria kam herein. Kurz war von draußen wieder Lärm zu vernehmen. Er war jetzt viel lauter. Jemand lachte. Offenbar herrschte auf dem Gang beste Stimmung. Die Agentin deutete wieder auf ihre Armbanduhr.
»Ich bin sicher, Ihr Vater hat Sie geliebt. Auch wenn Sie damals im Streit auseinandergegangen sind. Im Tode sollte man sich versöhnen, Frau Fischer.«
Sie starrte einen Moment Maria an, die sich gerade umdrehte und mit jemandem sprach, der auf dem Gang stand.
»Geben Sie mir die Uhrzeit und die Flugnummer«, sagte sie. »Und den Namen des Hotels. Ich werde kommen.«
»Volpone«, kam es aus dem Hörer. Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. Die Stimme des Padre schnitt in Volpones Seele wie ein eiskalter Dolch.
»Ja, Padre. Ich bin es.«
»Endlich. Was hast du erreicht? Hast du das Dokument erhalten?«
Volpones Herz raste. Wie ein Tier, das verzweifelt versucht, einem Käfig zu entrinnen.
»Ich fürchte, nein, Padre...«
»Noch immer nicht? Warum?«
»Es ist etwas geschehen.«
»Was heißt das?«
Volpones Körper überzog eine Schicht aus Kälte, und er wusste nicht, ob es an seinen durchweichten Kleidern lag oder daran, dass er gleich voll und ganz dem Zorn des Padre ausgeliefert sein würde.
»Was ist geschehen?«
Volpone berichtete, was es zu berichten gab. Der Padre unterbrach ihn kein einziges Mal. Als Volpone fertig war, lag nichts als Stille in der Leitung. Unheilvolle Stille.
»Padre?«, rief Volpone. »Padre? Sind Sie noch da?«
Ein Schnaufen drang aus dem Hörer.
»Welch furchtbare Entwicklung.«
Volpone spürte ein Gefühl von Hitze hinter seinen Augen, und plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen.
»Ich weiß, Padre. Ich habe versagt.«
»Habe ich es dir nicht immer wieder gepredigt? Nur in der Geduld liegt die Kraft. Besser ist ein Langmütiger als ein Kriegsheld, und wer sich selbst beherrscht, als wer eine Stadt erobert.«
Das Buch der Sprüche, dachte Volpone automatisch. So oft hatte der Padre ihm Bibelzitate eingeimpft, dass sein Verstand wie selbstverständlich alle Worte der Heiligen Schrift zuordnete.
»Mein Gott, welche Schuld hast du auf dich geladen …«, sagte der Padre, und jetzt war seine Stimme voller Ekel.
Volpone versuchte, etwas zu sagen, aber ihm entfuhr nur ein Wimmern. Wie konnte er sich verteidigen angesichts der Katastrophe, die geschehen war?
»Hast du denn danach gesucht?«
Volpone wusste, dass die Rüge des Padre bei Weitem nicht das Schlimmste war, das ihm drohte. Der Boden schien unter ihm zu schwanken. Am liebsten wäre er hier, mitten auf der Straße, auf die Knie gesunken – vor Demut und Zerknirschung.
»Was kann ich tun, Padre? Ich bereue, was geschehen ist. Ich bereue es zutiefst. Ich bin in Ihrer Hand. Voll und ganz. Ich... ich werfe mich in Ihre Arme und bitte Sie nur um eines: Sagen Sie mir, wie ich es wiedergutmachen kann.«
»Du bereust?«
»Ich bereue.«
»Von ganzem Herzen?«
»Von ganzem Herzen.«
»Ego te absolvo, mein Sohn.«
Ein weiterer heißer Schwall von Tränen. Dankbarkeit erfüllte Volpone. Der Padre hatte ihn mein Sohn genannt …
»Ich weiß jedoch nicht, ob Gott dir vergeben wird. Angesichts dieses Ausmaßes …«
Volpone nagte an seiner Unterlippe. »So danke ich wenigstens Ihnen, Padre. Ich werde nun zu Ihnen zurückkehren. Alles ist vorbei.«
»Du bleibst, wo du bist. Wir müssen das Dokument unbedingt finden. Irgendwo muss es sein. Und unaufhörlich verrinnt die Zeit.«
Ein paar Sekunden kam aus dem Hörer nichts als Stille. Volpone beobachtete, wie der Regen in langen Schleiern durch den Lichtkegel einer Straßenlaterne fiel.
»Es wird jemanden geben, der das Versteck kennt«, sagte der Padre.
»Sie meinen, jemand anders?«
»Es ist eine Möglichkeit.«
»Was meinen Sie damit?«
»Jemand wird nach Leipzig kommen.«
»Wer ist es?«
»Hör mir genau zu.«
Volpone lauschte ein paar Minuten den strengen Instruktionen. Dann war das Gespräch beendet. Volpone drückte den roten Knopf auf seinem Handy. Er spürte, wie die Last der vergangenen Tage wich und einem Gefühl von neu erlangter Kraft Platz machte.
Zum ersten Mal ging er wieder langsam und bedächtig. Ohne sich um den Regen zu kümmern, lenkte er seine Schritte in Richtung seiner Unterkunft, wobei er immer wieder die Anweisungen des Padre im Geiste rekapitulierte.
Er, Volpone, war ein Werkzeug.
Ein Werkzeug in den Händen des Herrn.
Der Regen wusch seine Tränen weg. Und Volpone wurde stärker und stärker. Er nahm sich vor, jetzt keinen Fehler mehr zu machen. Sich in Geduld zu üben. Zu warten, wenn es angebracht war.
Und im richtigen Moment zuzuschlagen.
3
Christopher saß neben Gwen am Tisch des Restaurants, das sie nach dem Konzert besuchten, und sah sie stumm an. Ein Journalist, der ihr gegenübersaß, schien nicht zu spüren, dass ihr gar nicht danach war, irgendwelche Fragen zu beantworten, doch er redete immer weiter auf sie ein. Gwen hörte gar nicht zu und betrachtete Christophers männlich-kantiges Gesicht, dem sie sich langsam näherte. Es war wie in einer Szene in einem alten romantischen Film. Gleich würde sich das Paar küssen und seine Liebe besiegeln – und auch ein kurzer Abstecher nach Leipzig würde an dieser Liebe nicht das Geringste ändern.
Und dann brach der Alarm los.
Gwen war sich jedenfalls sicher, dass es ein Alarm war, denn was sollte sonst in einem abendlichen Restaurant voller Gäste plötzlich schrill losklingeln?
Gwen lag auf einmal auf dem Bauch. Was war geschehen? War sie ohnmächtig gewesen?
Sie hob den Kopf. Es war dunkel. Sie sah nichts als die Digitalanzeige des Radioweckers, die ihr entgegenleuchtete. Leise Musik erklang.
Es war vier Uhr dreißig.
Das Taxi!
Gwen hatte verschlafen.
Sie mühte sich aus dem Bett und tastete sich in der Dunkelheit zur Wohnungstür. Erst hier machte sie Licht. Sie musste in der plötzlichen Helligkeit blinzeln.
»Ich bin in fünf Minuten unten«, rief sie mit belegter Stimme.
Sie eilte ins Bad. Ihr Spiegelbild hatte nichts mehr mit der glamourösen, gut aussehenden Gwen des vorigen Abends gemeinsam. Ihre Augen waren rot, ihre Haut wirkte gelblich. Geradezu abstoßend.
Egal, sie hatte keine Zeit.
Sie wusch sich flüchtig und zog sich an. Ihr Haar band sie mit einem Gummi zum Pferdeschwanz. Ihr Gepäck hatte sie noch am Abend zurechtgestellt, sodass sie nur den Koffer mit den Rollen und ihre Handtasche zu nehmen brauchte.
Kurz darauf verließ sie die Wohnung und stieg in das Taxi, das mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der engen Straße auf sie wartete.
Eine gute Stunde später saß sie im Flugzeug und blickte auf das nächtliche Rollfeld hinaus. Blaue und weiße Lichter spiegelten sich im nassen Asphalt, und feine Regentropfen schlugen gegen die kleine Scheibe. Die Maschine stand noch. Offenbar wartete der Pilot auf das Zeichen zum Start.
Sie schloss die Augen und dachte wieder an Christopher. Wie er auf die Nachricht reagiert hatte. Seine sanfte Stimme.
»Dein Vater – tot? Oh, wie schlimm muss das für dich sein. Ich wünsche dir Kraft.«
Maria hatte da etwas nüchterner reagiert. Sie hatte zwar Gwen formell ihr Beileid ausgesprochen, war dann jedoch sofort zur Terminplanung übergegangen. Gwen konnte sie beruhigen: Durch die Beerdigung hatte sich nichts geändert. Leipzig lag auf dem Weg, bis zur Uraufführung waren es noch vier Tage. Gwen hatte ihre Rolle fast perfekt gelernt, und Christopher versprach ihr, die Orchesterproben vorzuziehen, damit alle gut vorbereitet waren, wenn sie dazukam.
Im Flugzeug herrschte die eigenartige, künstliche Atmosphäre aus Lüftungsrauschen und den gedämpften Gesprächen der anderen Passagiere. Daneben dudelte leise Musik – zu leise, als dass Gwen herausfinden konnte, um was es sich handelte.
Sie blickte hinaus in den Regen und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Was fühlte sie? Was ging in ihr vor?
Dein Vater ist tot, sagte sie sich. Du musst um ihn trauern. Das bist du ihm schuldig. Du hast ja gehört, dass er dich nicht vergessen hat …
Der Gedanke löste in ihr jedoch keine Empfindungen aus. Alles schien an einem harten Korsett abzuprallen …
Wie hatte sie ihn in Erinnerung?
Als alten, schlecht rasierten Mann mit schütterem Haar, der Rücken krumm vom vielen Herunterbeugen auf Manuskripte und Bücher.
Ihr Vater war die Art Gelehrter gewesen, wie sie tausendfach in Komödien karikiert wurden: Er war imstande gewesen, einen Vormittag lang seine Brille zu suchen, die er auf der Nase trug, und oft vergrub er sich so sehr in seine Forschungen, dass er ganz normale Termine vergaß – Vorlesungen, Verabredungen oder einfach das Essen.
Und seine Kleidung! Gwen hatte ihn nie anders erlebt, als mit ausgebeulten Cordhosen und groß karierten Flanellhemden bekleidet. Sie erinnerte sich daran, wie er zu ihren ersten Konzerten gekommen war, ohne es für nötig zu erachten, sich für diesen Anlass umzuziehen. Geschweige denn zu duschen.
Das Konzertleben war nicht die Welt ihres Vaters gewesen. Er hatte sich stets lieber im stillen Kämmerlein aufgehalten und versucht, den Partituren durch komplizierte Analysen Erkenntnisse zu entlocken. Erkenntnisse, die Gwen entweder nicht verstand, oder für völlig nebensächlich hielt angesichts der emotionalen Kraft, die sie bei klingender Musik empfand.
Vor allem die Musik von Johann Sebastian Bach war das große Thema ihres Vaters gewesen. Eine Musik, die Gwen immer eher mit Gefühlen wie Strenge, Ernst und Kälte verband, von der ihr Vater jedoch stets behauptete, sie sei mehr als einfach nur Musik, sie sei so etwas wie tönende Philosophie, ein klingendes Ebenbild der Welt.
Jede Melodie, jede kleine Phrase deutete er tiefgründig und entwickelte Theorien darüber, wie die Noten mit den altertümlichen Kantatentexten in Zusammenhang zu bringen waren und mit welcher Kompliziertheit sich die einzelnen Stimmen ineinander verschränkten.
Gwen hatte das nie verstanden und die Ausführungen nur mit einem bleiernen Gefühl der Müdigkeit ertragen.
Auch andere Komponisten bezog ihr Vater in seine Ausführungen mit ein – von Monteverdi bis Wagner, von Mozart bis Puccini. Eine Wand seines Arbeitszimmers hatte eine große Tafel mit Notenlinien bedeckt. Wie in der Schule im Musiksaal. Dort schrieb er, der Bilderbuchprofessor, mit quietschender Kreide einzelne Fetzen der Musik, die Gwen in der Hochschule gerade einstudierte, in Noten untereinander, sodass das Tafelbild aussah wie eine gewaltige Addition. Und wie bei einer Berechnung suchte er nach einem gemeinsamen Nenner für die Art und Weise, wie sich diese Melodien entwickelten. Wie ein Mathematiker setzte er einen großen Querstrich unter seine Tabelle, unter den er dann irgendwelche Kürzel schrieb. Und am Ende wies er Gwen immer wieder nach, dass sich alle Musik, egal von wem, schon in Bachs Werken fand.
Anfangs hatte Gwen noch zu glauben versucht, dass diese Vorträge etwas Wichtiges, etwas geradezu Elementares enthielten, was sie unbedingt wissen musste, um eine gute Sängerin zu werden. Sie hatte sich selbst für dumm gehalten, weil sie die Analysen nicht verstand, die ihr Vater vor ihr ausbreitete. Und weil sie beim besten Willen nicht begriff, warum das alles so wichtig sein sollte.
Doch eines Tages wurde ihr klar, dass all dies nichts mit dem zu tun hatte, was sie selbst an der Musik liebte. Es waren einfach zwei verschiedene Dinge, Musik rational zu verstehen oder sich voll und ganz in die elektrisierende Kraft einer Opernarie zu stürzen – einfach zu singen und dabei die ganze Leidenschaft, die Komponisten wie Verdi oder Puccini hineingelegt hatten, zum Ausdruck zu bringen. Nur wenn sie sang, hatte Gwen das Gefühl, ein ganzer Mensch zu sein. Wie ein Fisch im Wasser. So einfach war das. Die Noten und Zahlen an der staubigen Wandtafel, diese Reduzierung von Musik auf Mathematik, lähmte sie nur. Eine Welt der Zahlen konnte keine Welt der Musik sein. Zahlen hatten kein Gefühl. Und in einer Welt ohne Gefühl konnte sich Gwen nicht aufhalten. Sie starb darin.
Schon deshalb konnte sie die Begeisterung ihres Vaters nicht teilen.
Und aus einem anderen Grund, der ihr größtes Geheimnis war.
Gwendolyn Fischer, die umjubelte Opernsängerin, die gerade vor dem Start in ihre Weltkarriere stand, hatte nie richtig Notenlesen gelernt.
Kein Journalist wusste es, kein Kollege, und auch in ihren Gesprächen mit Maria hatte sie das Thema nur einmal kurz gestreift. Ihre Kollegen oder viele Menschen aus der Musikwelt und der Öffentlichkeit hätten dies als Schwäche ausgelegt. Eine professionelle, demnächst hoch bezahlte Musikerin, die nichts mit Noten und mit Partituren anfangen konnte? Lächerlich!
Doch für Gwen war das kein Problem. Sie brauchte das Notenlesen nicht, denn sie hatte dafür eine andere Begabung. Sie verfügte über ein phänomenales Gedächtnis.
Musste sie eine Opernpartie lernen, hörte sie sich eine CD mit dem betreffenden Stück genau drei Mal an. Beim ersten Hören kannte sie das Werk in groben Zügen bereits auswendig. Beim zweiten Mal ließ sie ihre Stimme mitsummen, um bestimmte schwierige Stellen aufzuspüren, die ihr vielleicht technische Probleme bereiten konnten. Das dritte Hören war nur zur Überprüfung nötig. Danach saß die Rolle gewöhnlich perfekt – auch wenn die Oper drei Stunden dauerte und sie eine Titelpartie übernahm.
Die Öffentlichkeit ahnte nichts davon, und auch ihr Vater hatte nichts davon gewusst. Kein Wunder, dass er zornig geworden war, wenn sie verständnislos vor seinen Berechnungen saß …
Wann hatte sie zum letzten Mal von ihm gehört? Sie musste sich eine Weile besinnen, und nach und nach wurde ihr klar, dass es mehr als fünf, sechs Jahre her war.
Im Jahr 2000, lange nachdem sie sich vom Einfluss ihres Vaters losgesagt hatte, war ihr ein Zeitungsartikel in die Hände gefallen. Dieses Jahr war nicht nur der Beginn des Millenniums und das Heilige Jahr der katholischen Kirche, sondern auch ein sogenanntes Bachjahr: Der Komponist war genau 250 Jahre zuvor gestorben. Die Musikbranche zelebrierte das Ereignis mit einer Flut von CD-Veröffentlichungen, mit Konzerten und Artikeln in Zeitungen und Magazinen. Auch mit Beiträgen über Menschen, die sich mit Bachs Musik auskannten. Gwen hatte ihren Vater auf dem Bild in einer Zeitung sofort erkannt: kariertes Flanellhemd und Cordhose.
Sie blickte erneut auf die verregnete Startbahn hinaus. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und begann zu rollen. Die weißen und blauen Lichter wanderten langsam vorbei.
Kopf hoch, sagte sich Gwen. Das Ganze ist nur eine Formalität. Du besuchst die Beerdigung, regelst mit dem Anwalt den Nachlass, und dann geht es nach Berlin. Dort triffst du Christopher und probst mit ihm für das Konzert. Christopher …
Wie fast jedem Dirigenten, mit dem sie zusammenarbeitete, hatte sie auch ihm irgendwann beichten müssen, dass sie mit Noten nichts anfangen konnte. Und selten hatte jemand so schnell Verständnis dafür gezeigt wie er. Und das war umso außergewöhnlicher, da es sich ja um eine Uraufführung handelte. Es gab für Gwen keine CD zum Üben. Christopher selbst würde ihr das Werk Note für Note vorspielen müssen – immerhin ein fast einstündiger Zyklus von orchesterbegleiteten Liedern nach Texten von Rilke.
Gwen hatte die Partitur erhalten, einen Blick hineingeworfen und ein paar Textzeilen gelesen, bevor sie die Mappe wieder weglegte. Ihr Gedächtnis hatte die Texte sofort gespeichert, und jetzt kam ihr der Anfang des ersten Liedes wieder in Erinnerung.
Leise hört ich dich rufen / in jedem Flüstern und Wehn. Auf lauter weißen Stufen, die meine Wünsche sich schufen, hör ich dein Zu-mir-Gehn.
Das Flugzeug gewann an Tempo. Die Lichter drau ßen wanderten nicht mehr, sie rasten. Auch der Regen, der an die Scheibe schlug, schien stärker zu werden. Die Wassertropfen zogen, getrieben vom Fahrtwind, in feinen Bahnen nach hinten.
Und während Gwen von der Beschleunigung der Maschine in den Sitz gedrückt wurde, schloss sie die Augen und dachte an das Gedicht.
Christopher.
In jedem Flüstern und Wehn …
4
Hauptkommissar Tobias Brandt schlich in seinem silbernen BMW-Z3-Cabrio die schnurgerade Straße entlang, die in die Leipziger Innenstadt führte. Vor ihm kroch eine Straßenbahn, die in regelmäßigen Abständen stehen blieb, um Fahrgäste aus- und einsteigen zu lassen, und dabei jedes Mal die Straße blockierte. Brandt bremste, zog an seiner selbst gedrehten Zigarette und atmete dichten Qualm aus. Das schwarze Cabriodach war jetzt, im November, geschlossen.
Die Digitalanzeige unter dem Tacho zeigte acht Uhr fünfundfünfzig. Vor etwa anderthalb Stunden hätte Brandt seinen Dienst anzutreten gehabt. Er würde unweigerlich den Unwillen des Dezernatsleiters auf sich ziehen.
Die Straßenbahn hielt schon wieder. Brandt zwang sich, ruhig zu bleiben. Als sie sich langsam in Gang setzte, nutzte er die Gelegenheit zu einem beherzten Überholmanöver.
Um sieben Minuten nach neun erreichte der Aufzug die Etage des K 11, des Kommissariats für Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit, wo Brandt seit zwei Jahren arbeitete.
Die Dienststelle befand sich in der Polizeidirektion in der Dimitroffstraße; unter den Mitarbeitern hieß die Behörde nur »der Barockpalast«. Die zwischen Simsen, wuchtigen Säulen und Bogen hinausschauenden Fenster starrten in drei Richtungen gleichzeitig – wie ein lauerndes Tier, das seine Umgebung fest im Blick hält.
Gelegentlich bekam Brandt von Kollegen zu hören, dass er als Kettenraucher seit Jahren Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit beging. Ihm war klar, dass die Bemerkung nicht unbedingt als Witz gemeint war.
Der Büromief löste eine Welle der Unlust in ihm aus. Am Tag zuvor, an seinem letzten Urlaubstag, war er noch durch die Leipziger Kneipen gezogen und hatte versucht, den zwei Wochen Freizeit die passende Krönung zu verleihen. Leider war es ihm nicht gelungen, die Zwanzigjährige mit dem Push-up-BH, mit der er an der Bar gesessen hatte, mit nach Hause zu nehmen. Sie hatte ihn nur angelächelt, und in ihrem Blick hatte ein Ausdruck gelegen, den Brandt nur allzu gut kannte und der leider immer öfter in den Augen der Mädchen lag, die er zu verführen versuchte: Was willst du denn, du alter Sack? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit dir einlasse? Aber zuzusehen, wie du dich abmühst, ist echt cool. Bis was Besseres passiert, kann ich mir das ja mal ansehen.
Und dabei hatte sie genüsslich ihre zartrosa Lippen um den Strohhalm des Cocktails gelegt, den er dann bezahlt hatte.
Brandt wurde schmerzlich bewusst, dass er in zwei Jahren fünfzig wurde.
Gegen halb eins hatte er es aufgegeben. Zu einer Zeit, zu der es früher eigentlich erst losgegangen war.
Er betrat das verwaiste Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und griff automatisch in seine ausgewaschene Jeans, um den Tabaksbeutel herauszukramen. Rauchen war im Büro natürlich verboten.
»Na, Herr Kollege? Wieder im Dienst?«
Er drehte sich um und blickte direkt in Nagels glatt rasiertes Gesicht. Eine Wolke Aftershave umgab den Dezernatsleiter. Seine Kleidung strahlte Sauberkeit und Frische aus. Es war im Polizeipräsidium ein offenes Geheimnis, dass Nagel offen danach trachtete, im Geschmack seiner Kleidung und seines Duftes Staatsanwalt Dr. Schneider zu kopieren. Wie er trug Nagel einen hellgrauen Armani-Anzug, weißes Hemd und Krawatten mit verwirrenden Mustern, in denen neben verschiedenen Grautönen irgendwo ein Stich Blau auftauchte. Nicht nur die Kleidung, auch die goldene Uhr hätte Nagel mit Dr. Schneider ohne Weiteres tauschen können, genau wie die schwarz geränderte Brille. Im Präsidium ging das Gerücht, dass Nagels Nasenfahrrad aus Fensterglas bestand. Er trug es nur, um Dr. Schneider äußerlich noch ähnlicher zu sein.
»Danke der Nachfrage. Der Urlaub war erholsam.«
»Haben Sie mal auf die Uhr geschaut?«
Brandt sah Nagel nicht ins Gesicht, sondern zupfte an den Akten herum, die auf dem Schreibtisch lagen. Er las einen mit dickem Filzstift geschriebenen Namen: Adrian Fischer.
»Ich habe Sie was gefragt.«
»Ich habe es gehört. Wir haben zehn nach neun. Aber haben Sie nicht selbst eine Uhr?«
»Das ist eine Unverschämtheit«, wetterte Nagel los. »Wie lange sind Sie schon hier?«
Als wäre er schon seit Stunden im Dienst, schlug Brandt die Mappe auf. Mit geübtem Blick ging er durch die Felder auf den Formularen und entnahm ihnen die Information, dass es sich um einen Selbstmord handelte. Ein gewisser Adrian Fischer war in Naunhof von einer Autobahnbrücke gesprungen. Konnten sich die Selbstmörder nicht wenigstens eine Todesart aussuchen, bei der sie niemand anderen gefährdeten?
»Ich habe nicht genau darauf geachtet«, sagte Brandt.
»Bei der Morgenandacht waren Sie jedenfalls nicht dabei.«
Brandt musste lächeln. Es stand dem gelackten Nagel überhaupt nicht, die umgangssprachlichen Bezeichnungen für die Dienstabläufe, die dienstlichen Gegenstände und Räumlichkeiten zu verwenden. Der Mann war völlig unfähig zu Ironie, und wenn er »Barockpalast« sagte oder wie jetzt die Morgenbesprechung »Morgenandacht« nannte, war man immer einen Moment irritiert.
Brandt blätterte weiter.