Unser Körper am Limit
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Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© 2012 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Herstellung: Thomas Gerhardy
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Wim Hof © Columbia und von © Sascha Erdmann (Porträt)
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-446-43284-0
ISBN (Buch) 978-3-446-43207-9
Reise nach innen
Ein Vorwort
Extrem kalt
Wie ein Eismann das vegetative Nervensystem überlistet
Extrem heiß
Wenn die Sauna zur Arena wird
Extrem tief
Le Grand Bleu oder Lungenflügel in Orangengröße
Extrem hoch
Die Schönheit der Todeszone
Extrem schmerzhaft
Der eingebildete Gesunde oder Die Kraft der Suggestion
Extrem eklig
Warum Abscheu gut für die Moral ist
Extrem still
Was wir hören, wenn wir nichts hören
Extrem laut
Out of Hoffenheim oder Wie Lärm krank macht
Extrem anpassungsfähig
Von Menschen und Fledermäusen
Extrem schnell
Gummipuppen mit Überschallgeschwindigkeit
Extrem langsam
Gehirn & Zeit: Wenn sich Sekunden wie Stunden anfühlen
Extrem verliebt
Amors Götterbotenstoff oder Warum Männer wie Präriewühlmäuse ticken
Extrem klein
Wie ein Kunstwerk auf ein Sandkorn passt
Extrem ansteckend
Lachen: Schwerstarbeit und sozialer Kitt
Extrem verstrahlt
Vergiftete Landschaften oder Der GAU in uns
Extrem verbrannt
Sonne, Schönheit und der Schutz der Zellen
Extrem schwerelos
Keine Marsmission ohne Thermosocken
Dank
Literatur
Ein Vorwort
Im Februar 2011 fuhr ich mit einem Kamerateam nach Tschernobyl, um einen Bericht für Galileo Spezial zu drehen. Eine nur scheinbar gewöhnliche journalistische Reise, die uns an den Schauplatz einer der schlimmsten Reaktorkatastrophen der Geschichte führte. Vor Ort besichtigten wir die Sperrzone des ehemaligen Atomkraftwerkes. Und wir sprachen mit vielen Einheimischen, um ein möglichst vielseitiges Bild vom Leben nach der Katastrophe zu zeichnen.
Für mich (genauso wie für mein Team) stellte der Aufenthalt in Tschernobyl eine Extremsituation dar. Das Gebiet um das 1986 havarierte Atomkraftwerk ist auch 25 Jahre nach dem Unglück noch hochgradig mit strahlungsaktiven Substanzen verseucht. Niemand sollte sich ihrer Strahlung über einen längeren Zeitraum aussetzen. Für das Betreten des Geländes gelten zahlreiche Schutzmaßnahmen. Doch was mich besonders an dieser Situation irritierte: Die Gefahr war nicht sichtbar. Es war allein unser Wissen, das uns zu Vorsichtsmaßnahmen gegen den unsichtbaren Feind veranlasste. Das Wissen darum, dass die Strahlung in Tschernobyl nach wie vor stark genug ist, um alle möglichen unheilvollen Prozesse im Körper auszulösen. Wir verzichteten daher zum Beispiel auf den Verzehr von Kartoffeln, die uns von einer Bäuerin angeboten wurden. Doch selbst wenn wir sie gegessen hätten oder ohne jeglichen Schutz in das Innere der verbotenen Zone vorgedrungen wären: Unmittelbare Auswirkungen auf unseren Körper hätte es nicht gehabt. Und auch Jahre später eintretende Folgen hätte man nicht mit Gewissheit auf diese oder jene Situation während unserer Reise zurückführen können. Es war also anders als bei den üblichen Gefahren, denen wir uns bisweilen aussetzen. Ursache und Wirkung sind sonst direkter miteinander verknüpft – wer auf einen hohen Berg steigt, weiß, dass er tief fallen und dass ein Sturz den Tod bedeuten kann.
Die für mich neue Erfahrung einer ungreifbaren Gefahr, bei der ich nicht einschätzen konnte, was genau in meinem Körper geschieht, gab mir Anlass, mich näher mit dem Körper zu befassen. Mit seinen Möglichkeiten, seinen Grenzen, aber auch dem Eigenleben, das er manchmal gegen unseren Willen führt – etwa wenn wir Schmerzen haben und es partout keine Option ist, seinen Ruf nach Aufmerksamkeit zu ignorieren.
Doch nicht nur in Gefahr, nicht allein in außergewöhnlichen Situationen gilt: Was immer wir tun, wo immer wir uns aufhalten, in welchem Zustand wir uns gerade befinden – in unserem Körper laufen unzählige Prozesse ab, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Nicht zuletzt deshalb birgt unser Umgang mit dem Körper eine nicht abreißende Kette von Widersprüchen: Wir gehen morgens joggen, um die Bildung von Fettpolstern, Falten und Zellulitis hinauszuzögern und den Körper in bestmöglicher Form zu halten, und stehen abends mit einer Flasche Bier und einer Zigarette in der Hand vor der Kneipe, womit wir genau diese Prozesse des körperlichen Verfalls beschleunigen.
Manche treiben die Widersprüche ins Extreme, fahren nur mit Helm Fahrrad, legen im Auto sorgfältig den Gurt an, lassen ihre Kinder kaum aus den Augen – um sich in ihrer Freizeit auf abenteuerliche Motorradtouren durch die Sahara zu begeben, Extremklettern, Tiefseetauchen oder Bungee-Jumping zu betreiben und sich und ihren Körper dabei mitunter ungeheuerlichen Gefahren auszusetzen.
Was ist der Grund für dieses Verhalten? Verlangt unsere biologische Natur nach extremen Zuständen, nach der Erfahrung von Hitze, Kälte, Angst, Geschwindigkeit in den Grenzbereichen des Aushaltbaren? Ist die Suche nach dem besonderen Kick ein menschlicher Wesenszug?
Extremsituationen geben uns zahlreiche Rätsel auf: Sie werden medizinisch, biologisch oder neurowissenschaftlich untersucht, sie sind Spezialfälle für die Psychologie und Grundlage von Geschichten über Wunderheilungen. Immer neue Erkenntnisse, die verschiedene Wissenschaften über unseren Körper zu Tage fördern, beleuchten stets von Neuem eine alte Frage: Werden wir durch das, was in unserem Körper vorgeht, bestimmt, oder sind wir mit unserem Verhalten in der Lage, die Vorgänge in unserem Körper zu steuern? Dabei sind nicht alle körperlichen Extremsituationen sofort als solche zu identifizieren – wenn wir verliebt sind, spielen z. B. unsere Hormone verrückt, und bei einem Lachanfall sind mehr Muskeln aktiv als bei einem 100-Meter-Lauf. Auch von solchen inneren Extremzuständen handelt dieses Buch.
Als TV-Journalist begegne ich ständig Menschen, die ihren Körper den extremsten Situationen aussetzen, Menschen, die in der Lage sind, die natürlichen Grenzen des Körpers zu überschreiten. Sie tun mitunter Dinge, die uns, wollten wir sie ohne entsprechende Vorbereitungen nachahmen, das Leben kosten würden. Mit einigen von ihnen habe ich bei den Recherchen für dieses Buch gesprochen. Ihre Erfahrungen halfen mir dabei, den unterschiedlichsten Fragen zu Körper und Psyche auf den Grund zu gehen:
Wie kommt jemand auf die Idee, sich zwei Stunden in eine Wanne voller Eis zu setzen? Was treibt jemanden dazu an, Saunaweltmeisterschaften zu gewinnen? Weshalb müssen Astronauten bei einer Raumtemperatur von 29 Grad Celsius Socken tragen? Wie schaffen es Blinde, mit den Ohren zu sehen? Was hören wir, wenn wir nichts hören, und wieso kann eine Quietscheente am Ohr bereits zu Hörschäden führen? Warum kommt es uns so vor, als würde die Zeit manchmal extrem langsam vergehen? Wieso verhalten sich liebeskranke Männer wie Präriewühlmäuse? Warum kann es passieren, dass sich Formel-1-Rennfahrer in die Hose machen, und weshalb müssen Kampfjetpiloten mindestens so durchtrainiert sein wie die Spieler des FC Bayern München?
Der Körper fasziniert. Vielleicht auch deshalb, weil er einerseits so stabil, so leistungsfähig und ausdauernd ist und andererseits so zerbrechlich. Wir können ihn vollendet koordinieren, in einem komplexen Zusammenspiel von Nerven und Muskeln, doch ebenso kann er unvermittelt außer Kontrolle geraten. Die Steigerung sportlicher Bestleistungen, aber auch die Möglichkeiten der Medizin scheinen unbegrenzt zu wachsen, das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht. So können wir inzwischen Organe transplantieren – doch andererseits gibt es immer noch kein wirksames Mittel, das uns vor einer harmlosen Erkältung schützt. Wenn es uns erwischt, nützt alles nichts: Wir müssen eine Auszeit nehmen. „Die Welt sieht vom Krankenbett besonders schön aus“, schreibt der spanische Schriftsteller Javier Marías. Vor allem dann, wenn man ein Buch in der Hand hält.
Stefan Gödde,
Berlin im Frühjahr 2012
Wie ein Eismann das vegetative Nervensystem überlistet
In Holland lebt ein Mann, der sich beinahe zwei Stunden lang, nur mit einer Badehose bekleidet, in einer Wanne voll mit Eiswürfeln aufhalten kann. Das ist nicht normal. Nach allem, was wir wissen, müsste sein Körper nach dieser Zeit schwere Schäden davontragen, verursacht durch Unterkühlung. Die Frage ist: Was macht die Kälte mit dem Körper, und was kann man tun, um diese Wirkung außer Kraft zu setzen?
Wim Hof, so heißt der Mann, der es gegen die Kälte aufnimmt, erklärt mir in einem Interview: „Die Kälte ist eine sehr noble Kraft. Sie bringt unser Innerstes zurück ins Gleichgewicht. Sie ist wie ein Vater, der manchmal sehr streng sein muss. Aber am Ende lieben ihn seine Kinder und danken ihm für seine Erziehung. Von der Kälte habe ich alle wichtigen Dinge meines Lebens gelernt.“
Das überrascht mich. Es klingt so überaus positiv. Und auch ein bisschen, na ja, mystisch. „Es tut gar nicht weh“, sagt Hof. „Ich liebe es, das zu tun. Man geht tief in sich hinein. Das kann man natürlich nicht immer einfach so, nach dem Motto: ,Cool, ich springe mal eben ins Eis.‘ Nein, es handelt sich um eine vollständige Kontrolle des Körpers. Und diese Kontrolle ist verbunden mit echten körperlichen Empfindungen. Das sind gute, natürliche Drogen.“
Seine Trainingsmethoden erinnern an Meditationspraktiken, mit denen sich die physischen Wirkmechanismen unseres Körpers tatsächlich beeinflussen lassen – mit unglaublichen Ergebnissen. In unserem Gespräch öffnet mir der Eismann die Augen für die Möglichkeiten von Atemtechnik und Willenskraft. „Ich bin körperlich in der Lage, Dinge zu tun, die weit über das Normale hinausgehen. Ich habe gezeigt – und das ist sogar wissenschaftlich bewiesen –, dass ich das vegetative Nervensystem beeinflussen kann. Das ist normalerweise unmöglich – zumindest für untrainierte Menschen. Insofern ist das, was ich tue, schon ziemlich verrückt.“ Das vegetative Nervensystem überlisten? Wie soll das gehen?
Das vegetative Nervensystem ist für alle lebenswichtigen Funktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Atmung, Verdauung und Stoffwechsel verantwortlich. Es besteht aus Nervenzellen (Neuronen), die Informationen vom zentralen Nervensystem in Hirn und Rückenmark an alle anderen Orte des Körpers weiterleiten. Mithilfe von elektrischer Ladung senden sie Signale an die verschiedenen Organe. Ändern sich die Umgebungsbedingungen, sinken zum Beispiel die Temperaturen, dann passt das vegetative Nervensystem die inneren Körperfunktionen optimal an diese Situation an, indem es die entsprechenden Signale aussendet. Alle notwendigen Vorgänge werden automatisch ausgelöst, ohne dass wir sie „willentlich“ in Gang setzen: Sobald es kalt wird, beginnt der Körper die Durchblutung der Haut zu reduzieren, ziehen sich die Blutgefäße zusammen, der Stoffwechsel wird aktiviert, und irgendwann beginnen auch die Muskeln zu zittern.
Damit alle unsere Organe einwandfrei funktionieren, muss der Körper eine konstante Temperatur von 37 Grad Celsius halten. Die verschiedenen Mechanismen des körperlichen Temperaturausgleichs funktionieren in etwa wie die Heizung eines Gebäudes: Das Absinken der Außentemperatur wird durch einen Thermostaten angezeigt – er befindet sich in unserer Haut. Kältepunkte, sogenannte Kaltsensoren, melden das Ereignis „Kälteeinbruch“ an den Regler unserer Heizung, den sogenannten Hypothalamus. Nun beginnt der Organismus, vermehrt Wärme zu produzieren, indem er den Stoffwechsel erhöht. Des Weiteren übernimmt es unsere Muskulatur, Wärme herzustellen, und zwar durch das Anspannen von Körperteilen wie den Schultern und schließlich, wenn das nicht reicht, durch Zittern. Aber das ist noch nicht alles: Nicht nur die Heizung wird angeworfen, wenn es kalt ist. Auch „schließen“ wir gewissermaßen „die Fenster“: Die Blutgefäße in der Hautoberfläche ziehen sich zusammen, und die Durchblutung wird gedrosselt. Indem weniger warmes Blut direkt an der Hautoberfläche fließt, wird die Wärme im Inneren des Körpers gehalten. Und schließlich lässt die Produktion der Schweißdrüsen nach, denn auch über das Schwitzen verlieren wir Wärme.
Der Vergleich mit einer Heizung im Haus hat natürlich seine Grenzen. Sind wir zu lange zu niedrigen Temperaturen ausgesetzt, würde es nicht ausreichen, einfach den Ofen mit mehr Heizöl oder Kohle zu nähren, etwa indem wir unseren Stoffwechsel durch Nahrungsaufnahme weiter „befeuern“. Auch künstliche Wärmedämmung, zum Beispiel durch besonders dicke Kleidung, kann uns nur begrenzt am Leben erhalten. Über kurz oder lang müssen wir einfach raus aus der Eiseskälte – sonst wird es lebensgefährlich.
Im März 1912 kamen der britische Polarforscher Robert Falcon Scott und seine Begleiter auf dem Rückweg vom Südpol ums Leben, den sie in einem Wettlauf mit dem Norweger Roald Amundsen als Erste zu erreichen hofften. Amundsen gewann das Rennen, er war bereits am 14. Dezember 1911 am Pol eingetroffen – und kehrte heil zurück. Allerdings verstarb er 16 Jahre später ebenfalls bei einer Expedition ins ewige Eis.
Scotts Niederlage im Wettlauf zum Südpol ist der vielleicht berühmteste „Tod in der Kälte“. Medizinisch betrachtet haben er und andere Pioniere der Polarforschung dabei alle Stadien der Hypothermie durchlaufen (Hypothermie kommt vom Griechischen „hypo“ – darunter, unter, weniger – und „thermos“ – warm): von der einfachen Unterkühlung bis zum Stillstand aller Organe. Das ist der Prozess, den ein Körper durchmacht, wenn er für eine längere Zeit extrem niedrigen Temperaturen ausgesetzt ist.
Zunächst sinkt bei der sogenannten milden Hypothermie die Körpertemperatur auf 35 bis 32 Grad Celsius ab. Es zeigen sich Symptome wie Muskelzittern, ein zu hoher Puls (Herzrasen) und eine zu hohe Atemfrequenz, die schließlich zu Teilnahmslosigkeit (Apathie) und zur Beeinträchtigung des Urteilsvermögens führen. Das nächste Stadium, die mittelgradige Hypothermie, ist mit einer Körpertemperatur von 32 bis 28 Grad erreicht. Nun stellt der Körper seine zuvor übersteigerten Aktivitäten wie den zu hohen Puls und das Muskelzittern scheinbar resigniert ein: Der Puls und der Blutdruck sinken unter das normale Niveau ab, das Zittern hört auf – die Muskelreflexe funktionieren nicht mehr. Damit einher geht die sogenannte Kälteidiotie: Der Erfrierende bildet sich ein, ihm sei heiß, er beginnt, sich auszuziehen. Die schwere Hypothermie schließlich, eine Körpertemperatur von unter 28 Grad Celsius, führt von der Bewusstlosigkeit und dem Kreislaufstillstand zu einer verminderten Hirnaktivität. Dabei kann Blut in die Lunge fließen, mit der Zeit kommt es zu Herzrhythmusstörungen und schließlich zum Atemstillstand. Ein vielleicht tröstliches Detail: Schon das erste Stadium der milden Hypothermie gleicht einem Zustand starker Müdigkeit. Selbst dann, wenn noch Chancen auf Rettung bestehen, scheint es dem Erfrierenden, als locke ihn ein langersehnter Schlaf.
Wer nahezu unbekleidet bis zu zwei Stunden im Eis verbringt, der müsste es auf dem Weg durch die Stadien der Hypothermie schon relativ weit bringen. Er wäre vielleicht noch nicht tot, aber sicherlich lebensgefährlich unterkühlt. Wim Hof berichtet, mit welchen Mitteln er die Gesetze der Natur aushebelt: „Durch Fokussierung und starken Willen kann man lernen, den Körper zu kontrollieren und zu beherrschen. Somit kann man auch tiefsitzende Systeme beeinflussen wie das vegetative Nervensystem. Im Jahr 2007 wurde ich in New York vom Feinstein Institut untersucht. Und die Wissenschaftler dort fanden heraus, dass ich die entzündlichen Körper in meinem Blutfluss unterdrücken kann – das war natürlich eine sensationelle Nachricht.“
Damals berichtete selbst die New York Times von diesem „Endotoxin-Experiment“. Bei dem an der Universität Nijmegen in Holland durchgeführten Versuch verabreichten die Ärzte dem Niederländer, während er sich auf seine Meditationsübungen konzentrierte, sogenannte Endotoxine: „… die Ärzte injizierten mir eine Art Gift, das direkt mit dem Immunsystem reagierte. Man bekommt normalerweise Fieber, Kopf- und Rückenschmerzen, man fühlt sich einfach miserabel – weil das Immunsystem anfängt, zu kämpfen. In diesem Moment – als die Kopfschmerzen begannen – habe ich durch meinen Willen und spezielle Atemübungen die Reaktion des Immunsystems unterdrückt. Die Wissenschaftler konnten das auf den Monitoren sehen, es ist alles dokumentiert.“
Endotoxine sind Bestandteile der äußeren Zellwand von Bakterien, die typische Abwehrreaktionen des Immunsystems wie Fieber und Entzündungen auslösen. Das überraschende Ergebnis: Hofs Körper schüttete in größeren Mengen das Stress-Hormon Cortisol aus, das zur Unterdrückung der Immunabwehrreaktion – also zur Unterdrückung von Fieber, Kopfschmerz und Entzündungen – beiträgt. Gleichzeitig war in seinem Blut der Anteil an chemischen Stoffen, die für die Entzündungsreaktion verantwortlich sind, um 50 Prozent geringer im Vergleich zu anderen, gesunden Teilnehmern des Experiments.
Wim Hof setzt scheinbar bloße Willenskraft und Konzentration ein, um auf physische Prozesse Einfluss zu nehmen – und führt uns damit an die äußerste Grenze des Bereiches, den wir hier vermessen: Auf der einen Seite scheint vieles, was wir tun, von Vorgängen in unserem Körper bestimmt zu sein, auf der anderen Seite eröffnen uns Menschen wie Wim Hof die Möglichkeit, zu bestimmen und zu lenken, was in unserem Körper passiert. Da der Eiskünstler einen wissenschaftlichen Nachweis dafür hat, dass er das Verhalten seines Nervensystems und damit verbundene chemische Prozesse beeinflussen kann, möchte ich genauer wissen, wie er diese Fähigkeit erlernt hat und was er dabei tut. Ist er schon als Kind zu Besonderem in der Lage gewesen?
„Nein, ich war ein ganz normales Kind. Ich bin übrigens ein eineiiger Zwilling. Aber mein Bruder kann die Dinge nicht, denn er ist nicht trainiert. Ich habe zuerst Yoga probiert – aber das hat mich nicht zufriedengestellt. Danach bin ich ins kalte Wasser gegangen. Und in der Kälte hat alles begonnen. Dort habe ich gelernt, tief in meinen Körper zu gehen. Und wenn man weiß, wie man tiefer kommt, dann kann man auch starken Kräften wie der Kälte widerstehen.“
Mir ist nicht klar, was ich mir unter seiner häufig gebrauchten Formulierung, er begebe sich „tiefer in seinen Körper“, vorstellen soll. Wie genau geht das vor sich?
„Ich erreiche das durch spezielle Atemübungen und durch Konzentration. Außerdem ist mein kardiovaskuläres System sehr gut trainiert. Meine Durchblutung hilft dem Immunsystem. Meine Venen und Arterien sind in einem besseren Zustand … dadurch, dass sie immer wieder der Kälte ausgesetzt werden.“
Und wie sehen diese Atemübungen aus?
„Ich trainiere jeden Morgen eine Dreiviertelstunde. Durch meine spezielle Technik kann ich viereinhalb Minuten ohne Luft in der Lunge existieren. Irgendwo muss die Luft aber natürlich sein. Sie ist im Rest meines Körpers – im Gewebe. Der Körper ist also in der Lage, viel mehr Sauerstoff zu speichern, als unsere Lungen es ermöglichen. Wenn man den Sauerstoff in alle Teile des Körpers bringt, dann beginnt alles besser zu funktionieren. Und das ist ein Teil meiner Technik, die es mir ermöglicht, tiefer in meinen Körper vorzudringen.“
Das hört sich so an, als wäre da wirklich nichts Besonderes dabei – außer Training natürlich. Ich bin nun neugierig und will wissen, ob ich auch Sauerstoff in mein Gewebe atmen kann?
„Ja, ich kann Ihnen Dinge beibringen, über die Sie staunen werden – in nur fünf Minuten. Ich werde Ihnen zeigen, wie Ihr Körper wirklich funktioniert.“
Das klingt interessant. Und tatsächlich verrät mir Wim Hof eine Übung:
„Ok, Sie wissen, wie man einen Luftballon aufbläst? Setzen Sie sich entspannt hin und haben Sie ein bisschen Platz um sich herum. Jetzt blasen Sie den imaginären Ballon auf. Durch die Nase einatmen, durch den Mund wieder aus. Konstant, nicht zu tief, nicht zu flach, ohne viel Druck.“
Nach circa 45 Sekunden zeigt sich ein erstes Ergebnis:
„Es kann sein, dass Sie sich jetzt ein bisschen schwindelig fühlen“, meint Wim Hof. „Das ist gut, denn jetzt dringt der Sauerstoff aus Ihren Lungen in Ihren restlichen Körper. Noch zehn Mal, … acht … neun … zehn. Und jetzt (nach einer Minute und 30 Sekunden) tief ausatmen, tief einatmen … dann alle Luft rauslassen … am Schluss stoppen Sie. Und jetzt machen Sie Liegestütze – aber ohne zu atmen.“
Ich schaffe 28 Liegestütze – ohne ein einziges Mal Luft zu holen. Noch nie zuvor sind mir Liegestütze so leicht gefallen. Auch danach bin ich nicht außer Atem oder erschöpft. Es ist ein verblüffendes Resultat, das ich schon mit einer kleinen Übung von nur fünf Minuten erreicht habe. Dahinter verbirgt sich keineswegs Magie, sondern ein wissenschaftlich erklärbarer Vorgang: „So bringt man die Laktose aus dem System heraus, das ist der Stoff, der uns ermüden lässt. Das ist reine Chemie“, sagt Wim Hof.
Laktose ist ein Milchzucker, der in Milchprodukten enthalten ist. Um den Milchzucker verwerten zu können, muss der Körper ihn während der Verdauung aufspalten. Das kostet den Körper Energie, die ihm während dieses Vorgangs nicht mehr für andere – sportliche – Leistungen zur Verfügung steht. „Ich arbeite gerade mit Top-Sportlern und Olympia-Teilnehmern. Und sie fühlen es auch“, berichtet Wim Hof aus seinem beruflichen Alltag. Denn nicht nur das Sitzbad im Eis, auch andere extreme Unternehmungen gehören zu seinem Programm. Allein in Shorts bestieg er den Mount Everest, und nur mit Boxershorts und Mütze bekleidet, lief er 1999 in Sibirien bei −25 Grad einen Halbmarathon. Nebenbei gesagt: Für sibirische Verhältnisse waren das noch laue Temperaturen. Das zu Russland gehörende Sibirien liegt bis zu neun Monate im Jahr unter einer Schneedecke begraben und erreicht Minusgrade von bis zu 70 Grad. Nur in der Ostantarktis wird es noch kälter. Sie ist ein staatenloses Gebiet, das sich über Tausende von Kilometern um den Südpol ausbreitet. Hier wurde 1957 die niedrigste Außentemperatur der Welt von −89,2 Grad Celsius gemessen.
Würden Sie sich als extremen Menschen bezeichnen, frage ich Hof am Ende unseres Interviews. Seine Antwort:
„Nicht unbedingt als extremen, eher als erfüllten Menschen.“
Wenn die Sauna zur Arena wird
Some like it hot – Manche mögen’s heiß. Der Titel dieses berühmten Filmstreifens mit Marilyn Monroe handelt nicht von der echten, der physikalischen Hitze, sondern bedient sich einer ihrer Metaphern: Wo es besonders heiß zugeht, da ist das Blut in Wallung – und das nicht nur im übertragenen Sinne. Insbesondere das Blut der Männer ist ständig in Gefahr, sei es, dass es beim Anblick heißer Frauen schneller fließt oder bei einer hitzigen Auseinandersetzung mit dem Gegner. Doch auch politische und gesellschaftliche Themen werden gerne heiß diskutiert, wobei natürlich nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Sagen zumindest die, die ganz cool über der ganzen Aufregung stehen. Noch Fragen?
Die verschiedenen Formen der aufwallenden Gefühle, der inneren Hitze, sind hier nicht das Thema. Vielmehr die Frage: Wann und wo wird es dem Körper von außen richtig heiß? In der Wüste, klar. Und natürlich gibt es sie, die Extremsportler, die sich der Hitze so lange aussetzen, dass sie immer gerade einen Schritt, bevor der Tod sie einholen kann, die nächste Oase erreichen. Der Dokumentarfilm „Bis an die Grenzen des Körpers. In der Gluthitze der Wüste“ von David Rosanis erzählt von so einem Mann, der in großer Einsamkeit seinen ganz persönlichen Wettkampf mit dem Sonnengott austrägt. Der französische Wüstenforscher Régis Belleville schafft es, bis zu 49 Tage durch die Wüste zu ziehen, ohne unterwegs Wasser aufnehmen zu müssen – das, was seine Kamele zu tragen vermögen, reicht ihm für diese Zeit. „Ich trockne gänzlich aus, aber ich darf nicht sterben. So einfach ist das“, erklärt Belleville, und ein wenig ausführlicher erläutert er, dass er den Wasserverlust seines Körpers um fast zwei Drittel reduzieren kann. Dadurch verbraucht er an einem acht- bis neunstündigen Tagesmarsch durch die Wüste nur vier anstelle der zwölf Liter, die ein normaler Mensch verlieren würde. Wie er in dem Film berichtet, hat er seinen Organismus darauf trainiert, kaum zu schwitzen und den Stoffwechsel herunterzufahren, sodass er nur noch sehr wenig Flüssigkeit ausscheidet. Bellevilles Leistung ist sehr beeindruckend, und sie erinnert an den Mann in der Kälte, Wim Hof, der sein vegetatives Nervensystem beeinflussen kann. Denn auch Belleville verändert durch Konzentration und Übung ganz elementare Funktionen seines Körpers, wie das Ausscheiden von Flüssigkeit über Haut und Blase. Vorgänge, die wir normalerweise nicht kontrollieren können.
Doch wo, wenn nicht in der Wüste, sind wir noch extrem hohen Temperaturen ausgesetzt?
Michaela Butz, Reiseverkehrskauffrau aus Hessen, 38, gehört zu denen, die es besonders heiß mögen. Seit ihrem fünften Lebensjahr geht sie in die Sauna. Dem Verein „Saunaritter e. V.“ in Hessen, der 27 Mitglieder hat, gehört sie seit 2009 an. Dort wurde sie „abgehärtet“ und deutsche Saunameisterin. Durch das spezielle Training im Verein ist sie auch zur Sauna-WM gekommen, bei der sie schließlich 2010 Weltmeisterin wurde.
Etwas macht hier stutzig. Bisher hatte man die Gewohnheit mancher Menschen, in ihrer Freizeit zu schwitzen – meist in Holzhütten und nur mit einem Handtuch bekleidet –, den Sphären der Wellness-Kultur zugeordnet. Saunagänge stärken bekanntermaßen das Immunsystem, da die hohen Temperaturen von 80 bis 100 Grad in der Lage sind, Viren und Bakterien, also mögliche Krankheitserreger, abzutöten. Sie fördern außerdem die Entspannung der Muskeln und dienen der Regeneration der Haut. Besonders effektiv ist dieses Prozedere in einem ausgewogenen Wechsel mit eiskalten Duschbädern und anschließenden Ruhepausen. Aber Sport? Wettkampf?
Offenbar verlockte die Möglichkeit, bis an extreme Grenzen zu gehen, dem Körper eine außerordentliche Leistung abzuverlangen und sich hierin mit anderen zu messen, dazu, einen Wettbewerb im Saunieren, gar eine WM zu erfinden. Das geschah 1999 in Heinola, Finnland, dem Ursprungsland der Sauna.
Bei der Sauna-WM gibt es Vorrunden, Achtel-, Viertel-, Halbfinale und Finale. Jeweils sechs Teilnehmer treten in einer Kabine gegeneinander an. Die Temperatur in der Sauna beträgt 110 Grad. Alle 30 Sekunden wird mit einer Aufguss-Automatik ein halber Liter Wasser auf den Ofen gegossen. Mit jedem dieser Aufgüsse steigt die Luftfeuchtigkeit um bis zu drei Prozent. Und weil Luft alleine ein schlechter Wärmeleiter ist – Wasser aber ein guter –, steigt damit auch die gefühlte Temperatur permanent an. Bei der Sauna-WM kommt es nicht auf die gestoppte Zeit an, sondern darauf, welcher Leistungs-Schwitzer die Sauna als Letzter verlässt. Jede Sauna ist anders gebaut und belüftet, jeder Ofen heizt anders. Deshalb unterscheidet sich die Dauer, die es die Teilnehmer bei den verschiedenen Wettkämpfen in der heißen Luft aushalten. Michaela Butz, die deutsche Sauna-Weltmeisterin, saß bei der deutschen Meisterschaft 10 min 25, bei der WM hielt sie es „nur“ 3 min 55 aus – aber sie gewann damit beide Wettbewerbe. Dabei verlangte sie ihrem Körper jedes Mal einiges ab, wovon sie mir in einem Interview berichtete. Frau Butz, wie fühlt man sich in der extremen Hitze?, lautete meine Eingangsfrage.
„Wie ein Frosch im wärmer werdenden Wasser, aber man bleibt einfach sitzen (lacht). Es ist schon sehr heiß – und manchmal frage ich mich für einen Moment: Warum gehe ich nicht einfach raus? Aber ich mag die Hitze, meine Haut kann die Wärme gut abtransportieren. Das Gefühl des Sieges entschädigt letztlich für die Schmerzen, denn es wäre gelogen zu behaupten, es tue nicht weh. Gibt es eine Sportart, in der Weltmeister werden nicht weh tut? Um an die Spitze zu kommen, muss man immer die Zähne zusammenbeißen – und ich komme mit der Hitze in der Sauna eben gut klar.“
Ich versuche mir das vorzustellen: Tatsächlich wird ja der Raum, in dem die Teilnehmer sich befinden, langsam, aber stetig immer stärker erhitzt – der Vergleich mit dem Frosch scheint da gar nicht so weit hergeholt. Inwiefern aber handelt es sich beim „Sitzen und Schwitzen“ um eine Leistung, die man trainieren kann? Ist es nicht vielmehr so, dass wir individuell unterschiedlich auf Hitze reagieren und nach Veranlagung zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Grenze dessen erreichen, was wir aushalten können?
„Man kann das Schwitzen trainieren“, sagt Butz, „indem man schlicht und einfach viel und regelmäßig in die Sauna geht. Man sieht es an Menschen, die fast nie in der Sauna sind: Sie schwitzen sehr wenig. Jeder, der regelmäßig in die Sauna geht, transpiriert sehr viel mehr. Deshalb trainiere ich regelmäßig mindestens einmal die Woche – vor Wettkämpfen sogar drei Mal die Woche. Man wird besser mit der Zeit.“
Die Grenze dessen, was der menschliche Körper an Hitze erträgt, scheint dennoch schnell erreicht. Während bei gängigen Sportarten immer wieder neue Rekorde aufgestellt werden, immer schnellere 100 Meter gerannt, immer tiefere Tiefen getaucht und immer größere Weiten gesprungen werden, gab es in der kurzen Geschichte der Sauna-Weltmeisterschaft schon einen tödlichen Unfall. Deshalb die Frage an Frau Butz: Ist es für Sie in der Sauna schon mal gefährlich geworden?
„Noch nie! Nicht mal ansatzweise. Ich habe eine bestimmte Sitzposition, in der ich mit meiner rechten Hand meine Pulsfrequenz kontrolliere. Wenn es für meinen Körper zu viel wird, dann ist Schluss. Ich sage zwar zu mir: Sitzen bleiben! Aber irgendwann laufen meine Füße von alleine los.“
Bei der Sauna-WM geht alles streng nach Reglement: Die Teilnehmer sitzen auf gleicher Bankhöhe, dürfen sich nur sehr wenig bewegen, die Größe der Badebekleidung ist auf den Zentimeter genau vorgeschrieben. Schweiß-Wegwischen ist untersagt, sämtliche Hilfsmittel sind verboten – und vor der Sauna stehen Sanitäter. Das Risiko scheint also berechenbar zu sein – und trotzdem kam es 2010 zu einem schrecklichen Unfall, bei dem der russische Teilnehmer Vladimir Ladyzhenskiy starb. Butz kennt die Hintergründe dieses Vorfalls:
„Es hat sehr lange gedauert, bis die Untersuchungsergebnisse bekanntgegeben wurden. Ladyzhenskiy war hochgradig gedoped. Er hatte Schmerzmittel genommen und sich zusätzlich den ganzen Körper mit einer Lokal-Anästhesie-Creme eingerieben, sodass er die Hitze nicht mehr gespürt hat. Das war sehr unsportlich und ein klarer Regelverstoß. Sein Tod ist furchtbar, aber auch selbstverschuldet. Darunter hat der Saunasport sehr gelitten.“