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Buch

Varennes-Saint-Jacques im Jahre des Herrn 1218: Eine Stadt, drei Menschen, drei Schicksale. Der Buchmaler Rémy Fleury träumt von einer Schule, in der jedermann lesen und schreiben lernen kann. Sein Vater Michel, Bürgermeister von Varennes, will seine Heimat zu Frieden und Wohlstand führen, während in Lothringen Krieg herrscht. Die junge Patrizierin Philippine ist in ihrer Vergangenheit gefangen und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Sie alle eint der Wunsch nach einer besseren Zukunft, doch ihre Feinde lassen nichts unversucht, sie aufzuhalten. Besonders der ehrgeizige Ratsherr Anseau Lefèvre hat geschworen, die Familie Fleury zu vernichten. Niemand ahnt, dass Lefèvre selbst ein grausiges Geheimnis hegt …

Daniel Wolf, geboren 1977, arbeitete u. a. als Musiklehrer, in einer Chemiefabrik und im Öffentlichen Dienst, bevor er freier Schriftsteller wurde. Schon als Kind begeisterte er sich für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; seine Leidenschaft für Geschichte und das Mittelalter führte ihn schließlich zum historischen Roman. Er lebt mit seiner Frau und zwei Katzen in einer der ältesten Städte Deutschlands.

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Redaktion: Eva Wagner
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Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-13165-4
V003
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Für Sandra

»Tempori aptari decet –
Man muss sich der Zeit anpassen.«

(Lucius Annaeus Seneca, 1. Jahrhundert)

Dramatis Personae

VARENNES-SAINT-JACQUES

Michel Fleury, Bürgermeister

Isabelle Fleury, seine Gemahlin, eine Kauffrau

Rémy Fleury, ihr Sohn, ein Meister der Buchmalerei

Louis, ein Knecht Michels

Yves, ein Knecht Michels

Gaston, Rémys Geselle

Anton, Rémys Lehrling

Dreux, Rémys Gehilfe

Ratsherren:

Henri Duval, der städtische Richter

Odard Le Roux, ein Kaufmann

Eustache Deforest, der Vorsteher der Kaufmannsgilde sowie Münzmeister

Soudic Poilevain, ein Kaufmann

Jean Caboche, der Obermeister der Schmiede sowie Schultheiß

Guichard Bonet, der Obermeister der Weber und Tuchfärber

Bertrand Tolbert, der Obermeister der Stadtbauern sowie Marktaufseher

Anseau Lefèvre, ein Wucherer

Kaufleute der Gilde:

Fromony Baffour

Thibaut d’Alsace

René Albert

Philippe de Neufchâteau

Adrien Sancere

Victor Fébus

Girard Voclain

Andere Bewohner Varennes’:

Jean-Pierre Cordonnier, der Obermeister der Schuster, Gürtler und Seiler

Gaillard Le Masson, der Obermeister der Steinmetze und Maurer

Adèle, Jean Caboches Frau

Alain, Jeans und Adèles Sohn

Azalaïs, Jean Caboches Stieftochter

Chrétien, Anseau Lefèvres fattore

Daniel Levi, ein jüdischer Fernhändler

Olivier Fébus, Victor Fébus’ jüngster Sohn

Julien, ein Schmied

Hugo, ein Schuster

Guillaume, ein Stadtknecht

Richwin, ein Stadtknecht

Eugénie, eine Schankwirtin

Hervé, ein jugendlicher Beutelschneider

Maman Marguérite, eine Frauenwirtin

ADEL UND KLERUS

Renouart de Bézenne, ein lothringischer Ritter

Felicitas, sein Weib

Nicolas, ihr Sohn und Erstgeborener, ein Tempelritter

Catherine, ihre jüngste Tochter

Abbé Wigéric, der Vorsteher der Abtei Longchamp

Bruder Adhemar, ein Mönch der Abtei Longchamp

Pater Arnaut, ein Priester

SPEYER

Hans Riederer, ein Kaufmann, Michel Fleurys fattore

Sieghart Weiß, Riederers Gehilfe

Ludolf Retschelin, ein Patrizier und Ratsherr

METZ

Robert Michelet, ein Kaufmann, Michel Fleurys fattore

Évrard Bellegrée, der Schöffenmeister der Republik Metz

Roger Bellegrée, sein Sohn

Jehan d’Esch, ein Ratsherr der Treize jurés

Robert Gournais, ein Ratsherr der Treize jurés

Géraud Malebouche, ein Ratsherr der Treize jurés

Baptîste Renquillon, ein Ratsherr der Treize jurés

Pierre Chauverson, ein Ratsherr der Treize jurés

Messere Ottavio Gentina, ein lombardischer Geldverleiher

Thankmar, ein deutscher Söldner

Pierre Ringois, ein Kaufmann

HISTORISCHE PERSONEN

Friedrich II. (1194–1250), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; genannt Stupor mundi, das Staunen der Welt

Konrad von Scharfenberg (um 1165–1224), Bischof von Metz und Speyer sowie Kanzler des Kaisers

Thiébaut (um 1191–1220), Herzog von Oberlothringen

Gertrude de Dabo (?–1225), sein Weib

Mathieu (um 1193–1251), Thiébauts Bruder, Herzog von Oberlothringen ab 1220

Henri II. (1190–1232), Graf von Bar

Blanche de Navarre (1177–1229), Gräfin von Champagne

Érard de Brienne (um 1170–1246), der Herr von Ramerupt und Venizy

Walther von der Vogelweide (um 1170–1230), ein Lyriker und Minnesänger

Eudes de Sorcy (?–1228), Bischof von Toul ab 1219

Rogier de Marcey (?–1251), Bischof von Toul ab 1231

Theoderich von Wied (um 1170–1242), Erzbischof von Trier

Jean d’Apremont (?–1238), Bischof von Metz ab 1224

Simon von Leiningen, der spätere Gemahl Gertrudes de Dabo

Albertus Magnus (um 1200–1280), ein Universalgelehrter

Leonardo Fibonacci (um 1170–1240), ein Mathematiker

SONSTIGE

Philippine, eine Dame mit rätselhafter Vergangenheit

Guiberge, ihre Magd

Pater Bouchard, der Kaplan von Warcq

Arnold Liebenzeller, ein Kaufmann aus Straßburg

Villard de Gerbamont, ein gelehrter Ritter

Tristan de Rouen, ein Doctor der Theologie an der Universität von Paris

William von Southampton, ein Magister an der Universität von Paris

Saint Jacques, der Schutzheilige von Varennes

Robyn Hode, eine englische Sagengestalt, heute bekannt unter dem Namen Robin Hood

Im Anhang befindet sich ein Glossar der im Roman verwendeten historischen Begriffe.

PROLOG

Oktober 1214

VARENNES-SAINT-JACQUES

Der Abt schaute das Ende der Welt, und die Farbenpracht entzückte ihn.

Das Pergament erstrahlte in Purpur und Blau, in Grünspan und Zinnober. Engel gossen die Schalen des Zornes aus, ihre Schwingen aus Blattgold glitzerten im Kerzenschein, während die Rache des Allmächtigen über die Welt kam. Schön und schrecklich zugleich waren sie, die sieben Plagen der Endzeit; es war ein Gemälde der Furcht und der Herrlichkeit, das unter den Pinselstrichen des Mönchs Form annahm. Hier wurden die Meere zu Blut, da versengte die Sonne die sündige Menschheit, der Euphrat vertrocknete in ihren grausamen Strahlen zu Staub.

»Wunderbar«, flüsterte der Abt, »ganz wunderbar«, und der Mönch am Schreibpult lächelte demütig.

Es geschah nicht oft, dass der Abt mit der Arbeit seiner Brüder zufrieden war. Normalerweise erblickte er überall Nachlässigkeit, wenn er das Skriptorium besuchte, und stets musste er die Mönche antreiben, da sich andernfalls Pfusch und Müßiggang breitmachten.

Heute jedoch kam ihm nichts als Lob über die Lippen. Schreiber, Rubrikatoren, Buchmaler – sie alle hatten sich selbst übertroffen. Der Text der Offenbarung des Johannes war frei von Fehlern und garstigen Tintenklecksen. In Reih und Glied marschierten die heiligen Worte über die Seiten, jeder Buchstabe gestochen scharf. Die Initialen waren kleine Kunstwerke, eines schöner als das andere, ebenso die Miniaturen an den Seitenrändern.

Und das Gemälde. Ach, das Gemälde.

Dieses Buch würde den Ruhm der Abtei Longchamp mehren, das wusste der Abt. Wichtiger noch: Es würde dem Kloster eine stattliche Summe einbringen. Am besten sollte er sogleich mit dem Meister der Kaufmannsgilde sprechen und den neuen Prachtcodex anpreisen. Auf diese Weise würde er gewiss rasch einen vermögenden Käufer finden.

Der Abt ermahnte seine Brüder, nicht in ihrer Sorgfalt nachzulassen, ehe er das Skriptorium verließ und zu seinen Gemächern schritt, wo er sich einen mit Otterfell gefütterten Mantel überwarf. Just in diesem Moment kam ein Novize herein.

»Abbé Wigéric, Euer Gnaden!«, sagte der Bursche atemlos.

»Ich habe keine Zeit, Junge. Komm später wieder.«

»Aber Ihr müsst mich anhören«, beharrte der Novize frech. »Es ist wichtig!«

Obwohl der Abt versucht war, den Burschen scharf zurechtzuweisen, rief er sich ins Gedächtnis, dass dieser Novize nicht dafür bekannt war, seine Oberen mit Nichtigkeiten zu behelligen. Was er zu sagen hatte, mochte tatsächlich wichtig sein. »Na schön. Sprich. Was gibt es?«

»Ich war eben in der Stadt, um bei unseren Brüdern von Saint-Julien neue Kerzen zu holen, als ich von der neuen Werkstatt erfuhr. Sie hat heute aufgemacht, Abbé. Im Viertel der Schuster, Seiler und Gürtler. Die ganze Stadt spricht darüber!«

»Was für eine Werkstatt?«, fragte der Abt gereizt. »Wovon redest du, Junge?«

»Eine Schreibwerkstatt! Ein Skriptorium wie unseres!«

»Du musst dich irren. Die anderen Klöster haben keine Skriptorien. Unseres ist das einzige in ganz Varennes.«

»Nein, nicht die Klöster«, sagte der Novize. »Sie gehört einem gewöhnlichen Bürger. Einem Laien.«

»Eine weltliche Schreibwerkstatt? So etwas gibt es nicht – jedenfalls nicht hier. Man hat dir Lügen aufgetischt.«

»Es ist die Wahrheit, Euer Gnaden. Ganz bestimmt. Der Sohn des Bürgermeisters steckt dahinter. Die Leute sagen, er will der erste weltliche Schreiber und Buchmaler Varennes’ werden.«

Der Abt horchte auf. »Rémy Fleury? Der ist doch in Schlettstàdt.«

»Er ist vor einigen Tagen zurückgekommen und hat ein Haus in der Stadt gemietet.«

Das Antlitz des Abtes verfinsterte sich. Wenn es wirklich der Wahrheit entsprach, was der Junge erzählte, wäre das eine Katastrophe. Er musste der Sache schnellstens auf den Grund gehen. »Wo finde ich diese Werkstatt?«

»In der Gasse zwischen dem Greifenturm und dem Wagenturm. Ihr könnt sie nicht verfehlen.«

Abbé Wigéric schickte den Novizen weg und verließ seine Gemächer. Sein Besuch beim Gildemeister musste warten – diese Angelegenheit war dringlicher. Draußen zog er seinen Mantel enger um die Schultern. Es war ein goldener Herbsttag, sonnig und klar, und die Blätter der uralten Rotbuche im Klosterhof leuchteten rot, gelb und orange, beinahe wie ein ersterbendes Herdfeuer. Aber die Luft war kalt an diesem Morgen. Sein Atem dampfte, als er an den Klostergärten vorbeischritt, das Tor durchquerte und die mit wildem Wein überwucherten Mauern der Abtei hinter sich ließ.

Ein Schreiber, der nicht dem Klerus entstammte und der seine Arbeit nicht im Skriptorium einer Ordensgemeinschaft verrichtete, war eine Torheit, ein Frevel! Das hatte der Abt schon damals gedacht, als der junge Fleury nach Schlettstàdt gegangen war, um die Schreibkunst und das Handwerk der Buchmalerei zu erlernen. Es war allein Sache der Klöster, Schriften zu kopieren und das Wissen zu vervielfältigen. Laien waren für dieses heilige Werk denkbar ungeeignet. Ginge es nach Wigéric, sollte es den einfachen Christen nicht einmal gestattet sein, Lesen und Latein zu lernen. Man brauchte diese Fähigkeiten nicht, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Wenn sie das Wort Gottes hören wollten, sollten sie sich gefälligst an einen Priester wenden, der ihnen aus der Heiligen Schrift vorlas. Überdies enthielten viele Bücher komplexes Wissen – Wissen, das ein nicht im Glauben gefestigter Geist missverstehen, das sein Seelenheil gefährden könnte. Die Heilige Kirche tat gut daran, das einfache Volk davon fernzuhalten. Schlimm genug, dass viele Kaufleute lesen und schreiben konnten. Man hatte ja gesehen, wohin das führte: zu Aufstand, Rebellion und Unfrieden allerorten.

Und nun besaß dieser Rémy Fleury auch noch die Frechheit, eine weltliche Schreibwerkstatt zu eröffnen – hier, in Varennes-Saint-Jacques, vor Wigérics Nase. Was für eine Provokation! Wollte er die Abtei Longchamp in den Ruin treiben? Ja, so musste es sein. Die Familie Fleury war seit jeher eine Feindin der Kirche. Zweifellos war der junge Fleury genauso aufsässig und impertinent wie sein Vater, der Bürgermeister, möge der Allmächtige ihn dereinst für seine Sünden strafen.

In seinem Zorn war Wigéric immer schneller ausgeschritten. Nun ging sein Atem schwer, und er spürte Schweißtropfen über die Wangen rinnen. Er war nicht mehr der Jüngste, und seine beträchtliche Leibesfülle tat ihr Übriges. Der Abt spähte die Gasse hinab. Er befand sich mitten im Viertel der Schuster, Gürtler und Seiler und erblickte über den Dächern den Greifen- und den Wagenturm.

Da drüben – das musste es sein!

Die Augen zu Schlitzen verengt, näherte er sich dem Haus. Kisten stapelten sich neben dem Eingang. Die meisten waren leer, zwei enthielten Kleider und etwas Essgeschirr. Energisch klopfte Wigéric an. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er kurzerhand die Tür und trat ein.

Das Haus, ein Steingebäude, verfügte über zwei Stockwerke. Früher hatte es einem Schuster gehört, der im Erdgeschoss gearbeitet und im Obergeschoss gewohnt hatte. Es war niemand da. Leise, als befände er sich tief in Feindesland, schlich Wigéric durch die geräumige Werkstatt, die noch so gut wie leer war. Im hinteren Teil standen weitere Kisten, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Schreibpult.

Irgendwo rumpelte es. Der Abt spitzte die Ohren. Die Geräusche kamen aus dem Keller. Er trat zum Pult, betrachtete das Möbelstück mit zusammengekniffenen Lippen und stellte sich vor, wie Fleury hier kauerte und seinem schändlichen Treiben nachging. Wie er Codices kopierte, der Abtei Longchamp wichtige Aufträge wegschnappte und gedankenlos Wissen verbreitete, das die Klöster bisher sorgsam unter Verschluss gehalten hatten. Hatte dieser Mann auch nur einmal darüber nachgedacht, welchen Schaden er anrichten würde?

Auf dem Tisch lagen eine Armbrust – wozu brauchte ein Buchmaler eine Armbrust? – und ein Buch, in Leder gebunden. Wigéric schlug es auf. Es war De brevitate vitae von Seneca, ein uraltes philosophisches Machwerk, entstanden in den dunklen Jahren nach Christi Ermordung. Das gottlose Elaborat eines Heiden. Die Falte zwischen Wigérics Augenbrauen vertiefte sich. Seit einigen Jahren gruben gewisse Gelehrte immer mehr heidnische Schriften aus grauer Vorzeit aus und studierten ihren Inhalt. Wenngleich diese Praxis von verschiedenen Kirchenlehrern unterstützt wurde, hielt Wigéric nichts davon. Seneca, Cicero und all die anderen Römer waren Unwissende gewesen, denen niemals die göttliche Wahrheit und das himmlische Heil zuteilgeworden waren. Welchen Sinn hatte es, sich mit ihren Gedanken zu befassen? Dies war sündhaft, ja gefährlich. Der wahre Christ benötigte lediglich die Bibel, allenfalls noch einen Psalter oder ein Stundenbuch. Alle übrigen Bücher waren überflüssig.

Wigéric blätterte in den Seiten. Widerwillig musste er zugeben, dass dieser Codex ein ausgesprochen schönes Exemplar war. Die Schrift war gleichmäßig und gut lesbar, die Miniaturen und Initialen konnten sich durchaus mit jenen messen, die seine Brüder für die neue Kopie der Offenbarung angefertigt hatten. Hier war ein Meister seines Fachs am Werk gewesen. Hieß dieser Meister Rémy Fleury? Falls ja, war er noch gefährlicher, als Wigéric angenommen hatte.

Der Abt vernahm Schritte und hob den Kopf.

Rémy Fleury stand da und blickte ihn an. Sein schlichter Kittel war staubig, auch in seinem Haar hatte sich Schmutz verfangen. Es war kurz und dunkelblond; blond war auch der Stoppelbart, der Kinn und Wangen bedeckte. Als Wigéric ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein Jüngling gewesen. Inzwischen war er zum Manne gereift – zu einem gut aussehenden noch dazu, wie Wigéric missmutig feststellte.

»Was kann ich für Euch tun?«, fragte Fleury.

Der Abt deutete auf die Brevitate vitae. »Habt Ihr dieses Buch angefertigt?«

»Es ist mein Meisterstück. Es ist nicht dafür gedacht, dass man darin blättert.« Frech griff Fleury über den Tisch, zog das Buch zu sich und schlug es zu. »Wenn Ihr es lesen wollt, kann ich Euch eine andere Abschrift besorgen.«

»Ich lese keine Schriften von Heiden«, sagte der Abt und machte kein Hehl aus seinem Abscheu. »Habt Ihr keine Angst, dass Ihr Euch versündigt, wenn Ihr derart gottlose Gedanken in Euch aufnehmt?«

»Warum sollte ich? Die Moralvorstellungen der Heiden enthalten viel Wahres, das wir Christen übernehmen sollen, um es bei der Verkündung des Evangeliums zu gebrauchen. Augustinus lehrt uns das, nicht wahr?«

Einen Kirchenvater zu zitieren, noch dazu den Verfasser einer Mönchsregel, war der Gipfel der Unverfrorenheit. Als wüsste Wigéric das nicht! Stechend blickte er den Buchmaler an. »In der Stadt erzählt man sich, Ihr wollt eine Schreibwerkstatt eröffnen. Ich konnte das nicht glauben und bin hier, um mich zu vergewissern, dass das nichts als Gerede ist. Es ist doch Gerede?«

»Nein, genau das ist meine Absicht.« Fleury ließ ihn stehen, ging nach draußen und trug die Kiste mit dem Essgeschirr herein.

»Eine Werkstatt, in der Ihr Bücher und Codices anfertigen werdet«, hakte der Abt nach.

»Und Verträge, Schuldscheine, Briefe. Was eben anfällt.« Fleury stellte die Kiste ab und ging hinaus, um auch die andere zu holen.

Diese Unhöflichkeit! Der Kerl war schon immer maulfaul und eigenbrötlerisch gewesen, bereits als junger Bursche. Ganz anders als sein Vater, der sich gerne reden hörte und sich immerzu wichtig nahm, aber auf seine Weise genauso unerträglich. »Redet mit mir, Mann!«, blaffte der Abt, als Fleury die Kiste zur anderen stellte.

»Verzeiht, aber ich habe zu tun.«

»Wisst Ihr nicht, wer ich bin?«, fragte Wigéric empört.

»Der Abt des Klosters Longchamp. Euer Besuch ehrt mich.« Fleury nickte ihm knapp zu, ehe er mit dem Essgeschirr in der Küche verschwand, die sich an die Werkstatt anschloss.

Wigéric ging ihm nach. »Aber es gibt bereits eine Schreibwerkstatt in Varennes. Das Skriptorium der Abtei.«

»Das weiß ich.« Fleury begann, das Geschirr aus der Kiste zu räumen.

»Wenn Ihr auch eine eröffnet, gibt es zwei. Dafür ist Varennes zu klein.«

»Varennes ist groß genug. Wenn wir guten Willens sind, wird keiner den anderen stören.«

»Aber wie wollt Ihr ein Gewerbe ausüben, wenn Ihr keiner Bruderschaft angehört? Das ist verboten.«

»Ich gehöre einer Bruderschaft an«, meinte Fleury und untersuchte eine Schüssel, die einen Sprung hatte.

»Ach ja?«, höhnte der Abt. »Welche denn? Gibt es neuerdings eine Bruderschaft der Schreiber, Buchmaler und Rubrikatoren, deren einziges Mitglied Ihr seid?«

»Die Schuster, Gürtler und Seiler waren so freundlich, mich aufzunehmen.« Fleury stellte die Schüssel zurück in die Kiste.

Wigéric wurde immer wütender. Dieser Kerl hatte auf alles eine Antwort. »Was ist mit dem Bischof? Hat er Euch überhaupt erlaubt, als Laie eine Schreibwerkstatt zu eröffnen?«

»Ich brauche keine Erlaubnis des Bischofs. Ich habe die Genehmigung des Rates, das genügt.«

Natürlich. Fleurys Vater war der Bürgermeister; Rémy bekam vom Rat jede Erlaubnis, die er brauchte. Es war genauso, wie Wigéric sich gedacht hatte: Vater und Sohn machten gemeinsame Sache, zum Schaden der Klöster. Diese Familie würde erst ruhen, wenn die Kirche in Varennes zugrunde gerichtet war. »Selten ist mir ein Mann begegnet, der so starrsinnig ist!«, sagte Wigéric heftig. »Ich frage mich, was Euch die Abtei Longchamp getan hat, dass Ihr uns derart böswillig schaden wollt.«

»Ich möchte niemandem schaden. Nichts liegt mir ferner.« Fleury legte ihm den Arm um die Schultern und schob ihn mit sanfter Gewalt aus der Küche und durch die Werkstatt. »Ich habe wirklich viel zu tun, Abbé. Lasst uns weiterreden, wenn ich mehr Zeit habe. Gehabt Euch wohl.«

Bevor der Abt begriff, wie ihm geschah, stand er auf der Gasse, und die Tür fiel hinter ihm zu. Fleury hatte ihn hinausgeworfen, auf die Straße gesetzt wie einen lästigen Bettler. Ihn, den Vorsteher der Abtei Longchamp! Wigéric konnte kaum noch atmen vor Zorn. Aber das würde Fleury bereuen. Wigéric würde sich über ihn beschweren, beim Rat, beim Bischof, beim Erzbischof, wenn es sein musste. Er würde eine Allianz der Klöster schmieden und diesen unverschämten Kerl zu Fall bringen.

Der Abt wandte sich ab und stolzierte die Gasse hinauf.

Spätestens zu Weihnachten, so schwor er sich, würde diese unselige Werkstatt aufhören zu existieren.

ERSTES BUCH


Stupor mundi

Mai bis Dezember 1218