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Pazifischer Ozean, Oktober 1858
Emma Röslin stand an der Reling des Klippers Helene und starrte auf die glänzende Fläche der spiegelglatten See. Wohl zum tausendsten Mal seit ihrer Abreise stellte sie sich die Frage, die sie bis in ihre Träume hinein verfolgte: Was, in Gottes Namen, hatte sie getan, dass sie Oskar Crusius’ verrücktes Angebot hatte annehmen müssen?
Wie immer fand sie nicht die Spur einer Antwort.
Emma seufzte, wandte sich ab und schritt langsam das Hinterdeck entlang.
Es ist unsinnig, dachte sie, über etwas zu grübeln, was ich nie erfahren werde, es sei denn, meine Erinnerung kehrt zurück.
Doch das war wenig wahrscheinlich. Sie war bereits mehr als vier Monate auf See, und die Gedanken, die in ihrem Kopf kreisten wie ein hungriger Vogelschwarm, hatten sie noch keinen Schritt weitergebracht. Nein, es hatte keinen Sinn. Sie würde sich wohl einfach damit abfinden müssen, dass es in ihrer Erinnerung eine Lücke von drei Tagen gab und dass das, was in dieser Zeit geschehen war, ihr altes Leben unwiderruflich zerstört hatte.
Emma hatte das Beiboot am Ende des Hinterdecks erreicht; hier hörte der Teil der Helene auf, der den Passagieren der ersten Klasse vorbehalten war. Also mir, dachte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, war sie doch die einzige Reisende, die den Luxus einer Kajüte genießen durfte. Die anderen Passagiere – es mussten Hunderte sein – drängten sich im schwülwarmen Bauch des Schiffes, dem Zwischendeck.
Emma hatte bald erfahren, dass es sich ausnahmslos um Auswanderer handelte, Bauern meist, die der wirtschaftlichen Not daheim entkommen und in Australien ihr Glück suchen wollten. Fast alle stammten aus Württemberg wie sie selbst, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon: Weder hatte Emma ihr altes Leben freiwillig aufgegeben, noch hatte sie vor, auf dem fremden Kontinent als Bäuerin zu arbeiten.
Statt Pflanzen anzubauen, zeichne ich sie lieber, dachte sie und ging langsam über das Deck zurück. Dass ich dafür einmal in den australischen Busch gehen würde, hätte ich mir zwar niemals träumen lassen. Doch schlimmer als die Hölle zu Hause kann es dort wohl auch nicht sein.
Sie strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. An daheim wollte sie jetzt nicht denken.
Die brennende Sonne trieb Emma hinunter in ihre Kajüte. Je länger die Reise sich hinzog, desto weniger konnte sie ihren kurzen, einsamen Spaziergängen an Deck abgewinnen. Ihre Lust auf Neues, die ihre Eltern immer belächelt und so manches Mal getadelt hatten, wurde auf diesem Klipper kaum befriedigt. Seit Wochen bekam sie nichts zu sehen als das endlose Ultramarinblau des Ozeans. Kaum ein Mensch sprach mit ihr, und es gab keinerlei Abwechslung.
Nun ja, fast keine, verbesserte sie sich, während sie die hölzernen Stufen hinabstieg. In den ersten Tagen hatte sie geglaubt, vor Übelkeit zu sterben, das immerhin hatte sie in Stuttgart nie erlebt. Mehrmals hatte das Schiff bei Stürmen so geschwankt, dass sie vom Stuhl gerutscht war; auch das kam auf dem Festland eher selten vor. Und dann das Klima! Diese subtropische Hitze war ärger als alles, was die Hundstage daheim einem antun konnten. Wenn das keine Abwechslung war … Sie lächelte schief.
Nun, es war ja bald vorbei. Wenn nur endlich ein ordentlicher Wind aufkäme! Die anhaltende Flaute machte Passagiere wie Matrosen reizbar, weil sie seit Tagen dafür sorgte, dass die Helene nicht vom Fleck kam. Dabei war Australien – das hatte der Kapitän ihr gestern anvertraut – zum Greifen nah.
Ihr neues Leben – zum Greifen nah. Trotz der Hitze lief ihr ein Schauer über den Rücken; ob vor Aufregung oder Furcht, das wusste sie nicht zu sagen.
Emma ging in ihre Kajüte, setzte sich an den kleinen Waschtisch und holte tief Luft. Sie spritzte sich lauwarmes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel.
»Bin das wirklich ich?«, murmelte sie mit leiser Verwunderung. Eine ernste Frau mit salzgegerbter brauner Haut und ausgebleichtem Haar sah ihr aus blauen Augen nachdenklich entgegen.
Sie dachte daran, wer sie in Württemberg gewesen war, noch im zeitigen Februar, vor den drei schwarzen Tagen: Emma Röslin, einundzwanzig Jahre alt, Apothekertochter aus Stuttgart, frei von materiellen Sorgen, hübsch und immer gut gekleidet.
Und jetzt?
Jetzt war sie Emma Röslin, zweiundzwanzig Jahre alt, die ihren Geburtstag mutterseelenallein auf hoher See gefeiert hatte. Sie, die Tochter aus gutem Hause, würde sich für ein paar Pfund als Assistentin eines deutschen Botanikers in Australien verdingen; sie war nun eine in sich gekehrte Frau, die gezwungen war, für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen.
Sie hatte sich sehr verändert. Nicht einmal, dass sie jemals so etwas wie Modebewusstsein besessen hatte, sah man ihr noch an: Ihre Krinoline trug sie schon längst nicht mehr, und an besonders heißen Tagen spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, ihr scheußlich enges Korsett über Bord zu werfen. Seit die subtropische Sonne Tag für Tag auf das Schiff niederbrannte, verzichtete Emma sogar auf die züchtigen Unterärmel ihrer Kleider. Die Strafe für all das waren braune Arme und eine formlose Silhouette, sodass Emma sich, wie sie fand, kaum mehr von den armen Auswandererfrauen unterschied.
Doch was machte das schon? Alle Kajüten außer ihrer standen leer, im Salon hielt nur sie sich auf, und auch das Hinterdeck war ihr allein vorbehalten. Sah man von Kapitän Karnshagen und seiner Gattin ab, so war schlicht niemand da, vor dem sie sich blamieren konnte. Folglich, fand Emma, konnte sie sich anziehen, wie es ihr gefiel.
»Viel bedenklicher als mein Aussehen ist doch die Tatsache, dass ich neuerdings Selbstgespräche führe. Ich werde schon langsam wunderlich«, sagte sie vorwurfsvoll zu der neuen Emma im Spiegel. Es wurde wirklich Zeit, dass die Monate auf See ein Ende fanden! Wenn sie erst in Australien war, würde sie endlich wieder eine Beschäftigung haben, unter Menschen sein und abgelenkt werden. Vielleicht würde sie sogar aufhören, Nacht für Nacht von zu Hause zu träumen.
Energisch stand sie auf, um aus der Kiste neben ihrer Schlafstatt Papier und Bleistift zu holen. Sie würde zeichnen. Ja, sie musste einfach etwas tun, statt sich dem Müßiggang hinzugeben, dann würde es ihr sofort besser gehen. Hatte ihr das Studium der englischen Sprache in den vergangenen Monaten nicht aus so manch trauriger Stimmung herausgeholfen? Gottlob hatte sie ein entsprechendes Lehrwerk mitgenommen! Denn die Sprache ihrer neuen Heimat – das hatte sie sich noch vor der Abreise fest vorgenommen – wollte sie beherrschen, wenn sie in Australien ankam. Es machte sie bereits nervös, dass sie so gut wie nichts über den fernen Kontinent wusste; wenigstens wollte sie sich mit den dort lebenden Menschen verständigen können.
Nun aber war eine botanische Übung an der Reihe. Emma beschloss, eine der Heilpflanzen aus ihrem Lieblingsbuch abzuzeichnen, einem Werk von Friedrich Gottlob Hayne, »Getreue Darstellung und Beschreibung der in der Arzneykunde gebräuchlichen Gewächse, wie auch solcher, welche mit ihnen verwechselt werden können«. Das Buch mit dem sperrigen Titel war neben der Bibel die wichtigste Schrift im Hause Röslin gewesen, und Emma hatte vor ihrer Abreise nichts unversucht gelassen, um sich ein Exemplar zu verschaffen. Zwar hatte der Vater sich standhaft geweigert, Emma Geld dafür zu geben, doch schließlich hatte er ihr sein eigenes Buch geschenkt. Bei dieser Gelegenheit hatte er sogar ein paar Worte mit ihr gesprochen; barsch hatte er gesagt: »Das abgegriffene Ding ist gerade im rechten Zustand für Australien. Ich wollte es schon lange ersetzen.«
Auch wenn es ein Geschenk wider Willen gewesen war, hielt Emma das Buch nun hoch in Ehren. Schon in Stuttgart hatte sie oft hineingeschaut, namentlich dann, wenn sie eine Pflanze nicht erkannte, die ihr Vater gesammelt hatte und die sie abzeichnen sollte. Doch erst an Bord der Helene hatte sie gelernt, dieses und ihre anderen Bücher wahrhaft zu lieben. Ebenso wie das Zeichnen. Denn wenn sie zeichnete, hatte die Grübelei für ein, zwei Stunden ein Ende. Dann war sie vollkommen konzentriert und dachte an nichts anderes als an das Objekt, das sie möglichst naturgetreu zu Papier bringen wollte.
»Herr Crusius kann sich also nicht beschweren«, murmelte sie, als sie ihre Utensilien unter den Arm klemmte und sich auf den Weg zum Salon machte, wo ein schwerer Eichenholztisch ihr als Zeichenplatz dienen würde. »Wenn ich in Brisbane ankomme, werde ich nicht nur Englisch sprechen, sondern auch so viel Übung im Zeichnen haben wie nie zuvor!«
Zeichenstunde und Abendessen waren vorüber, und wieder stand Emma an der Reling. Doch jetzt war ihre Stimmung deutlich besser als am Nachmittag. Sie fühlte sogar ein wenig Stolz, denn Haynes Werk hatte ihr gute Dienste geleistet, und sie hatte eine sehr genaue Zeichnung zustande gebracht. Das Ergebnis – Gesamtpflanze, Blüte, Frucht – war nicht nur hübsch anzusehen, sondern würde jedem kritischen wissenschaftlichen Blick standhalten, da war Emma sich sicher. Natürlich war es einfacher, aus einem Buch abzumalen, als nach der Natur zu zeichnen, aber Letzteres würde sie in Australien noch oft genug tun.
Australien …
Unwillkürlich schweifte ihr Blick über den Horizont. Zu gerne hätte sie ihre neue Heimat endlich gesehen! In ihrem Kopf spukten die wildesten Vorstellungen herum, und sie brannte darauf, sie alle mit der Wirklichkeit zu vergleichen.
Zwar durchfuhr Emma auch jetzt noch, nach so vielen Wochen, ein heftiger Schmerz, wenn sie an daheim dachte; an ihre überstürzte Abreise, die eher einer Flucht geglichen hatte denn einem würdevollen Abschiednehmen. Doch es gab auch Momente, in denen ihre natürliche Wissbegierde über den Schmerz siegte, und dann malte sie sich Australien in den buntesten Farben aus. Würde sie die vielen verschiedenen Arten der Eukalyptusbäume sehen mit ihren wachsüberzogenen Blättern und der seltsamen Schälrinde? Würden Lianen sie umschlingen? Würden Flughunde über sie hinwegflattern, Riesenkängurus ihren Weg kreuzen, würde sie gar die gefährlichen Krokodile zu Gesicht bekommen? Ach, und die farbenprächtigen Papageien, die wollte sie allzu gerne sehen!
Vorerst sah sie allerdings nichts als Wasser. Und aus den Augenwinkeln … War da nicht ein kleines Mädchen?
Emma wandte den Kopf und erkannte die fünfjährige Wilhelmine Schreiber, Tochter verarmter Bauern aus der Nähe von Tübingen. Emma hatte Wilhelmine in den letzten Wochen des Öfteren eine Leckerei zugesteckt. Als Passagierin des Zwischendecks war es der Kleinen zwar verboten, zu Emma aufs Hinterdeck zu kommen, doch da sich niemand sonst hier aufhielt, wagte die Kleine es von Zeit zu Zeit, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Freundlich winkte Emma dem Mädchen näher zu kommen.
»Na, langweilst du dich?«, fragte sie Wilhelmine. Die schüttelte den Kopf, trat dicht an Emma heran und deutete auf den Becher in Emmas Hand. Emma stieg der Geruch von Urin und Erbrochenem in die Nase, und sie musste sich beherrschen, nicht vor dem Kind in seinen schmutzstarrenden Kleidern zurückzuweichen. Grundgütiger, jedes Mal, wenn sie sich trafen, roch Wilhelmine strenger!
Wie würdest du selbst riechen, wenn du im Zwischendeck hausen müsstest?, wies Emma sich im Stillen zurecht. Wenn regelmäßig der Eimer für die Notdurft umkippen und sein Inhalt sich über meine sämtlichen Habseligkeiten ergießen würde? Wenn ich meine Kleider monatelang nur mit Salzwasser waschen könnte, weil das Süßwasser kaum reicht, um nicht zu verdursten?
»Du möchtest trinken, hm?«, sagte sie und zwang sich zu lächeln. »Hier, nimm.«
Gierig griff die Kleine nach dem Becher. Es hatte lange nicht mehr geregnet, und der Frischwasservorrat auf der Helene ging zur Neige. Sicher wurde das faulige Wasser in den Fässern unter Deck noch stärker rationiert als sonst. Wilhelmine hatte wahrscheinlich trotz der Hitze kaum etwas zu trinken bekommen.
Emma schluckte, plötzlich spürte sie den Durst des Kindes wie ihren eigenen. Dass sie selbst eben nach Herzenslust hatte essen und trinken dürfen, kam ihr wie ein königliches Privileg vor, und sie wusste genau, dass sie dieses Privileg nur Herrn Crusius zu verdanken hatte.
An jenem entscheidenden Abend in Stuttgart, als sie sich dazu entschieden hatte, ihm nach Australien zu folgen, hatte Herr Crusius ihr feierlich versprochen, dass er sich gut um sie kümmern würde.
»Ich selbst«, hatte er bedauernd gesagt, »schiffe mich leider schon in den kommenden Tagen ein, sodass ich Ihre Reisevorbereitungen nicht abwarten kann. Doch ich werde dafür sorgen, dass Sie auch ohne mich eine angenehme Reise haben werden, Fräulein Röslin.«
Herr Crusius hatte Wort gehalten: Als Passagierin der ersten Klasse erfuhr Emma alle nur erdenklichen Vergünstigungen. So durfte sie allabendlich am Tisch des Kapitäns und seiner Gattin speisen und kam auf diese Weise in den Genuss frisch gefangenen Fisches, gebratener Hühner oder feiner Terrinen. Sie musste zugeben, dass die Verköstigung an Bord gar nicht übel war. »Unser Smutje ist ein wahrer Zauberer«, sagte Kapitän Karnshagen gerne und strich sich jedes Mal zufrieden seinen Bart.
In der Holzklasse allerdings – das wusste Emma von der kleinen Wilhelmine – versagte die Zauberkraft des Smutjes: Seit das Sauerkraut ausgegangen, das letzte Obst verfault und der Speck madig geworden war, mussten die Menschen sich mit dünner Suppe, Graupen und Kartoffeln begnügen. Ab und zu gab es Salzheringe oder einige Brocken Pökelfleisch, das mangels Süßwassers in Meerwasser gelegt und zu zähen Klumpen »gefrischt« wurde. Einmal hatte Emma den Smutje dabei beobachtet, wie er angeschimmelten Schiffszwieback nicht etwa über Bord geworfen hatte, sondern unter Deck hatte schaffen lassen, damit er als Abendessen an die Auswanderer verteilt wurde.
»Das rohe Gesindel da unten braucht nichts anderes«, hatte die Gattin des Kapitäns gesagt, als Emma sie auf die Missstände in der Holzklasse angesprochen hatte. »Gibst du denen einen Finger, wollen sie die ganze Hand. Wenn die Weiber für ihre kranken Angehörigen Wein oder Bier verlangen und mein lieber Mann sich erweichen lässt, beschweren sie sich auch noch! Und warum? Bloß weil er den dreifachen Preis dafür nimmt.«
»Finden Sie das denn gerecht?«, wagte Emma einzuwerfen.
»Aber natürlich. Würde mein lieber Mann anders handeln, so hätten wir bald keinen Tropfen Wein mehr in den Fässern, weil das Pack sich darüber hermachen würde. Also müssen derlei Köstlichkeiten so teuer sein, dass niemand auch nur auf die Idee kommt, uns darum anzugehen – außer in Krankheitsfällen. Da ist dem Gesindel das Geld plötzlich egal.«
Frau Karnshagen lachte verächtlich. Doch als sie Emmas befremdeten Gesichtsausdruck sah, setzte sie rasch hinzu: »Warum haben die Leute auch ihre Landwirtschaft daheim aufgegeben? Gieriges Bauernvolk, das von Goldbergen und unendlichen Viehherden in Australien träumt! Die Wirklichkeit wird sie bald eines Besseren belehren.« Sie legte Emma eine blasse Hand auf den Arm. »Aber lassen Sie uns doch von netteren Dingen plaudern, Fräulein Röslin. Erzählen Sie mir, welche Blumen Sie heute gezeichnet haben. Sie sind ja so begabt!«
Emma hatte ihr Entsetzen über das mitleidslose Kapitänspaar verborgen, so gut sie konnte, und war der Aufforderung höflich nachgekommen. Doch im Stillen hatte sie sich vorgenommen, der kleinen Wilhelmine am nächsten Tag noch mehr Leckerbissen als sonst zuzustecken. Dabei hatte sie gewusst, dass das Stück Schokolade hier und die Scheibe frisch gebackenen Brotes dort lediglich Tropfen auf den heißen Stein waren.
Auf diesem Schiff weiß ich wenigstens, wofür ich mich schäme, war es ihr durch den Kopf gegangen. Zu schlemmen, während andere hungern, das ist wahrlich nichts, worauf man stolz sein kann.
Wilhelmines Stimmchen brachte Emma zurück ins Hier und Jetzt. Die Kleine reichte ihr den leeren Becher und sagte dankbar: »Das war gut. Zum Abendessen gab’s fast nichts, wissen Sie. Aber Mutter hat uns versprochen, dass wir jeden Tag Wasser bekommen, so viel wir wollen, wenn wir erst in Australien sind. Und Milch!«
»Dann freu dich schon mal.« Emma lächelte. »Es ist bald soweit, sagt der Kapitän.« Sie kramte in ihrem Beutel nach dem Dörrobst, das sie vorsorglich für Wilhelmine eingepackt hatte. Hungrig machte das Kind sich darüber her, dann verabschiedete es sich und rannte über das leere Hinterdeck zurück zu ihren Eltern und Geschwistern.
Emma schaute der Kleinen nach, und plötzlich überfiel sie absurder, heißer Neid. Wilhelmine hatte zwar nicht genug zu trinken und zu essen, löcherige Kleider und mit Sicherheit Läuse auf dem Kopf, aber sie hatte ihren Platz und wusste unverbrüchlich, zu wem sie gehörte. Sie war nicht allein.
Tränen schossen Emma in die Augen.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich streng, bevor der Schatten, der stets in einem Winkel ihres Herzens auf einen Augenblick der Schwäche lauerte, Macht über sie bekommen konnte. Selbstmitleid hatte noch niemandem genützt. Ärgerlich tupfte sie die Tränen mit ihrem Taschentuch ab.
Die Dämmerung verdichtete sich, es wurde rasch dunkel, und Emma warf einen letzten Blick auf den Ozean. Er war nicht mehr so ruhig wie noch am Tag; weiße Schaumkronen glänzten im Sternenlicht und hoben sich von der grundlosen Tiefe des schwarzen Wassers ab. Der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Vielleicht würden sie ja tatsächlich an Fahrt gewinnen, so dass sie endlich, endlich die Moreton Bay erreichten.
Emma warf sich in ihrem schmalen Bett hin und her, ohne Schlaf zu finden. Die bevorstehende Ankunft beschäftigte sie, und sie spürte, wie sich Angst in ihr ausbreitete. Was erwartete sie in ihrem neuen Leben? War es wirklich richtig gewesen, alles so weit zurückzulassen?
Ihre Gedanken wanderten zurück nach Stuttgart, zu der Verzweiflung, die ihrem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit gefolgt war. In ihrer Erinnerung hatte eine drei Tage lange Lücke geklafft wie eine blutige Wunde, und niemand hatte ihr helfen wollen, sie zu schließen. Mehr noch: Niemand hatte auch nur mit ihr gesprochen.
Emma hatte sich bis zur Erschöpfung bemüht, ihr Gedächtnis wiederzufinden, doch es war vergebens. Sie kam zu dem Schluss, dass das, was geschehen war, so schrecklich gewesen sein musste, dass etwas in ihr die Erinnerung daran unwiderruflich gelöscht hatte. Geblieben war nur das diffuse Gefühl ungeheurer Schuld, und gerade weil es so wenig greifbar war, machte es sie in ihren schlaflosen Nächten fast verrückt. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte – der Anlass für das Schuldgefühl blieb in den Tiefen ihrer Seele verborgen. Sie wusste nur noch, dass sie sich auf den Klavierunterricht bei Ludwig vorbereitet hatte, und dann – nichts mehr.
Emmas Gedächtnisverlust war das eine; die rätselhafte Veränderung, die sie an ihrem Vater wahrgenommen hatte, das andere. Er, zu dem sie ein solch herzliches Verhältnis gehabt hatte, wechselte seit ihrem Erwachen kein Wort mehr mit ihr. Auch die Dienstmädchen hatte Herr Röslin angewiesen zu schweigen, und auf Emmas wiederholte Frage, was denn um Himmels willen geschehen sei, bekam sie nur stumme Verachtung zur Antwort. Sie wurde behandelt wie eine Gefangene: Der Vater verbot ihr auszugehen, Briefe zu schreiben, Freundinnen zu empfangen, ihren Klavierunterricht fortzusetzen. Ludwig kam nicht mehr ins Haus und machte auch sonst keinerlei Anstalten, mit Emma in Kontakt zu treten. Und da sie nicht allein hinausdurfte – wenn überhaupt –, war es ihr unmöglich, mit ihm zu sprechen.
Anfangs war sie zu schwach, um sich darüber zu grämen, doch als ihre Kräfte zurückkehrten, empfand sie die Situation als unerträglich. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihrem Gefängnis entkommen konnte. Doch jeder Ausweg, den sie in Gedanken durchspielte, endete in derselben Sackgasse: Wenn sie tatsächlich fliehen wollte, würde sie heimat- und mittellos auf der Straße landen. Ohne Referenzen und ohne geordnete Familienverhältnisse würde niemand sie einstellen, weder als Kindermädchen noch als Hausmädchen, wahrscheinlich nicht einmal als Küchenhilfe. Nein, so ging es nicht.
Aber wie dann?
Sie litt sehr darunter, dass sie sich mit niemandem austauschen konnte. Allein in ihrem Zimmer, drehten Emmas Gedanken sich unaufhörlich im Kreis, doch sie kam einer Lösung ihrer Probleme keinen Schritt näher. Auch von ihrer Mutter konnte sie keine Hilfe erwarten: Frau Röslin war ohne Abschied abgereist, Gott allein wusste, wohin, und Emma erfuhr weder, wo sie sich aufhielt, noch, wann sie zurückzukommen gedachte. Sie schien Emma also noch mehr zu grollen als der Vater. Emma vermisste ihre Mutter fast ebenso stark, wie sie Ludwig vermisste. Nach mir hingegen, dachte sie oft verzweifelt, sehnt sich offensichtlich niemand.
Erst als eines Abends im Frühling der ehrgeizige Forscher und Botaniker Oskar Crusius zu Gast war, dessen Besuch eine hohe Ehre für Herrn Röslin bedeutete, wendete sich das Blatt. Herr Crusius bemerkte nichts von der frostigen Stimmung, die im Hause Röslin herrschte, und fing an, charmant mit Emma zu plaudern. Er fragte Emma nach ihrer liebsten Beschäftigung, lobte sie für ihr botanisches Interesse und ließ sich ihre Pflanzenzeichnungen zeigen. Scherzhaft schlug er vor, das »hübsche und begabte Fräulein Röslin« statt seines erkrankten Assistenten mit nach Australien zu nehmen. Er, Crusius, sollte dort im Auftrag des Hamburger Reeders und Überseekaufmanns Cesar Godeffroy unbekannte Pflanzen sammeln. Er musste sie zeichnen, konservieren und nach Deutschland verschicken. Godeffroy wolle seine naturkundliche Sammlung nämlich zu einem Museum erweitern, ferner wolle er die Dubletten der konservierten Pflanzen verkaufen.
»Ich bin«, sagte Herr Crusius, »schon einige Jahre lang für Godeffroy in der Welt unterwegs, und das höchst erfolgreich. Doch leider«, er zwinkerte Emma zu, »mangelt es mir an Zeichentalent, sodass ich stets auf die Hilfe eines kundigen Assistenten angewiesen bin. Na, Fräulein Röslin, wie wäre es? Hegen Sie keine romantischen Sehnsüchte nach fernen Ländern?«
Emma spürte den Blick ihres Vaters und wagte es zum ersten Mal seit Wochen, ihn offen zu erwidern. Doch was sie in seinen Augen sah, erschreckte sie. Denn sie fand keine Liebe, sondern Hass.
Er würde mich nur allzu gerne am anderen Ende der Welt wissen, fuhr es ihr durch den Kopf. Und in genau diesem Augenblick traf sie ihre Entscheidung.
Spontan sagte sie: »Einverstanden. Ich komme mit Ihnen, Herr Crusius. Ich zeichne schon lange Heilkräuter für meinen Vater, und ich werde mir alle Mühe geben, Sie nicht zu enttäuschen.«
Herr Crusius hatte die Augenbrauen hochgezogen und sie erstaunt gemustert. Doch da von Herrn Röslins Seite kein Wort des Protests gekommen war und Emma ihre Zustimmung offensichtlich ernst gemeint hatte, war es eine Sache von nicht einmal einer Stunde gewesen, den Handel perfekt zu machen. Die Herren hatten sich zurückgezogen, und als es Emma erlaubt worden war, wieder zu ihnen zu stoßen, hatte sich alles geändert: Sie war nicht länger die Gefangene ihrer eigenen Eltern, sondern bezahlte Assistentin des Herrn Oskar Crusius.
Und damit vollkommen allein verantwortlich für ihr zukünftiges Leben.
Die unverhoffte Befreiung aus ihrer Gefangenschaft war ihr wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Nun jedoch, da sie Herrn Crusius in einem fremden Lande wiedersehen sollte, stieg Panik in Emma hoch. Sie lag auf ihrem schmalen Bett und starrte an die dunkle Decke ihrer Kajüte. Hatte sie ihre botanischen Kenntnisse überschätzt? Würde sie Herrn Crusius’ hohen Erwartungen an ihr zeichnerisches Können genügen? Hätte er nicht doch lieber einen Wissenschaftler wählen sollen? Vielleicht würde er sie nach den ersten Wochen zornig und enttäuscht entlassen, um sich einen fähigeren Assistenten zu suchen – und wohin sollte sie dann gehen, an wen sich wenden, wovon leben?
Der Vogelschwarm in Emmas Kopf flatterte aufgeregter denn je umher, an Schlaf war nicht zu denken. In der Schwärze der Nacht wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihr Verbrechen, worin auch immer es bestand, ungeschehen machen und wieder in ihr altes Leben schlüpfen zu können – wie in ein Kleid, das alt, gemütlich und vertraut war.
Die Erinnerung an Stuttgart und die Eltern, denen sie vor so kurzer Zeit noch in gegenseitiger Liebe verbunden gewesen war, legte sich über Emma wie ein grauer Schleier. Der lang unterdrückte Jammer brach sich Bahn, und sie schluchzte heiser auf. Sie hatte sich nicht von ihrer Mutter verabschieden können, sie hatte keine guten Reisewünsche ihres Vaters erhalten, und sie würde ihre Eltern höchstwahrscheinlich niemals wiedersehen.
Und das Schlimmste von allem: Ihre Mutter und ihr Vater waren offensichtlich froh darüber.