Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Prolog
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. 15
  19. 16
  20. 17
  21. 18
  22. 19
  23. 20
  24. 21
  25. 22
  26. 23
  27. 24
  28. 25
  29. 26
  30. Epilog
  31. Die Autorin
  32. Lora Leigh bei LYX
  33. Impressum

LORA LEIGH

Del-Reys Schwur

Breeds

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Silvia Gleißner

Zu diesem Buch

Als Anya Kobrin in eine verrufene Bar in Russland spaziert und furchtlos um Del-Rey Delgados Hilfe bittet, ist es um den Kojoten-Breed geschehen. Er weiß sofort, dass die junge Frau seine Gefährtin ist. Anya fleht ihn an, die gefangenen Breeds in dem Labor, in dem sie arbeitet, zu retten – dabei jedoch ihren Vater, der Chef des Sicherheitsteams ist, zu verschonen. Aber Del-Rey ist ein Einzelgänger, verschlossen und hart, er ist nur für eines bekannt: dass er niemals seine Versprechen bricht. Und doch weiß er, dass er sein Wort gegenüber Anya nicht halten wird. Sechs Jahre später ist es soweit: Del-Rey und sein Team befreien die gefangenen Breeds, dabei wird Anyas Vater angeschossen – von Del Rey. Und obwohl Anya über all die Zeit tiefere Gefühle für den Kojoten-Breed entwickelt hat, kann sie ihm diesen Verrat nicht verzeihen. Um seine Gefährtin an sich zu binden, sieht Del-Rey nur eine Möglichkeit: Er entführt die junge Frau und bringt sie zur Basis der Kojoten. Doch kann er ihr Vertrauen und ihre Liebe jemals wiedergewinnen?

Prolog

Del-Rey Delgado, der Geistkojote, war der Alpha des Teams aus achtundzwanzig Söldnern, die er von überall aus den Rängen des Councils um sich versammelt hatte. Kojoten-Breeds, die er gerettet, Männer, die er selbst ausgebildet hatte – hartgesottene Soldaten mit kalten Augen, die in der Welt des Untergrunds nur als Team Zero bekannt waren, die Söldnertruppe, die bereit war, auch die selbstmörderischsten Missionen zu übernehmen.

Sie hatten Erbinnen gerettet, Despoten ermordet und als Sicherheitstruppe für einige der größten Führungspersönlichkeiten der Welt fungiert. Für Männer, die nie erfuhren, dass sie es mit Schattenwesen zu tun hatten, nicht geboren, sondern gezüchtet.

Einige wenige Male hatten sie sogar Mitglieder des Councils selbst geschützt. Eine Weile, aber lange genug, um an die benötigten Informationen zu kommen und dabei ihren Ruf zu wahren. Diese Führungspersönlichkeiten hatten immer ihr Leben verloren, sobald die Bezahlung eingestrichen war.

Wie Del-Rey seinen Männern gesagt hatte, kam die Rache immer erst nach der Rechnung, und zur Unterstützung ihrer Pläne brauchten sie eine überaus große Menge Geld.

Pläne wie die Rettung anderer Kojoten, die es geschafft hatten, Kontakt zu Del-Reys Schattentruppe aufzunehmen. Heute blickte er in bezaubernde blaue Augen und fragte sich, ob das Genetics Council mit ihm nicht doch wahrhaft eine Kreatur ohne Seele geschaffen hatte. Denn als er in die Augen der jungen Kindfrau sah, wusste er: Am Ende würde er sie verraten.

Sechzehn Jahre alt und schön wie ein Sonnenaufgang. Langes rotgoldenes Haar fiel in einem seidigen Zopf über ihre Schultern, als sie eine der dreckigsten, miesesten und abgefucktesten Bars in Russland betrat. Verdammt, sie musste echt Mut haben, tatsächlich hierherzukommen.

Sie war ein frischer Windhauch, ein einzelnes schwaches Flämmchen der Unschuld inmitten korruptester Männer. Er klopfte mit den Fingernägeln auf die Bar, als Zeichen für seinen Stellvertreter Brimstone, und blickte zur Tür, als es im ganzen Raum still wurde.

Selbst eine Fünfjährige hätte genug Instinkt besessen, in dieser Situation das Weite zu suchen. Doch dieses Mädchen lief nicht davon. Mit hocherhobenem Kopf kam sie herein und bewegte sich majestätisch durch den Raum.

Sie war eine Massenvergewaltigung in Wartestellung.

Er nickte seinen Männern zu und verfolgte, wie sie sich von Tischen und schattigen Ecken des Raumes weg auf sie zubewegten, sie umringten, während Del-Rey und Brim von der Bar zum Hinterzimmer gingen, das er für dieses erste Zusammentreffen gewählt hatte.

Er wartete bereits, als sie durch die Tür geschoben wurde, saß an der Ecke des kleinen Tisches, ein Bein auf dem Boden, das andere träge hin und her wippend, während er sie musterte. Runde Augen, leicht geöffnete, rosige Lippen, scharfe Atemzüge. Und ein Anflug von Furcht in diesen Augen.

Sie hätte schon zuvor gut bekannt mit Furcht sein sollen, bevor sie es hierher geschafft hatte.

Mit dem Fuß schob er ihr einen Stuhl zu.

»Setzen!«, befahl er und ließ absichtlich das Tier in sich in der Stimme durchklingen.

Aber lief sie weg? Nein, tat sie nicht. Sie ging langsam zu dem Stuhl, setzte sich und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Del-Rey«, flüsterte sie. »Das ist spanisch, wissen Sie, für ›des Königs‹.«

Er runzelte die Stirn. Er war durchaus eines Königs, längst verraten und tot. Er hatte nicht die Absicht, in die Fußstapfen dieses genetischen Vorfahren zu treten.

Er beugte sich vor, stützte den Ellbogen aufs Knie und ließ langsam den Blick über sie schweifen. Sehr langsam. Über fragile jugendliche und zugleich frauliche Züge. Ein verdammtes Kind. Ach du Schande, das Labor in Sibirien musste ernsthaft verzweifelt – oder verdorben – sein, ihm ein Kind zu schicken.

»Ich werde dich töten, bevor ich hier weggehe«, seufzte er und sah, wie ihr Lächeln erstarb.

»Mich töten?« Nervös fuhr sie mit der Zunge über ihre Lippen und erwiderte seinen Blick mit einem Anflug von Wachsamkeit. »Sie hatten mir Sicherheit versprochen.«

»Und du hast mir geglaubt?« Der Hauch eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Wie töricht von dir.«

»Aber Sie brechen nie ein Versprechen.« Sie blinzelte und sah ihn derart unschuldig an, dass er fast lachen musste.

Stattdessen zog er nur eine Augenbraue hoch, als Warnung, dass ihre Informationen vielleicht nicht ganz korrekt gewesen waren.

Sie blickte hinab auf ihre Hände, verschränkte die Finger und hob erneut den Blick. »In dem Labor, in dem mein Vater als Sicherheitsbeamter arbeitet, gibt es fünf Frauen.« Sie kaute besorgt auf ihrer Unterlippe, bevor sie fortfuhr. »Sie sagten, sie hätten Ihnen eine Nachricht geschickt, und Sie hätten geschworen, dass Sie die Kontaktperson, die Ihnen geschickt wird, nicht verletzen würden.«

Er legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Es gibt keine weiblichen Kojoten.«

»Es gibt fünf«, widersprach sie. »Sharone, sie hat Sie kontaktiert und in den verschlüsselten Mails mit Ihnen kommuniziert. Und noch vier weitere. Zwillinge, Emma und Ashley. Und zwei jüngere, Marcy und Chanda. Die Nesthäkchen der Gruppe.«

Sein Blick war neugierig geworden. »Wo sind die Männer der Gruppe? Kojoten lassen keine Frauen für sich sprechen, kleines Mädchen.«

Sie schluckte. »Die Männer werden strenger bewacht. Die Wissenschaftler haben mich gern. Ich bin eine von wenigen Frauen im Labor, und ich bin mit ihnen aufgewachsen.«

Wie interessant. Sie musste lügen; eine andere Option gab es nicht. Verdammt, ein Kind zu töten war eine der wenigen Sünden, die er in seinem Leben noch nicht begangen hatte, doch dieses Kind hier kannte sein Gesicht. Er konnte nicht riskieren, identifiziert zu werden.

»Sharone sagte, Sie würden sie retten.« Sie sah ihn an, und etwas, das mehr als Sorge war, verdunkelte ihre blauen Augen. Sogar ein Anflug von Zorn mochte in den hübschen Tiefen zu sehen sein. »Wissen Sie, welche Risiken wir eingegangen sind, um Sie zu kontaktieren? Um zu diesem Treffen zu kommen?«

Oh ja, eindeutig Zorn. Er sah sie an, ehrlich erstaunt. Sogar seine Männer überlegten es sich zweimal, bevor sie ihn verbal derart angingen. Ganz sicher hatte es keiner mehr gewagt, seit er erwachsen war. Vielleicht sogar zuvor nicht.

»Ihr habt viel riskiert«, pflichtete er ihr bei. »Aber ich habe euch in der Mail vorgewarnt, dass ich jeden töten werde, der versucht, mich aufs Kreuz zu legen. Wer auch immer dich in dieses Komplott mit hineingezogen hat, Kind, hat deinem Leben ein Ende gemacht.«

Zeigte sie Furcht? Nein. Stattdessen öffnete sie langsam ihre Jacke und holte mehrere Fotos heraus. Ihre Hände zitterten, als sie sie ihm gab.

Ihr Gesicht war blass, aber ihre Augen waren immer noch voll Zorn. Er warf einen Blick auf die Fotos und runzelte beim Anblick der fünf jungen Frauen die Stirn. Eindeutig Kojotinnen, wenn das gezwungene Lächeln, das ihre gekrümmten Reißzähne enthüllte, ein Hinweis war.

»Die könnten getürkt sein.« Er warf sie auf den Tisch.

Sie holte hörbar Luft. »Wenn ich nicht zurückkehre, wird die Nachricht nach Sanctuary zu den Raubkatzen-Breeds gehen, dass der Geistkojote mich ermordet hat. Ich kam zu Ihnen im Zeichen der im Breed-Law neu aufgestellten Ideale, zu dem Sie laut Ihrer Mail angeblich stehen. Diese Nachricht wird meinen Namen, mein Alter, das Labor, aus dem ich stamme, und eine Nachricht enthalten: ›Breed-Law überlebt nicht immer. Meister kontrollieren die Marionetten, und die Marionetten flüstern vom Lohn des Todes‹.«

Schockierend. Del-Rey starrte sie an, als sie den Code und die Information flüsterte, mit der jeder lebende freie Raubkatzen-Breed hinter ihm her sein würde. Vielleicht war es doch kein Trick.

Er konnte keine Täuschung wittern. Aber seine Sinne konnten getäuscht werden – Kojoten wussten genau, wie man die Sinne von Menschen und Breeds gleichermaßen täuschte. Ein Mensch konnte das lernen, wenn er denn schlau genug war.

Anya Kobrin war schlau genug. Sechzehn Jahre alt und bereits aktiv im Sicherheitsdienst und der Verwaltung im Chernow-Labor in Sibirien. Er kannte den Ort und inzwischen auch viele der dort Beschäftigten, doch die Breeds dort zu befreien, würde weit härter werden.

»So etwas geht nicht über Nacht.« Er ließ jeden Gedanken daran, sie zu töten, fallen. »Es könnte Jahre dauern. Ich gehe nicht blind da rein, und ich bringe keine Kinder in Gefahr. Und ganz bestimmt traue ich keinen blauen Augen und einem aufrichtigen Gesicht. Geh nach Hause. Ich melde mich, wenn ich mich entschieden habe.«

Sie sah ihn alarmiert an. »So lange kann es nicht warten. Es gibt über fünfzig Kojoten-Breeds hier. Und täglich sterben welche.« Verzweiflung trat in ihr Gesicht. »Sie können sie nicht einfach sterben lassen.«

»Und ich kenne Kojoten, Mädchen«, knurrte er zurück. »Ich kenne ihre Hinterlist, und ich weiß, wie leicht sie hübsche kleine Mädchen täuschen können. Wir warten und beobachten. Ich melde mich. Bis dahin ist die Sicherheit dieser jungen Frauen deine oberste Priorität.« Er zeigte auf die Fotos. »Du hast nur diese Aufgabe, ist das klar? Die Männer werden Bescheid wissen. Wissen sie auch, dass du hier bist?«

Sie schüttelte schnell den Kopf. »Nur Sharone weiß es. Den anderen haben wir es nicht gesagt.«

»Belasst es dabei«, befahl er, beugte sich vor, sah ihr in die großen blauen Augen und bedachte sie mit einem Blick, den die meisten Männer nur Sekunden vor ihrem Tod sahen. »Hintergehe mich, Anya Kobrin, und du stirbst. Du stirbst, dein Vater stirbt und sämtliche Freunde oder Mitglieder deiner Familie, die ich aufstöbern kann, werden ebenfalls sterben. Glaubst du mir?«

Sie leckte sich über die Lippen und nickte. »Ich würde damit rechnen. Aber ich werde Sie nicht hintergehen.«

Er nickte knapp. »Meine Männer geleiten dich aus der Stadt. Geh nach Hause, und warte, bis ich Kontakt aufnehme.«

»Bald?«, fragte sie und stand langsam auf. »Bitte bald. Bisher wurden die Mädchen nicht misshandelt, hauptsächlich deshalb, weil mein Vater dafür sorgt. Aber sie werden älter«, flüsterte sie. »Die drei ältesten sind bereits über achtzehn. Er wird sie nicht mehr lange schützen können.«

»Dann solltest du deinen Vater und deine Freundinnen besser überzeugen«, knurrte er. »Denn ich springe nicht durch Reifen und bringe mich und meine Männer so leichthin in Gefahr, wie ich es deiner Ansicht nach wohl tun sollte. Kojotinnen sind ein gewisses Risiko wert. Die Männer dort, die bereit sind, für die Freiheit zu tun, was sie tun müssen, sind das Risiko wert. Aber zweifle nie daran, dass es dort Spione gibt, und bevor ich komme, bringe ich in Erfahrung, wer sie sind. Und ich werde wissen, liebreizende Anya, ob du Freund oder Feind bist. Sorge dafür, dass du auf der Freund-Seite der Gleichung stehst. Ich habe kein Problem damit, eine Frau zu töten, wenn sie mich hintergeht.«

Sie erwiderte seinen Blick und reckte dann das Kinn, entschlossen und feminin überheblich. Himmel und Hölle, die Kleine hätte selbst eine Breed werden sollen. So verwegen. So couragiert.

»Wenn eins dieser Mädchen stirbt, bevor du dich entscheidest«, flüsterte sie mit bebender Stimme, »dann bist du derjenige, der besser vorsichtig sein sollte, Del-Rey, wer auch immer du bist. In deinen Augen mag ich ein Kind sein, aber ich wäre ein wirklich übler Feind.«

Sie drohte ihm? Am liebsten wollte er loslachen über ihre schiere Dreistigkeit. Doch stattdessen schmunzelte er nur, klopfte an die Wand und wartete, dass Brim hereinkam.

»Bringt sie hier raus, schnell und leise«, befahl er. »Bringt sie zum Bahnhof zurück. Sie fährt zurück in ihr nettes, sicheres Zuhause.«

Brim warf dem Mädchen einen harten Blick zu, nickte dann und trat beiseite, damit sie hinausgehen konnte. Sie trat an ihm vorbei, drehte sich dann um und sah Del-Rey an.

»Du solltest mal lächeln«, sagte sie sanft und überraschte ihn damit schon wieder. »Ich wette, du siehst wirklich niedlich aus, wenn du lächelst.«

Er unterdrückte sein Lächeln, bis sie weg war, und schüttelte dann den Kopf, ein breites Grinsen auf den Lippen. Dieser kleine Wicht. Mit dem hätte er sicher eine Menge Schwierigkeiten am Hals, das konnte er sehen. Und eine hübsche Herausforderung.

Zwei Jahre später

»Das ist Wahnsinn.« Anya sprang von ihrem Stuhl auf und sah den Mann an, der eintrat. »Ihr müsst schneller vorgehen.«

Del-Rey. Dunkelblondes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, schwarze Augen, so tief, dass sie manchmal nur einen Hauch von Blau reflektierten.

Bei ihrem Ausbruch hob er eine dunkelblonde Augenbraue und musterte sie kühl. Er musterte sie so, wie er es zwei Jahre zuvor getan hatte, als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Das halbe Dutzend Mal, das sie ihn seither gesehen hatte, hatte nichts daran geändert, wie er mit ihr umging.

Aber etwas in ihr hatte sich verändert. Sie träumte zu oft von ihm. Dachte zu oft an ihn.

»Ich habe dir gesagt, dass das nicht so schnell geht«, warnte er sie. »Dieses Labor ist nicht gerade einfach zugänglich, Schätzchen. Wir tun unser Bestes. Und wenn deine Kojotenfreundin so schlau ist, wie ich vermute, dann wusste sie, dass die Wartezeit lang wird.«

»Breeds werden auf der ganzen Welt befreit«, widersprach sie leidenschaftlich. »Es wurden Labore geknackt, die genauso stark gesichert sind.«

»Und das hat sehr viele Leben gekostet«, warnte er. »Im Augenblick ist euer Labor sicher vor den Tötungen, die bei den anderen Breeds Alltag sind. Kojoten werden nicht getötet, es sei denn, sie beginnen Gnade zu zeigen. Bisher sind die Mitglieder deiner Gruppe zu jung, um in großer Gefahr zu sein.«

»Man beginnt bereits, die älteren zu verlegen.« Sie ballte die Fäuste und dachte an die Gruppe, die vor über einem Monat gegangen war. »Wir können nicht mehr warten.«

»Sechs wurden verlegt, und sobald sie die russische Grenze überquerten, wurden sie befreit. Drei starben, weil sie ihre Wärter bei unserem Rettungsversuch vorwarnten.« Er nahm den Camcorder vom Tisch, schaltete ihn ein und stellte ihn vor sie hin. »Ich glaube, du kanntest sie.«

Schock und Verrat. Anyas Augen weiteten sich, als sie die Aufnahme ansah. Drei der Kojoten, die sie und Sharone zahllose Male beschützt hatten, hatten die anderen verraten, als der Rettungstrupp kam. Sie hatten die Waffen auf ihre Mit-Breeds gerichtet. Und mit harten Augen und kalter Stimme gaben sie dabei Council-Müll von sich.

»Die anderen drei sind am Leben und im Augenblick in Sicherheit«, beteuerte er, als das Video zu Ende war.

»Holt die Mädchen auf demselben Weg raus.« Verzweifelt sah sie ihn an. »Ich kann ihre Verlegung arrangieren.«

Er schüttelte den Kopf. »Vergisst du da nicht etwas, kleine Anya?«

Die Frage überraschte sie.

»Was meinst du damit?«

»Dein Vater hat dir diese Mädchen als Leibwache zuteilen lassen. Ich glaube, du hast ein Angebot vom Genetics Council selbst erhalten, ein Büro zu leiten, das die Verwaltungs- und Sicherheitsaufgaben koordinieren sollte, damit ihre Organisation noch geheimer bleibt.«

Sie runzelte die Stirn. Es stimmte, sie hatte ein solches Angebot erhalten, doch woher wusste er das?

»Doktor Chernow und Doktor Sobolowa haben darum gebeten, dass ich dem gegenwärtigen Labor zugeteilt bleibe, bis ich zweiundzwanzig bin.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie legten dem GC Beweise vor, dass ich nicht annähernd so kompetent in den neuen Programmen bin wie erhofft.«

Natürlich war das Absicht gewesen. Ihr Vater hatte sie vorgewarnt, dass ein solches Angebot kommen könnte, und Anya hatte dafür gesorgt, den Anschein zu erwecken, als hinke sie in gewissen Bereichen hinterher.

»Tatsächlich«, meinte er gedehnt. Ihr kam es so vor, als läge in diesem einen Wort eine ganze Menge Spott. Aber der Mann spottete häufig und wirkte immer hart. Doch manchmal sah sie auch Belustigung und vielleicht einen Anflug von Weichheit in seinen Zügen.

»Tatsächlich.« Sie verdrehte die Augen. »Was absolut am Thema vorbeigeht, dass ich eine Verlegung der Mädchen arrangieren könnte. Es wäre ganz einfach.«

»Nein.« Seine Stimme war kühl. Entschieden. »Hier sind drei Fotos. Kennst du diese Männer?«

Sie betrachtete die Fotos mit gerunzelter Stirn und zeigte dann auf eins. »Das ist Aleski Dornowo. Er ist Breed-Ausbilder und Exmitglied eines russischen Elite-Killerkommandos. Er war viele Jahre lang gewissermaßen Teil verdeckter Operationen.« Sie tippte auf das nächste. »Graco; er ist einer der älteren Breeds im Labor. Sehr still. Kälter als die anderen. Und das ist Cavalier. Er ist innerlich tot«, sagte sie traurig. »Er kam aus einem anderen Labor, kurz vor den Befreiungen. Ich hörte, es sei ein brutales Labor gewesen.«

»Und eures ist nicht so?«, fragte er sie.

Sie schüttelte langsam den Kopf und sah zu ihm auf. Sie fühlte den Schmerz bei dem Gedanken daran, was die Breeds erlitten. »Nein. Dr. Chernow und Dr. Sobolowa glauben, dass Loyalität mit Loyalität anfängt. Sie beginnen die Ausbildung mit Belohnungen für korrektes Verhalten. Sie weigern sich, Experimente an den Breeds durchzuführen, die sie erschaffen haben, und argumentieren, dass das zum Verlust dieser Loyalität führen würde. Sie stehen in ihren Fachbereichen in sehr hohem Ansehen. Das Council verweigert ihnen nur selten etwas, worum sie bitten. Sie töten nur zu Beispielzwecken.« Sie spürte die Tränen, die ihr in den Augenwinkeln brannten. »Aber sie töten dennoch.«

»Du bist zu weichherzig«, spottete er. »Tod gibt es jeden Tag. Dieser Mann«, er tippte auf Cavaliers Foto, »beobachte ihn genau.«

»Ist er ein Feind?« Sie sah zu ihm auf und fühlte, wie ihr das Herz schwer wurde. Sie mochte Cavalier. Sie sprach nie mit ihm, denn in der Nähe der männlichen Kojoten durfte sie sich nicht aufhalten, aber in seinen Augen stand etwas Gequältes und Trauriges.

»Freund oder Feind habe ich noch nicht entschieden. Sag Sharone, sie soll ihn genau im Auge behalten. Sie hat mehr Umgang mit den männlichen Breeds, als dir erlaubt ist. Richtig?«

»Richtig«, bestätigte sie bedrückt. »Du kommst noch nicht, um sie zu befreien, oder?«

»Noch nicht«, antwortete er. »Erst trennen wir die Spreu vom Weizen, bevor wir die Ernte einfahren. Es gibt keinen anderen Weg, Anya. Nicht, ohne deine Sicherheit und die der Breed-Frauen zu garantieren, die du so unbedingt schützen willst.«

Sharone hatte sie gewarnt, dass es ihn Jahre kosten würde, das Ganze richtig durchzuziehen. Sie hatte das nicht geglaubt. Doch jetzt glaubte sie es.

»Graco ist allerdings ein Spion«, warnte er sie da. »Wir haben Beweise dafür. Lass ihn versetzen, sobald du es einrichten kannst, ohne Verdacht zu erregen.«

Sie nickte. »Vater und die Wissenschaftler entscheiden das. Aber für gewöhnlich folgen sie Vaters Empfehlungen.«

Ihr Vater war Sicherheitschef und leitender Ausbilder, und er hörte auf ihre Meinung und schätzte sie. Die Tatsache, dass sie ihn hinterging, verfolgte sie häufig. Die Angst, dass er für ihre Taten mit seinem Leben bezahlen könnte, war eine Konstante.

»Ihr werdet meinen Vater nicht töten?«, fragte sie wieder. Sie fragte ihn jedes Mal, wenn sie sich trafen, nur um sicherzugehen. »Ihr werdet ihn nicht verletzen?«

»Dein Vater wird nicht sterben«, versprach er ihr. »Ich habe dir versprochen, dass ich deiner Familie keinen Schaden zufügen werde, Anya.«

Sie holte hörbar Luft. »Ich sorge für Gracos Versetzung und benachrichtige dich, wenn es arrangiert ist.«

»Sei tapfer, Anya.« Seine Worte und die tiefer werdende Stimme überraschten sie. »Nichts, was es wert ist, ist schnell zu haben.«

Sie nickte niedergeschlagen. »Freiheit ist es wert, darum zu kämpfen«, flüsterte sie. »Sie ist es wert, dafür zu sterben.«

Ihre Freundinnen waren keine Tiere. Die Kojoten, die in dem Labor, in dem sie arbeitete und lebte, gezüchtet worden waren, waren erschaffen, um Befehle zu befolgen und kalt und hart zu sein, doch Anya hatte über die Jahre so viel mehr in ihnen gesehen. Und sie hoffte inständig, dass sie sie bald befreien konnte.

Vier Jahre später

Del-Rey musterte die junge Frau, die an der anderen Seite des Tisches stand, während er und seine Lieutenants die Diagramme studierten, die sie mitgebracht hatte. Elektrische Leitungen, Wasserrohre, Zugänge durch Tunnel unter dem Labor, Sicherheitslücken – sie hatte alles geliefert, was sie brauchen würden. Doch ein wesentlicher Schlüssel fehlte, und er wagte nicht, ihr das zu sagen.

Ein Ass.

Jede große Mission brauchte ein Ass. Die eine Karte, die jeden Widerstand übertrumpfen würde – und dieser Trumpf war Anya selbst. Ihr Vater war Sicherheitschef und leitender Ausbilder. Zwei Cousins leiteten Sicherheitsteams. Verschiedene Verwandte arbeiteten innerhalb des Labors. Sie war das Nesthäkchen der Familie, gehegt von Vater und Cousins, und die Kojoten, die im Labor verblieben waren, betrachteten sie als ihren wertvollsten Schatz.

Sie würden für sie sterben, mit ihr sterben oder bei dem Versuch sterben, sie zu schützen. Es wäre ihnen egal. Wenn sie sagte, Geht durch die Hölle für mich, dann würden diese Männer und die fünf Frauen in dem verdammten Labor mit einem Lächeln in die Tiefen der Erde hinabsteigen.

Zwanzig waren noch übrig. Wenn sie davonkamen, würden sie sich den vierzig Leuten anschließen, die er über die Jahre bereits versammelt hatte. Alles männliche Kojoten, hartgesotten und kalt wie der Tod. Sie hatten nur ihre Ehre – auch wenn man ihnen eingebläut hatte, dass man ihnen die weggezüchtet habe – und die Prinzipien, die sie verbanden.

Seine Männer waren denen drinnen zahlenmäßig überlegen, doch er wettete, dass die Breeds in diesem Labor jubeln würden, wenn er sein Ass ausspielte. Es gab dort nicht einen einzigen, der sich wohl damit fühlte, sie zurückzulassen.

Aber er kannte den Preis für die junge Frau, die über die letzten sechs Jahre zu einem wesentlichen Teil seines Lebens geworden war. Sie hatte die Spreu vom Weizen getrennt und sichergestellt, dass nur noch loyale Breeds übrig waren. Sie hatte ihren Teil getan. Er hatte ihren Bedingungen zugestimmt, und er war dabei, die Abmachung zu brechen, bevor sie überhaupt begonnen hatte, und sie würde es nicht einmal bemerken, bis es zu spät war.

»Vater und meine Cousins Iwan und Donan werden ihre Teams hier haben.« Sie deutete auf die ungefähren Bereiche, die die Sicherheitsteams für schwach hielten. »Sie wissen nichts von den Tunneln, die vom Labor zu dieser Höhle führen.« Sie zeigte auf die Höhle. »Ich habe Vater gefragt, ob die Wissenschaftler denn keinen sicheren unterirdischen Zugang hätten, und er sagte Nein. Es gibt keinen anderen Zugang. Aber ich habe den Tunnel selbst gefunden und bin ihm gefolgt.«

Und sie war verdammt stolz auf sich. Herrgott, er war stolz auf sie, obwohl ihm der Gedanke, was hätte passieren können, wäre sie erwischt worden, den Magen umdrehte.

»Wir müssen es bald tun«, sagte sie. »Genug von deinen Ausreden. Wir haben nur noch Monate, bis das Council mich nach St. Petersburg versetzt, zur Verwaltungsausbildung in den Büros der Geheimdienstkräfte der Föderation. Wenn das passiert, waren all die Jahre umsonst.«

»Und wenn es passiert, was dann?«, fragte er sie. »Was wird aus den Menschen, die in deinem Labor gearbeitet haben?«

»Vater wird sich um mich kümmern«, erklärte sie zuversichtlich. »Er versucht bereits zusammen mit den Wissenschaftlern hier, den Beschluss widerrufen zu lassen. Wenn die Breeds dort fliehen, werden neue Sicherheitskräfte zugeteilt werden. Sie werden den Fehler, der in ihr neues Sicherheitssystem programmiert werden wird, finden und glauben, dass mein Trainer über meine offensichtliche Inkompetenz hinweggesehen habe, um durch seinen Schützling selbst in einem besseren Licht dazustehen. Ich habe gesehen, was sie tun, wenn so etwas passiert. Sie lassen sowohl Ausbilder als auch Schützling fallen, und die können dann von Glück sagen, wenn sie Arbeit in den Fabriken finden.«

»Eine Fabrik ist also in Ordnung für dich?«, fragte er neugierig.

Ein Lächeln, schelmisch und neckend, spielte um ihre Lippen. »In dem Fall werde ich Vater dazu überreden, nach Amerika zu gehen. Da ist es viel wärmer als in Sibirien.«

Das war wohl wahr, und nach Amerika würde sie in der Tat gebracht werden. Ihr Vater würde allerdings nicht mit ihr reisen. Del-Rey hingegen schon. Er hatte Pläne. Pläne, die er bereits in Gang gesetzt hatte, und Anya passte in viele davon. Sobald diese Rettungsmission erledigt war, würden sie nach Colorado gehen, die Wolf-Breeds um ein Bündnis bitten und sich der Gesellschaft der Breeds anschließen.

Es würde nicht leicht werden, die Wölfe von einem Bündnis zu überzeugen, doch er hatte Beweise ihrer Arbeit in den letzten Jahren. Zehn Jahre, die sie in den Schatten gelebt hatten, nicht mehr als Geister gewesen waren, frei und doch gefesselt durch den Zwang, vor jedermann verbergen zu müssen, wer und was sie waren.

»Ich nehme bald Kontakt zu dir auf«, sagte er.

Er belog sie, und das nicht zum ersten Mal. Sechs lange Jahre hatte er diese wunderschöne Kindfrau belogen. Er hatte zugesehen, wie sie herangewachsen war von einem schlaksigen Teenager, voller Feuer und dürstend nach der Freiheit ihrer Freundinnen. Aus der Ferne hatte er zugesehen, wie sie Pläne ausarbeitete und seine Anweisungen umsetzte.

Sie war ein verdammtes Genie, wenn es um Verwaltung und Personal ging. Sie war so intuitiv, dass sie eine Gruppe fast augenblicklich mit nur einem einzigen Blick einschätzen konnte. Das hatte sie schon mit seinen Leuten gemacht, und er hatte die Zähne zusammenbeißen müssen, als sie ihm mitteilte, dass mehrere seiner Männer viel zu verdammt faul waren. Herrgott, sie waren Kojoten; sie brauchten ein paar Mängel, sonst wären sie schließlich verdammte Wölfe.

Aber sie hatte etwas an sich, was er nie recht fassen konnte und was ihn zu ihr hinzog. Obwohl sie selbst zu jung war, um ihn amüsant zu finden oder sich zu ihm hingezogen zu fühlen, hatte sie ihn angezogen.

»Ich will nicht ›bald‹ kontaktiert werden, Del-Rey«, widersprach sie heftig. »Bis zu meinem Geburtstag sind es nur noch wenige Monate. Noch länger aufschieben geht nicht.«

»Ich kontaktiere dich, bevor du versetzt wirst«, erklärte er mit Bestimmtheit. »Die Befreiung findet vorher statt, das verspreche ich dir. Es ist an der Zeit, dass du mir vertraust, Anya.«

In ihrem finsteren Blick stand Verwirrung. »Aber das tue ich doch. Ich habe dir immer vertraut, und du hast das Ganze immer verzögert. Langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen.«

»Keine Sorge, Kleine.« Bevor er sich davon abhalten konnte, streckte er die Hand aus und berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen.

Und in dem Moment loderte sie auf: diese Verbindung, dieses Etwas, was er über die Jahre wachsen gefühlt hatte. Auch sie spürte es. Er sah, wie sich ihre Wimpern senkten, ihre Lippen voller und sinnlicher wurden. Zarte Röte füllte ihre Wangen, und die Erregung, die ihren jungen Körper bei jedem ihrer Treffen erfüllte, loderte zu voller und lebendiger Hitze auf.

Er war ein Breed. Er konnte ihre Feuchte wittern, die süßen Säfte, die sich zwischen ihren Schenkeln sammelten und ihren Körper für ihn bereit machten.

Sie war kein Kind mehr. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, alt genug. Reif genug, so hoffte er inständig, denn er war immer noch ein Breed und ein harter Mann. Eine schlechte Kombination, wenn die Lust ihn innerlich auffraß.

Als sie mit den Zähnen an ihrer Unterlippe zupfte, wollte er am liebsten daran knabbern. Als sie sie mit der Zunge befeuchtete, stöhnte er fast auf angesichts der Erektion in seinen Jeans.

»Sag deinen Leuten, dass sie warten sollen«, warnte er sie. »Ich kontaktiere dich, und wir vereinbaren Datum und Zeit. Einverstanden?«

Sie nickte langsam. »Und du wirst meiner Familie nichts antun?«, fragte sie wieder einmal. »Sie glauben nicht an das, was hier läuft, Del-Rey. Das ist ihr Job. Sie sind Soldaten. Sie befolgen ihre Befehle, genau wie deine Männer. Versprich mir, dass du ihnen nichts tust.«

»Das habe ich doch schon geschworen, Anya.« Er strich mit seinen Fingerrücken über ihre seidige Wange. »Meine Männer wissen, wer von den Sicherheitsleuten zu deiner Familie gehört. Wir werden wissen, wo sie sich während des Angriffs aufhalten werden. Es wird alles gut gehen. Versprochen.«

Und wieder belog er sie. Ihr Vater und ihre Cousins waren Soldaten, doch sie hätten die Verantwortung übernehmen können, die Anya auf ihre eigenen jungen Schultern geladen hatte. Sie hätten den Breeds Tausende Male helfen können, doch sie hatten es nicht getan. Sie hatten Befehle befolgt.

Man würde alles versuchen, sie nicht zu töten, aber sie würden leiden dafür, dass sie zugelassen hatten, dass diese junge Frau die Risiken auf sich genommen hatte, die sie für den Job einging, den sie machte.

»Vertrau mir«, flüsterte er noch einmal.

Der Duft ihrer Erregung steigerte sich im weichen Timbre seiner Stimme. Das Verlangen, das in ihre Augen trat, erfüllte ihn mit schmerzlichem Bedauern.

»Ich vertraue dir.« Ein zitterndes Lächeln auf ihren Lippen. »Ich werde dir immer vertrauen, Del-Rey.«

Traurigerweise war ihm klar, dass sie das bald zurücknehmen würde. Anya kannte leidenschaftliche Loyalität, doch sie wusste auch, wie man hasste. Sie war eine Frau, deren Leidenschaften immer tief gehen würden, ganz gleich in welche Richtung. Und in nicht allzu langer Zeit würde sie nur noch Hass für den Mann kennen, den sie nun mit solcher Sehnsucht ansah.

Bedauern. Es brannte in ihm. Ein Gefühl, das er noch nie im Leben empfunden hatte – und es war ein Gefühl, das er gar nicht mochte.