Fee-Christine Aks

Während der Schnee leise fiel

Roman

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Anstelle eines Prologs

Teil 1 Die Nachbarn

Teil 2 Das Flugblatt

Teil 3 Die Studenten

Teil 4 Die Verhaftung

Teil 5 Die Flucht

Teil 6 Der Wald

Epilog

Anhang

Rechtlicher Hinweis

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Impressum neobooks

Widmung

Für Sophie und Hans









Diese Geschichte ist frei erfunden, spielt aber vor dem geschichtlichen Hintergrund des Dritten Reiches während des Zweiten Weltkrieges im Zeitraum Dezember 1942 – März 1943.


Abgesehen von den geschichtlich belegten Persönlichkeiten (Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf; hochrangige Mitglieder der NSDAP), sind alle handelnden Personen Phantasiegestalten.


Jegliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

Anstelle eines Prologs




Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen;
die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!




(München, im Juli 1942)



Teil 1 Die Nachbarn

Hamburg, Anfang Dezember 1942.


Paul steht am Fenster und sieht auf den Hof hinunter. Es schneit. Dicke Flocken fallen vom Himmel. Seit heute morgen schneit es. Unten im Hof bleibt der weiße Schnee liegen. Paul hört den Vater in die Küche kommen. Langsam dreht er sich um, geht zum Herd und stochert im Kohleloch, um die Glut anzufachen. Dann füllt er Wasser in den Topf und stellt ihn auf die bläuliche Flamme. Aus dem Schrank holt er das Trockengemüse und das Brot. Der Vater legt den Rindsknochen neben den Herd.

„Wo ist Mutter?“ fragt Paul.

„Sie hilft Katja Lipowetzky mit Alina. Das Fieber ist wieder gestiegen.“

Der Vater nimmt das Gemüse und den Knochen und kocht beides. Nach wenigen Minuten zieht der Geruch von Suppe durch die Küche.

„Wann kommt Mutter?“

Vom Geruch der Suppe angelockt steht Annemarie in der Tür, in der Hand ihre Puppe aus Stoffresten.

„Sie hilft Katja Lipowetzky mit Alina“, wiederholt der Vater.

Annemarie erwidert nichts, setzt sich an den Tisch und wartet. Wer weiß, wann die Mutter kommt. Wenn es Alina wieder schlechter geht, dann kann es sehr lange dauern.

Seit dem letzten Winter ist sie nun schon krank. In den Sommermonaten ging es ihr etwas besser, aber seit der Winter herein gebrochen ist, geht es ihr von Tag zu Tag immer schlechter. Alina ist erst zwanzig Monate alt.

Paul kann sich noch gut an den Tag erinnern, an dem Alina auf die Welt kam. Damals ist beinahe die gesamte Nachbarschaft bei den Lipowetzkys gewesen, um das Baby zu begutachten. Jetzt, wo es Alina immer schlechter geht, ist die Mutter oft bei Lipowetzkys oben. Axel sagt, Alina werde diesen Winter nicht überstehen. Axel weiß das. Sein Onkel ist Arzt. Aber, so hofft Paul, auch der kann sich mal irren. Bis jetzt lebt Alina noch.

„He Paule! Träum nich. Sonst essen wir dir noch alles weg.“

Des Vaters Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Schnell setzt Paul sich an den Tisch neben Annemarie, die mit hungrigen Augen nach dem Viertellaib Brot schielt, der vor Paul liegt. Der Vater stellt die Suppe auf den Tisch. Dann holt er Louise aus ihrem Bettchen und setzt sie auf seinen Schoß. Paul verteilt Suppe und bricht sich Brot ab.

Der Vater füttert Louise. Sie ist jetzt zwei Jahre alt, aber sehr dünn. Das liegt daran, dass sie wenig Geld haben. Das meiste, was der Vater bei Blohm & Voss als Werftarbeiter verdient, geht für die Miete drauf. Von dem Rest müssen sie Holz oder Kohle zum Heizen und Lebensmittel kaufen. Für Kleidung reicht es höchstens einmal im Jahr. Deshalb trägt Paul immer noch den Mantel von vor drei Jahren, obwohl er schon längst rausgewachsen ist.

Oft schimpft der Vater, dass die Arbeiter so schlecht bezahlt werden. Er baut zwar für den Führer die Kriegsschiffe zusammen und schuftet, bis er umfällt, aber der Führer lässt ihm dafür einen Hungerlohn zahlen, von dem er nicht mal allein satt werden würde, geschweige denn eine fünfköpfige Familie ernähren könnte. Es herrschen beinah wieder solche Zustände wie vor der Revolution vor gut zwanzig Jahren, sagt er. Zwar gibt es jetzt etwas mehr Lebensmittel als damals, aber satt werden sie nur selten, da das Geld so knapp ist. Das wäre anders, wenn sie damals wirklich gesiegt hätten, sagt der Vater. Die Revolution dürfe sich eigentlich gar nicht so nennen, denn sie schaffte nur eine schwache Republik mit dauernd wechselnden Regierungen.

So hatten der Vater und seine Kameraden sich das nicht vorgestellt, als sie von Kiel nach Berlin marschierten, um den Kaiser abzusetzen. Die roten Matrosen von 1918. Einen sozialistischen Staat hatten sie gründen wollen, eine echte Volksrepublik. Alle hätten die gleichen Rechte gehabt, es hätte keine Arbeiter und keine Arbeitgeber mehr gegeben, alle wären gleich gewesen.

Paul kann sich das allerdings nicht richtig vorstellen. Es muss doch immer einen geben, der die anderen führt, der höher gestellt ist? Selbst in dem neuen Staat, den es nach der Absetzung des Kaisers immerhin für vierzehn Jahre gegeben hat, stand ein Mann an der Spitze. Zuerst der eher zurückhaltende Reichspräsident Friedrich Ebert, dann sein Nachfolger Paul von Hindenburg, der alte General mit dem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart.

Zu Anfang, sagt der Vater, hat das Prinzip von Mehrheitsregierung mehr oder weniger funktioniert. Aber nach dem großen wirtschaftlichen Zusammenbruch und den zunehmenden Wahlerfolgen der Braunhemden ist beinah jeder dritte Sonntag ein Wahlsonntag gewesen. Straßenkämpfe und Präsidialregierungen durch sogenannte Notverordnungen sind die Folge gewesen. Reichskanzler Brüning, Reichskanzler von Papen, Reichskanzler Schleicher. Ein gelähmtes Regierungskabinett nach dem nächsten. Zerstrittene Parteien und ein gewaltiger Ruck nach rechts, zu den Nationalisten und Faschisten. Die der Vater bis zuletzt bekämpft hat. Mit Plakaten und auf Kundgebungen. Bis man ihn verhaftet hat, Anfang 1933 war das. Nach drei Tagen ist er zurückgekommen, halb tot vor Müdigkeit und mit gebrochener linker Hand.

Seitdem hat der Vater sich bemüht, den Mund zu halten. Paul weiß jedoch, dass es ihm sehr schwer fällt. Bereits ein knappes Jahr nach seiner Verhaftung ist es beinah wieder soweit gewesen. Damals, als die ersten Bewohner des Nachbarhauses auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, hätte nach dem ersten großen Krieg damals die Revolution gesiegt und wären die Kommunisten an die Macht gekommen. Vielleicht hätten sie den kleinen Mann mit dem komischen Schnauzer und dem strengen Scheitel verhindern können?

Zumindest hätte er wohl weniger lauthals und wild gestikulierend seine judenfeindlichen Ansichten in die Gegend geschrien. Und womöglich hätten auch die Bücher von Vaters Lieblingsautoren nicht ihr Ende auf dem Scheiterhaufen gefunden. Oder ist es einfach nur Schicksal, dass Deutschland nun schon seit beinah elf Jahren von dieser Partei beherrscht wird, unter deren Hakenkreuzsymbol Adolf Hitler sie in den zweiten großen Krieg geführt hat?

Die meisten Menschen, die Paul auf der Straße sieht, scheinen das zu glauben. Sie singen ein Loblied nach dem nächsten auf die Führungsspitze in Berlin. Selbst nach den Luftangriffen, die im Juli weite Teile der Innenstadt rund um die Alster bombardiert haben, sind die meisten Leute auf der Straße immer noch fest und unerschütterlich in ihrem Glauben an das Tausendjährige Reich und den größten Feldherrn aller Zeiten.

Aber Paul ist sich nicht ganz sicher. Im Gegensatz zu vielen anderen glaubt er nicht alles, was der Führer so von sich gibt. Beispielsweise hat Paul nie verstanden, warum ein Deutscher nur blond, groß und blauäugig sein soll. Nicht, dass er damit ein Problem hätte, immerhin ist er selbst recht groß und hat blaugraue Augen unter einem Schopf aus widerspenstigen haselnussfarbenen Locken. Im Gegensatz zu manch anderen, speziell in der Regierungsspitze. Ein dicker altgewordener Reichsmarschall und ein kleiner, hinkender Reichspropagandaminister. Selbst der Mann, der sich Deutschlands Führer nennt, ist allerhöchstens mittelgroß, hat weder blaue Augen, noch blondes Haar.

Und warum hetzt er das deutsche Volk gegen die Juden auf? Die haben ihm doch nichts getan. Und was hat der Führer überhaupt gegen Leute wie beispielsweise Maria Goldberg, die mit ihren blonden Locken und den blauen Augen dem „deutschen Ideal“ genauestens entsprochen hat? Oder Katja und Peter Lipowetzky? Was haben sie ihm getan?

Paul hat den Vater oft danach gefragt. Doch der Vater weiß keine Antwort. Er erinnert sich häufig an die Revolution, damals 1918, als er gerade zwanzig und voller Tatendrang war und die Welt verändern wollte. Er hat zu der Spartakus-Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehört und war mit Eifer bei der Sache. Ein Idealist. Dann ein Moralist wie sein Lieblingsautor Erich Kästner, dessen Werke auf dem Index stehen. Alle außer Emil.

Genau wie Kästner ist der Vater älter geworden, ruhiger und nachdenklicher. Er hat sich in den letzten Jahren in sich zurückgezogen, so gut es eben geht. Eine innere Emigration, hat er mal gesagt. Aber manchmal kann er sich eben doch nicht beherrschen.

Selbst mit vierundvierzig Jahren hat der Vater immer noch das Blitzen in den Augen und die Energie eines jungen Matrosen, wenn er mit gedämpfter Stimme von einem besseren Deutschland spricht. Doch auch diese kurzen Ausbrüche sind seltener geworden, seit viele seiner ehemaligen Kameraden ins Gefängnis nach Fuhlsbüttel oder in ein Konzentrationslager gebracht worden sind. In die berüchtigten Abteilungen für die politischen Gefangenen. Keiner von ihnen hat auch nur ein Jahr der Haft überlebt.

Als im November vor vier Jahren die große Verhaftungswelle durch das Reich rollte, ist der Vater verschont geblieben. Durch pures Glück. Die meisten anderen seiner Arbeitskollegen sind zumindest zum Verhör an den Neuen Wall bestellt worden, direkt ins Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei.

Damals hat der Vater der Mutter versprechen müssen, dass er in Zukunft noch vorsichtiger ist. Keine Versammlungen, keine Kontakte zu ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei.

Der Vater hat zugestimmt. Seit die KPD verboten wurde, gehört er sowieso nur noch seiner eigenen Partei an, hat er zu Paul gesagt. Und dass er ab sofort in eigenem Auftrag für die persönliche Freiheit des Einzelnen kämpft, für Frieden und Gerechtigkeit und für die Aufhebung der Nürnberger Rassengesetze; denn alle Menschen sind gleich an Rechten geboren und müssen dementsprechend behandelt werden.

„Merk es dir gut, Paule“, hat er gesagt. „Auch der achsogroße Führer ist nur ein Mensch. Und ein riesengroßer Lügner dazu. Vergiss das ganze Brimborium mit Herrenmenschen und Untermenschen. Wir sind alle Menschen und müssen uns mit Respekt behandeln, egal wo wir herkommen oder wer unsere Eltern und Großeltern sind.“

Damals hat Paul zum ersten Mal wirklich begriffen, dass das, was er in der Schule gelernt hat, falsch ist. Arier, Rassenschande, Blut und Boden. Seitdem hat er sich, wenn der Lehrer von der nordischen Rasse und von ihren Vorzügen gegenüber den niederen Rassen gesprochen hat, im Geiste immer einen großen Wurf Hundewelpen vorgestellt, die linkisch über ihre eigenen Pfoten stolpern. Manche sind schwarz, manche weiß, andere braun. Manche sind gefleckt. Sie alle sind Hunde. Sie machen keinen Unterschied, wen sie schwanzwedeln begrüßen.

Der Vater hat zufrieden gelacht, als Paul ihm von diesem Gedanken erzählt hat.

„Du bist richtig geraten, mein Junge“, hat er gesagt.

Aber dann hat er ihn gewarnt, diese Gedanken lieber für sich zu behalten. Auf keinem Fall dem Lehrer sagen. Oder in Gegenwart von Herrn Braun oder dem Blockwart.

„Denken kannst du, was du willst“, hat der Vater ernst gesagt. Aber in der Öffentlichkeit muss man heutzutage gut überlegen, worüber man spricht. Paul hat das nicht gleich verstanden. Der Vater erinnerte ihn daraufhin an Herrn und Frau Müller von gegenüber. Sie sind wie der Vater ehemalige KPD-Mitglieder und haben in der Öffentlichkeit einmal zu viel den Mund aufgemacht. Als man im Mai 1936 das Geschäft des jüdischen Musikalienhändlers um die Ecke verwüstet hat, ist es Herr Müller gewesen, der kopfschüttelnd davor stand und „eine Schande, dass die braune Saubande nicht dafür bestraft wird“ gemurmelt hat. Leider hat er die drei Hitlerjungen nicht gesehen, die feixend in einer Toreinfahrt hinter ihm gestanden haben. Erst haben sie ihn als Judenfreund und Vaterlandsverräter beschimpft, dann im Schutz der Toreinfahrt zu Boden geschlagen und getreten. Noch am selben Abend sind die verzweifelten Schreie von Frau Müller durch die Straße gehallt, bevor man sie zusammen mit ihrem Mann auf einen Lastwagen gestoßen hat. Paul hat sie nie wieder gesehen.

„Sie sind nach Dachau gebracht worden“, hat Hans Schönemann gesagt, der bis zu seiner eigenen Verhaftung im November 1938 in der Dachkammer über der ehemaligen Wohnung der Müllers gewohnt hat.

Bereits im Frühjahr 1934 sind Leute aus ihrer Straße verschwunden. Die Goldbergs von Nr. 41 wurden im April von mehreren Männern in langen Mänteln abgeholt. Reichbergs und Schönfeldts und Giesemanns und viele andere folgten.

Als Paul den Vater fragte, wohin sie gebracht würden, erzählte der Vater ihm von den Konzentrationslagern, den KZs, die die Nazis eingerichtet haben. Dorthin schicken sie alle, die ihnen irgendwie nicht passten.

Seit vorletztem Jahr gibt es auch ein Lager, das „Auschwitz“ heißt. Dieses Lager ist der Grund, dass der Vater sein Versprechen gebrochen hat und wieder aktiv geworden ist. Sein Gewissen erlaube es ihm einfach nicht, stillzusitzen und nichts zu tun, hat er gesagt. Nicht solange es dieses „Auschwitz“ gibt.

Paul hat dem Vater nicht glauben wollen, als dieser ihm erzählte, dort würden vorsätzlich Menschen, größtenteils Juden, einfach umgebracht. Kann es sowas überhaupt geben? Dass jemand den grausamen Befehl gibt, tausende von Menschen töten zu lassen, nur weil er sie nicht mag?

Das Ganze erscheint ungeheuerlich, aber es ist wahr. Der Vater kennt einen Juden, der dort war und fliehen konnte. Der Vater und sein Freund Hein haben diesem Mann geholfen, nach Amerika zu fliehen. Der Vater hat lange mit Hein und der Mutter in der Küche gesessen, als Annemarie und er, Paul, schon schliefen, und sich mit ihnen über das Unglaubliche, ungeheuer Grausame unterhalten.

Auch Paul hat er von den Selektionen, den Brennöfen und den riesigen Wäsche-, Schmuck- und Menschenhaarbergen erzählt, die sich in einer großen Halle des Vernichtungslagers auftürmen.

Das Gespräch fand vor zwei Wochen statt. Da haben sie die Familie Weiß abgeholt, die viele Jahre in der Wohnung unter ihnen gewohnt hat. Pauline Weiß und er haben früher immer zusammen mit Axel, Maria und Liza gespielt. In den frühen Morgenstunden sind sie aufgeschreckt worden. Laute Stimmen und Weinen sind im Treppenhaus zu hören gewesen.

Seit diesem Tag wohnen Behms in der Wohnung, die vorher der Familie Weiß gehört hat. Die Behms sind Braune, sagt der Vater. Damit meint er die Nazis, die zu Anfang braune Hemden getragen haben. Heute kann man nicht mehr so einfach sehen, wer ein Nazi ist. Nicht alle tragen eine Uniform oder das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz im Knopfloch.

„Iss doch, Paul“, schreckt des Vaters Stimme ihn aus seinen Gedanken auf. Die Suppe ist schon wieder kalt. Annemarie ist auf dem Sofa eingeschlafen. Der Vater sitzt am Tisch und blättert in der Woche. Ab und zu macht er sich auf dem Rand der Zeitung Notizen.

Paul denkt an Alina. An Pauline und ihre Eltern, an Maria Goldberg, an Liza Giesemann, in die er einst verliebt gewesen ist. Katja und Peter Lipowetzky haben auch Angst, dass sie abgeholt werden. Sie tragen beide den Stern.

Paul denkt an Herrn Wolf, der ihnen in der Schule von den schlechten Juden erzählt hat. Angeblich haben alle Juden Hakennasen, schwarzes, drahtiges Haar, stechende, schwarze Augen, sind untersetzt und klauen, was das Zeug hält. Doch die Juden, die Paul kennt, sind ganz anders.

Liza Giesemann hat braunes, wunderschön gelocktes Haar gehabt, dazu braune Mandelaugen und eine niedliche Stupsnase. Außerdem ist sie klein und zierlich gewesen und das niedlichste und netteste Mädchen, das Paul je getroffen hat.

Maria Goldberg hatte blonde Locken und blaue Augen. Sie war schlank und ein guter Kumpel. Sein Freund Axel hat sie sehr gern gehabt.

Frau Lipowetzky ist ebenfalls schlank, hat ein hübsches Gesicht, eine gerade Nase, blaugraue Augen, braunes Haar und sie ist die ehrlichste Frau, die Paul kennt. Ihr Mann ist sehr schmal und etwa mittelgroß. Sein graues Haar war früher hellbraun, seine grauen Augen sind hinter einer dicken Brille versteckt. Früher war er Goldschmied, bis die Nazis sein Geschäft schlossen. Auch er ist von Grund auf ehrlich.

Aber das ist jemandem wie Herrn Wolf vollkommen egal. Herr Wolf ist auch ein Brauner. Viele sind braun. Schulzes, Möllers, Behms und Herr Braun aus ihrem Haus, die meisten aus den anderen Häusern, aus Hamburg, aus Deutschland.

Natürlich gibt es die, die nicht an die Lügen der Nazis glauben: Sommers, Schmidts, Herrn Holz und Vaters Freund Heinrich Schön.

„Der rote Hein“ lebt versteckt. Er ist bei der Gestapo bekannt. Sie haben eine dicke Akte über ihn. Darin steht auch, dass er Matrose auf dem gleichen Schiff war wie der Vater. Bis jetzt hat Hein es jedoch immer geschafft, den Fängen der Gestapo zu entkommen.

Axels Vater, Bernhard Sommer, ebenfalls ein Freund des Vaters, war Sozialist. Auch er hat dem Führer und seinen Leuten nicht gepasst. Bei einer SPD-Versammlung, die von der Sturmabteilung der Nazis gewaltsam aufgelöst wurde, traf ihn eine Kugel. Noch am gleichen Tag starb er im Krankenhaus an der Wunde.

„So, da bin ich.“

Die Mutter steht in der Tür.

„Gut, dass du da bist, Grete“, sagt der Vater. „Hier, lies das mal.“

Er hält ihr die Zeitung hin. Mutter liest kopfschüttelnd.

„Die sind verrückt. Um diese Jahreszeit in Russland“, murmelt sie und meint das „Unternehmen Barbarossa“, wie der Russlandfeldzug in der Amtssprache genannt wird. Viele tausend deutsche Soldaten sind bereits erfroren. Doch der Führer gibt nicht den Rückzugsbefehl. Nein, er lässt weiter kämpfen. Immer mehr Männer sterben bei den polaren Temperaturen des russischen Winters. Deshalb sollen sie – so steht es überall angeschlagen – jetzt Winterkleidung sammeln. Damit die Soldaten nicht erfrieren.

Paul steht auf, um den gusseisernen Herd neu anzuheizen, damit auch die Mutter ihre Suppe warm essen kann. Doch die Mutter drückt ihn auf den Stuhl zurück. „Lass man. Ich hab eh keinen Hunger“, sagt sie und fährt ihm zärtlich durchs Haar.

Annemarie ist aufgewacht. Die Mutter setzt sich zu ihr aufs Sofa.

„Hast du Louise schon gefüttert?“ fragt sie den Vater. Der nickt und liest weiter in der Zeitung. Annemarie kuschelt sich an die Mutter, um weiter zu schlafen.

„Komm man, Annemi“, sagt die Mutter, nimmt sie auf den Arm und trägt sie ins Schlafzimmer.

„So“, sagt sie, als sie zurückkommt. „Die beiden Mädels schlafen. Na, und du?“

Sie steht neben Paul und sieht ihn an.

„Wie geht’s Alina?“ erkundigt sich Paul. Auch der Vater sieht jetzt die Mutter an.

„Sie hat sehr hohes Fieber“, sagt die Mutter leise. „Sie wird die Nacht wahrscheinlich nicht überleben.“

Betroffen sehen Paul und der Vater sich an. Die Mutter setzt sich an den Tisch und füllt sich jetzt doch etwas Suppe auf. Paul sieht ihr eine Weile zu. Dann steht er auf und stellt sich wieder ans Fenster.

Der Schnee ist liegen geblieben. Eine weiße Decke hat sich über den Hof gebreitet. Und es schneit immer noch. Paul kann die weißen Flocken nur erahnen in der Dunkelheit. Aber er sieht die feinen Kristalle, die sich am Küchenfenster gebildet haben und im Kerzenschein glänzen. Licht, richtiges elektrisches Licht dürfen sie nicht machen. Falls wieder Luftangriffe sind. Denn, wo Licht ist, da sind auch Menschen.

Ein Stuhl scharrt. Der Vater ist aufgestanden. Er geht zur Spüle und füllt sich einen Becher mit Wasser. Er trinkt drei Becher voll, bevor er sich wieder an den Tisch setzt und weiter in der Zeitung liest. Die Mutter nimmt den Topf mit dem Rest Suppe und stellt ihn in den Schrank. Dann beginnt sie, das Geschirr zu spülen.