CARL HANSER VERLAG
ISBN 978-3-446-24861-8
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© Carl Hanser Verlag München 2015
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Für Aisling, Cian & Fionn
»Was machen zwei Stück Holzkohle im Frühjahr?
Grillen sich eine Karotte.«
ELÍN
Gibt’s das nicht immer? In jeder Beziehung? Einen Stärkeren und einen Schwächeren. Einer, der der Kopf ist. Und einer, der dafür den Kopf hinhalten muss. War bei Moki, Joss und Basti nichts anderes. Bin ich mir sicher. Joss und Basti waren mit Moki befreundet. Aber umgekehrt? Kann ich nicht sagen. Moki war immer etwas anders. Nicht wegen seiner Hautfarbe. Ist man nicht rangekommen an den. Der hatte einfach ’nen Knall. Bis zuletzt.
Da ist doch dieses Wort »unnahbar«? Trifft es ziemlich gut. Der war einfach unnahbar. Weißt du, es hat sich einfach niemand an ihn rangetraut. Weder die Lehrer noch irgendjemand sonst in der Schule. Außer Joss natürlich. Und Basti. Der war allerdings nur dabei, weil es Joss auch war.
Was die drei verbunden hat? Ist mir nicht klar. Echt nicht. Irgendwas hat sie zusammengehalten, obwohl sie sich immer weiter voneinander entfernt haben. Vielleicht etwas Außergewöhnliches. Wie der unterirdische Lavafluss unter dem Reykjanesrücken bei uns zu Hause, der die Erde spaltet und sie an der Oberfläche wieder zusammenschweißt, verstehst du? Oder dass alle irgendwie Freaks waren. So wie die Nerds mit ihren Computern. Zocken die Nächte durch, ohne irgendwas quatschen zu müssen. Kein Wort zu viel. Hatten mit Computern aber nichts zu tun, die drei. Im Gegenteil. Da war alles echt. Mehr als echt. Auch wenn es dadurch nur noch stärker gekracht hat. Auf allen Ebenen. Liegt jetzt alles in Trümmern. Weißt du, manchmal braucht es eben ein Erdbeben, um ein Bild wieder gerade zu rücken. Von wegen Gleichgewicht. Gab’s ja vorher eher nicht.
Ob das alles so stimmt? Können andere bestimmt besser beurteilen. Bin da ja nur zufällig reingeraten. Das mit dem Zirkus, diesem ganzen Dope und dem Insekt! Wie hätte ich vorher wissen sollen, auf was das alles hinausläuft? Weiß ja selbst nicht, was ich denken soll. Glück nur, dass nicht noch mehr passiert ist. Zumindest mir nicht. Und dafür kann ich Moki wirklich dankbar sein. Diesem Arschloch! Wenigstens das. Wie geht es ihm überhaupt? Gibt es etwas Neues?
JOSS
Ich heiße Joss. Und Basti – also Sebastian – ist mein kleiner Bruder, was aber recht albern klingt, das mit dem »klein«. Schließlich ist Basti nur 15 Monate jünger und eine Klasse unter mir. Vom Aussehen sind wir allerdings ziemlich verschieden. Wie Sie ja sehen, hat er längere Haare und diese blasse Haut. Irgendwer hat einmal gesagt, er sehe aus wie einer der Typen, die sich schon erkälten, wenn sie bloß den Kühlschrank aufmachen. Das stimmt natürlich nicht, nicht ganz. Basti ist kein Lolli. Der wirkt auf andere manchmal vielleicht etwas unsicher, verletzlich. Das liegt wahrscheinlich auch an seinem ständigen Nasenbluten. Immer wenn ihn etwas besonders stresst, schießt es ihm aus der Nase, und er läuft aus, wie Moki sagt. Nasen-Pipi. Und in den letzten Tagen gab es ja eine Menge Situationen, die ihn gestresst haben. Mann, Mann. Das sieht natürlich immer tausendmal schlimmer aus, als es ist. Und es beruhigt sich ja schnell wieder. Was ich damit aber sagen will: dass Basti auf andere leicht einen falschen Eindruck macht. In Wirklichkeit ist er viel abgezockter, als man denkt, und man kann sich auf ihn verlassen, hundertprozentig. Das hat sogar Moki gesagt. Vielleicht hat er deshalb so viel von ihm gehalten, selbst wenn er es nicht besonders oft gezeigt hat. Auch mir gegenüber, was es ja nicht gerade leichter gemacht hat.
Wie das mit Moki und mir kam? Wir kennen uns schon lange. Eine dreiviertel Ewigkeit. Seitdem er mir einmal das Leben gerettet hat. Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben. Eher im übertragenen Sinn, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir hatten damals Schwimmunterricht in der 3. oder 4. Klasse, so genau weiß ich das nicht mehr. Und da war dieser andere Junge, Carsten. Der hat mir von hinten die Badehose runtergezogen – vor der ganzen Klasse. Und im gleichen Augenblick haben mich zwei seiner Bodyguards ins Wasser gestoßen. Alle haben sich weggeeiert vor Lachen. Nur Moki nicht. Der hat einfach seine eigene Badehose ausgezogen und mir hinterher geworfen. Hat ihn gar nicht gestört. Der stand nackt da – vor den anderen und den Mädchen. Und dann hat er die drei Hohlbrote kurz in den Boden gestarrt – Peng! – und gesagt: »Jetzt ihr!« Die haben das tatsächlich gemacht, sage ich Ihnen, dieser Carsten und seine beiden Lakaien, und sich selbst die Badehosen runtergezogen. Ich glaube, die hatten plötzlich mächtig Schiss vor ihm. Zumindest einen Höllenrespekt. Na, jedenfalls hat von da an keiner mehr gelacht – und ich hatte meine Ruhe vor denen.
Seitdem haben wir uns fast jeden Tag gesehen, Moki und ich. Und Basti war später auch immer dabei. Spätestens, als wir das da unten am Fluss hatten. Den Zirkus – auf dem Feld vom einäugigen Emmerich. In der Nähe vom Campingplatz. Dort, wo die Stadt anfängt. Oder aufhört. Ganz gleich, wie man das sehen mag. Irgendwie finde ich, dass man nie so genau weiß, wann etwas anfängt oder aufhört. Schließlich geht alles ineinander über, und am Ende ist völlig unklar, was zuerst war, wie etwas zueinandergehört und was auf das Nächste folgt. Oder ob nicht das, was folgt, bereits vorher da war, und damit die Ursache für alles andere ist. Zitronen werden auch nicht sauer, nur weil sie die Farbe Gelb nicht mögen, sagt man doch, oder? Und nach Gründen für das eine oder das andere kann man immer suchen – also selbst für das mit Moki und uns. Tut mir leid, wenn das jetzt alles etwas chaotisch klingt, aber genau so fühle ich mich grade. In meinem Kopf rast alles durcheinander. Kein Wunder, ich glaube, ich hab seit Tagen kein Auge mehr zugemacht, nicht mehr richtig. Zumindest kommt es mir so vor.
Also, wo war ich? Das Versteck. Na, der Zirkus, den wir SKY getauft hatten. Das war natürlich kein echter Zirkus. Vielmehr stand da im Gebüsch ein alter Zirkuswagen, den wir in der Nähe vom Ufer gefunden haben. Letzten Sommer. Auf jeden Fall war er das wohl mal, so richtig erkennen konnte man das nicht mehr. Der Wagen war schon ziemlich runtergekommen. Und der hatte außen so einen typisch goldenen Schriftzug, wie ihn bestimmt alle Zirkusse haben, und der schon fast komplett abgeblättert war. Die ersten Buchstaben waren vollkommen verblasst. Wahrscheinlich stand da mal KAMINSKY oder KLAMAUKSKY, wohl irgendein polnischer oder russischer Name. Wir haben jedenfalls die ersten Buchstaben weggelassen und einfach SKY draus gemacht, mit knallgelber Farbe. Also Zirkus SKY, was uns irgendwie gut gefallen hat. Warum auch immer.
Wie der Wagen da unten hingekommen ist, keine Ahnung. Na, irgend so ein Clown muss den dort abgestellt haben, hab ich am Anfang gedacht, und hat vielleicht selbst drin gewohnt. Als wir ihn gefunden haben, war zumindest keiner mehr da – nur ein paar Möbel, die der Zirkustyp dort vergessen haben muss. Ein altes Schlafsofa, ein Schminktisch mit Spiegel, zwei Bänke und ein Tisch. In einer Kiste haben wir sogar noch ein paar alte Kostüme gefunden, die höllisch gestunken haben und uns viel zu groß waren. Bei beiden Fenstern waren die Scheiben kaputt, und das Dach war so dicht wie ein altes Sieb. Bei jedem Regen mussten wir ein halbes Dutzend Eimer auf den Boden stellen, damit nicht alles überflutet wird. Die Holzwände waren innen weiß gestrichen, allerdings konnte man auch das nur erahnen, und alles war schon ziemlich versifft. Na ja, wir haben dann ein paar Fotos und Postkarten aufgehängt, die uns etwas bedeutet haben, damit es wenigstens einigermaßen ausgesehen hat. Ich weiß, das klingt jetzt nicht gerade luxuriös. Aber für unsere Verhältnisse war das mehr, als man erwarten konnte. Schließlich gehen wir noch zur Schule und hatten kein Geld, obwohl sich das ja fast geändert hätte. Und wer weiß, vielleicht wären wir dann da nie rausgekommen – aus der Sache, wenn alles etwas anders gelaufen wäre. Was meinen Sie?
JOSS
Na, der Zirkus war seitdem unser Treffpunkt, unser Geheimquartier. Bis auf das eine Auge vom Emmerich hat uns dort unten keine Menschenseele gesehen. Weder unsere Eltern noch irgendwer sonst aus der Klasse. Nicht einmal die Spacken vom Campingplatz haben gemerkt, dass wir da was hatten, was uns echt wichtig war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dabei war der Zirkus von denen keinen Kilometer entfernt. Wir haben uns jeden Nachmittag dort getroffen. Moki, Basti und ich. Nach der Schule oder wann immer wir Zeit hatten und uns danach war. Draußen hatten wir eine Hängematte zwischen die Bäume gespannt, regenbogenbunt. Und jetzt, wo es so heiß war, konnte man da 1a im Schatten abhängen, wenn einem sonst nichts eingefallen ist. Oder man einfach nur seine Ruhe haben wollte.
Na, wie ich Ihnen vorhin schon erzählt hab, wohnen wir drüben im Weltverbessererviertel, wie es Elín nennt. Dort wo alle Straßen Pestalozzi, Montessori oder Peter Petersen heißen. Ich hab keine Ahnung, wer das alles war. Jedenfalls hat man das Gefühl – wenn man da wohnt –, dass man von außen das gerade rücken könnte, was drinnen schiefläuft. Na ja, zumindest bin ich der festen Meinung, dass das die langweiligste Neubausiedlung zwischen Neu-Mexiko, Hintersachsen und der Sackeifel ist. Früher hatten wir eine Dreizimmerwohnung drüben am Kreuzgarten. Dann haben sich unsere Eltern vor ein paar Jahren eines dieser Raumwunder gekauft, ein Reihenmittelhaus, bei dem jeder Quadratmeter so groß ist wie ein halbes Fußballfeld. Aus eigener Kraft angespart, wie unser Vater immer behauptet, wenn Besuch da ist. Basti und ich haben seitdem jeder ein eigenes Zimmer, was wohl das Beste an der Hütte ist, soweit ich das beurteilen kann. Unsere Zimmer sind beide im ersten Stock, zur Straße hin. Das Schlafzimmer unserer Eltern ist ein Stockwerk höher und geht hinten zum Garten raus, was durchaus seine Vorteile hat, wenn man sich mal ungesehen davonmachen will. Und das haben wir in letzter Zeit immer häufiger getan. Und wie ich glaube, öfter, als es unseren Eltern lieb gewesen wäre, hätten die davon Wind bekommen.
Dabei kann ich meine Eltern im Prinzip gut leiden. Ich meine, Basti und ich hatten nie mehr als den üblichen Stress mit ihnen, nichts Außergewöhnliches. Es sind halt Eltern, aber im Prinzip sind sie ganz in Ordnung. Natürlich nerven sie, so wie das alle tun, mit Sprüchen wie: Dafür seid ihr noch zu jung. Oder: Dafür seid ihr jetzt alt genug. Wie es ihnen gerade passt. Zum Beispiel: als ich Moki einmal draußen im Industriegebiet getroffen hab. Zufällig, das hatten wir gar nicht verabredet. Na, das war jedenfalls auch so eine Geschichte.
Wir waren samstags im Baumarkt. Unsere Eltern mussten irgendwas regeln wegen eines superwichtigen Blödsinnsventils im Heizungskeller. Basti und ich haben am Ausgang gewartet. Da ist Moki plötzlich aufgekreuzt. Der hatte eine ziemlich große Spanplatte in der Hand – für irgendeinen Flieger, den er bauen wollte. Ich hab bis heute keine Ahnung, wie er da rangekommen ist. Und ob der Flieger jemals geflogen ist. Jedenfalls konnte er die Platte nicht alleine tragen. Da hat er mich gefragt, ob ich ihm helfen könne. Klaro, hab ich zuerst gedacht, ich sollte ihm das Teil nur mit bis zum Auto schleppen, bis ich gerafft hab, dass die überhaupt keins haben – kein Auto, meine ich. Seine Mutter sei schon vor mit dem Bus, hat er gesagt. Also musste ich mit ihm durch die halbe Stadt laufen – bis zu ihm nach Hause, was einerseits ein Hammerding war. Andererseits hat es daheim mächtig Ärger gegeben. Mein Vater hat zwei Tage lang kein Wort mit mir gesprochen. Von wegen: sich auf uns verlassen können und so weiter. Dabei war ich bestimmt schon 12 – also alt genug, um den Weg allein zurückzufinden, wenn es drauf ankam. Was ich aber damit sagen will: dass ich diese Elternlogik nicht so ganz kapiere. Gerade wenn es um das Thema Selbstständigkeit geht.
Na ja, jedenfalls haben sie es seitdem aufgegeben – weitestgehend –, und sie lassen uns einfach machen, was ja auch sein Gutes hat. Basti hat mal gesagt, wir seien ihnen gleichgültig. Doch das stimmt so nicht. Unser Vater ist Vertriebsleiter in irgendeiner Kosmetikfirma und ständig unterwegs. Auf Messen. Oder Mitarbeiterinnenschulungen, wie Mama behauptet. Was auch immer das bedeutet.
Sie selbst ist meistens zu Hause, und sie gehört zu den Menschen, die Gegenstände aggro machen. Ich weiß, das klingt jetzt ein bisschen merkwürdig. Aber so kann man es, glaube ich, ganz gut ausdrücken. Gegenstände, Sachen, einfache Dinge halt. Vor allem, wenn sie sich nicht dort befinden, wo sie hingehören. Oder nicht das tun, was man von ihnen will. Neulich hat eine Küchenschublade geklemmt, und sie hat so lange daran herumgeschoben, bis das ganze Teil aus den Scharnieren gerissen ist. Das wiederum hat unseren Vater mächtig gestresst, und sie haben den ganzen Abend miteinander Zoff gehabt. Mama hat nur gemeint, dass wir schuld seien, Basti und ich, weil wir immer alles stehen und liegen lassen würden. Dabei hat sie – glaube ich – nur einen Vorwand gesucht, um auf unseren Vater sauer sein zu dürfen, weil der wieder für den Rest der Woche wegmusste.
Na ja, unter dem Strich, denke ich, sind beide ganz ok. Auch wenn ich mich manchmal frage, wie sie es so lange miteinander ausgehalten haben. Aber vielleicht ist es genau deswegen. Weil sie sich so selten sehen und jeder sein eigenes Leben führt, mehr oder weniger. Ich weiß nur, dass ich das später einmal nicht will. Ich meine, wenn man mit jemandem zusammen ist, sollte man auch mit ihm zusammen sein, oder? Sonst kann man es doch gleich lassen, denke ich. Moki sieht das ganz anders. »Familie ist wie Geburtstag«, sagt er immer. »Hat man einfach, ganz egal, wo man ist.« Damit hat er natürlich recht, obwohl ich manchmal denke, dass der gar nicht weiß, wovon er da spricht.
BASTI
moki hatte diesen film gesehen, diesen film … den titel hab ich leider vergessen … war ab 16, ziemlich brutal … joss und ich durften ihn nicht … darin ging es um einen schwarzen kopfgeldjäger, der erst als sklave in den südstaaten arbeitet … auf den plantagen … dann aber frei kommt und sich an den leuten rächt, die ihn vorher fast totgeprügelt haben … dieser typ ist dabei wohl ziemlich lässig durch die prärie geritten … und hatte immer einen cowboyhut auf … ein nigger mit cowboyhut, hat moki gesagt … ich glaube, das hat ihn am meisten fasziniert …
irgendwann ist er selbst mit einem cowboyhut durch die gegend … auch in der schule … so, als wollte er allen damit zeigen, dass er sich nichts sagen lässt … nichts von niemandem … hat unsere lehrer tatsächlich beeindruckt, komischerweise … am anfang sollte er den hut abnehmen … auf dem schulgelände … sei ja schließlich kein kostümfest, haben sie gesagt … dann: ein lehrer ist nach dem anderen umgefallen … und irgendwann hat sich keiner mehr aufgeregt … oder mit ihm angelegt … leistungsmäßig war das nicht wirklich gut … doch dafür kann es genauso gut zig andere gründe … im letzten schuljahr ist er nämlich hängengeblieben, kam dann in meine klasse … und weil er mich ja schon von joss kannte, hat er sich gleich neben mich …
ich glaube, wenn er und mein bruder sich nicht schon von früher … dann wäre das mit moki und mir nie etwas geworden, niemals … der hätte mich überhaupt nicht wahrgenommen … so war das aber von vornherein abgemacht … nicht, dass das gut für meine noten … ich bin in dem jahr ganz schön runter, glaube ich … aber mir habe es gutgetan, hat joss gesagt …
na ja, damit hatte er wohl recht … denn als moki den platz neben mir … da war das gleich so, als müssten huck finn oder obi-wan noch einmal in die 7. klasse und würden sich genau neben einen setzen, direkt neben einen … moki ist zwar weder der eine noch der andere … doch ich war gleich zwei jahre älter … war plötzlich ein anderer: eben der kumpel dieses neuen, dieses farbigen … komische bezeichnung, oder …? selbst für moki … »wie bescheuert ist das denn … ›farbiger‹ für einen neger«, hat er im unterricht gefragt, »wenn die weißen noch immer die ›weißen‹ heißen – und nicht die ›farblosen‹ …?«
dem kruschka ist dazu nichts eingefallen … muss sagen, ich fand diesen vergleich ziemlich komisch … die klasse auch … und moki hat später wie verrückt darüber gelacht … und das ist er allemal: verrückt … das mit dem motorrad … und dort, wo er wohnt, ist auch alles verrückt … das hat ihnen joss bestimmt schon erzählt … vollkommen anders als bei uns zu hause …
JOSS
Seine Leute wohnen draußen im Ghetto, wie er immer sagt. In der Nähe vom Ring, kennen Sie sich da aus? Dort, wo man Hochhäuser baut, die in der Stadt selbst nichts zu suchen haben, aus städtebaulichen Gründen. Und wo immer diese Typen aus der Halfpipe abhängen, die mit 17 schon so aussehen wie die Kürbisfratzen zwei Wochen nach Halloween.
Na, jedenfalls ist bei Moki fast nie jemand zu Hause, niemand aus seiner Familie. Seine Mutter arbeitet den ganzen Tag. Der Vater ist nicht mehr. Und sein Bruder hat sich nach Amerika abgesetzt, als der 18 war. Das war wohl vor sechs oder sieben Jahren. Deshalb auch dieser ganze Schlonz mit Mississippi und so weiter, was Basti und ich ja ziemlich witzig finden. Selbst wenn es gar nicht witzig ist. Ich meine, Mokis Bruder schreibt ab und zu Postkarten, wie toll dort drüben in den USA das alles ist. Das war’s aber auch. Und Moki hat irgendeine Adresse von einem Bekannten in der Nähe von New Orleans, um ihm zurückzuschreiben. Verrückt, oder? Na, auf jeden Fall will Moki seinem Bruder irgendwann hinterher. Wenn er selbst 18 ist und genug Kohle hat. Zurück in seine »natürliche Umgebung«, wie er sagt. Was ganz sicher Quatsch ist, denn ursprünglich ist seine Familie ja aus Afrika. Vor einer halben Ewigkeit geflüchtet, mitten aus dem Busch, Uganda oder Ruanda oder so. Und sie sprechen nur Suaheli und ein paar Brocken Englisch, was mit unserem Schulenglisch nur wenig zu tun hat, wie ich immer gedacht hab. Zumindest konnte ich die Mutter nie verstehen, wenn sie mal da war und wir Moki abgeholt haben. »Wootsa?«, hat sie immer gesagt. Mittlerweile weiß ich, dass sie wohl »What’s up?« meint. Also so was wie »Was ist los?« oder »Was geht ab?«, was mit WhatsApp natürlich genauso wenig zu tun hat. Schließlich putzt die irgendwo Kolonne, aber bestimmt nicht bei Facebook oder Google.
Basti und ich nicken dann immer nur blöd, bis Moki so weit ist, um sich mit uns zu verdrücken. Bis auf einmal vor drei, vier Wochen. Da war Moki nicht da. Und wir mussten in der Wohnung mit der Nachbarin warten, die auf seine beiden kleinen Halbschwestern aufgepasst hat, bis er zurück war. Den Tag werde ich nie vergessen. Verfluchter Mist. Vielleicht, weil es der Anfang von allem war. Oder auch das Ende, ganz wie Sie wollen. Ich meine, wir haben schon vorher viel Mist gebaut, ich darf gar nicht dran denken! Na, das mit dem Motorrad war aber wieder ein Level drüber, ein erstes Master-Level sozusagen. Und von da an haben die Dinge ihren Lauf genommen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Jedenfalls wohnt Moki im 14. Stock. In einem dieser kahlen Klötze aus Beton und Hundescheiße, wie er immer sagt. Und die man an der Seite bunt anstreicht, damit sie nicht ganz so trostlos wirken. So wie Schornsteine von Müllverbrennungsanlagen oder Atommeiler. Man muss mit dem Aufzug fahren, um bis nach oben zu kommen, was ich eigentlich ziemlich lässig finde. Von dort hat man echt einen Spitzenblick über die ganze Stadt. Wenn man sich anstrengt, kann man sogar bis zum Fluss schauen. Bis zum Zirkus, der natürlich so versteckt gelegen hat, dass man ihn höchstens erahnen konnte, wenn man danach gesucht hat – mit seinen Teleskopaugen.
Darüber hinaus hatte die Wohnung einiges zu bieten. Denn wenn man vom Flur einen Blick hineinwirft, wird einem schnell klar, dass dort eine Menge Dinge durcheinandergekommen sind. Anders als bei uns, wo ständig aufgeräumt werden muss. Auch wenn es gar nichts zum Aufräumen gibt, zumindest unserer Meinung nach. Selbst wenn nur ein paar Bücher oder CD-Hüllen auf dem Klavier liegen, stresst unsere Mutter schon mächtig rum, bis alles seine Ordnung hat, wie sie sagt. In Hochglanz-Politur. Bei Moki ist das egal. Da hat jedes Ding seine eigene Ordnung, ganz gleich, wo es sich auch befindet. Alles führt ein gewisses Eigenleben. So wie Hunde oder Katzen, die sich dorthin legen, wo es ihnen am besten gefällt.
Na, als wir so zusammen mit der Nachbarin auf ihn gewartet haben, hat ein mächtiger Stapel Teller mit Reis und so einer grünbraunen Soße auf dem Wohnzimmerteppich gestanden, was bestimmt mal ganz gut geschmeckt haben muss. Zumindest hat es reichlich spektakulär ausgesehen. Und in dem Bücherregal befand sich ein Aschenbecher voller Kippen. Daneben ein Glas Mayo ohne Deckel, ein paar Weingläser, ein Knäuel Wäsche und ein Dutzend Fotorahmen. Bücher gab’s jedenfalls keine. Die Fotos hab ich mir dann genauer angesehen. Auf den meisten war Moki mit den Halbschwestern. Doch auf einem Bild waren Mokis Eltern mit einem Jungen zu sehen – vor einer Hütte mit Bananenpalmen. Die Eltern mit Mokis Bruder. Wahrscheinlich war das das Haus in Afrika, das sie damals verlassen mussten. Der Vater war ziemlich groß und hat breit gelacht, so wie Moki das tut, wenn er gut drauf ist. Seine Eltern haben so komisch bunte Kleider getragen, der Ami-Bruder nicht, der war fast nackt, und die Mutter mit Kopftuch hatte ein Baby auf dem Arm. Vermutlich Moki, aber so genau konnte ich das dort nicht zuordnen. Die andern Fotos waren von hier, jedenfalls waren da keine weiteren Lianen oder Gorillas zu sehen. Oder sonst was, was man sich so vorstellt.
Doch das war noch lang nicht alles. Das ganze Wohnzimmer war vollgestopft mit irgendwelchem Haushaltszeug. Bügeleisen, Wasserkisten, Schuhkartons und so weiter. Und der Fernseher war an, ziemlich laut, weil die Nachbarin wohl was an den Ohren hatte. So genau weiß ich das nicht. Außerdem war es ziemlich düster, da die Vorhänge halb zugezogen waren. Und in der ganzen Wohnung hat es nach Gewürzen, Zigarettenqualm und Benzin gerochen. Das mit den Gewürzen und den Kippen hab ich ja noch hingekriegt. Aber wo der Benzingeruch herkam, ist mir erst klar geworden, als die Nachbarin auf den Balkon ist, um eine zu rauchen. Dort stand ein halb verrostetes Motorrad, eine alte Enduro mit Kickstarter und schwarz-roten Felgen, an der Moki heimlich herumgeschraubt haben muss. Das dachte ich zumindest im ersten Moment. Basti hat sich dann mit aufs Sofa gesetzt, während ich mich an die Tür gelehnt und der Alten beim Rauchen zugeschaut hab. Irgendwie war das schon eine merkwürdige Situation. Echt abgedreht, wenn Sie mich fragen. Wir beide und die kleinen Schwestern, die wie Prinzessinnen auf dem Wohnzimmerteppich saßen und aus dem restlichen Reis kleine weiße Prinzen geknetet haben. Zum Totlachen. Das hätte unsere Mutter mal sehen sollen!
Allzu lange konnte es ja nicht dauern, bis Moki nach Hause kommen würde, hab ich irgendwann gedacht. Dann hat es doch noch ganz schön lange gedauert, und wir sind fast schon ohne ihn los. Die Nachbarin hat uns Cola angeboten, und mir war schon ganz schwindlig von dem Zeug. Aufs Klo gehen wollte ich dort aber auch nicht. Zum Glück war Moki irgendwann da. Plötzlich stand er in der Tür, als wäre nichts gewesen. »Tut mir leid«, hat er gesagt. »Musste noch ein Ersatzteil für den Höllenofen besorgen.« Ich weiß noch genau, wie er dabei so breit gelacht hat wie der Vater auf dem Foto. Dann hat er auf das Motorrad auf dem Balkon gezeigt und eine Plastiktüte mit einem riesigen Metallblock durch die Luft geschwenkt. »Vom Schrottplatz«, hat er nur gesagt. Keine Ahnung, wie Basti und ich da geglotzt haben. Muss aber ziemlich komisch gewesen sein. Jedenfalls hat die Nachbarin den Fernseher ausgeschaltet und uns angegrinst, dass man die gelben Zähne bis zum Zirkus hätte sehen können. Dann hat sie ihren Arm auf Bastis Schulter gelegt und wie blöd gebrüllt: »Ein Haufen Schrott zum Fahren. Oder um sich den Hals zu brechen!« Na, für eine Blitzsekunde hatte ich echt Schiss, dass die bei dem ganzen Gegrinse an ihrer Scheißzigarette erstickt.
BASTI
als ich vorhin gesagt habe, moki sei verrückt … das ist nicht ganz richtig … manchmal glaube ich, er ist total durchgeknallt … muss es immer drauf anlegen … das kann manchmal knapp werden, ziemlich knapp … die sache mit dem motorrad war schon … davor haben wir aber schon einige andere dinge … habe ich noch niemandem erzählt … sachen, die man tut, um sich lebendig zu fühlen und so weiter, wie joss meint … können gut gehen oder eben nicht …
angefangen hat alles mit dieser aktion … mit den geheimnummern … damals sind wir öfter zur tanke draußen an der landstraße … moki kannte jemanden dort … der hat uns mit cola oder süßkram versorgt … und als wir einmal etwas länger dort waren, hatte er die idee mit den geheimnummern … dauernd kamen irgendwelche leute rein, die mit ihrer ec-karte bezahlt haben … und dafür mussten sie ja ihren pin in diesen apparat … moki hat sich daneben gestellt und direkt nach dem eintippen vier zahlen rausgeschrien: »4 – 8 – 3 – 1 …!« so … oder so ähnlich … war sehr lustig … die leute total unterschiedlich … manche haben sich schnell weggedreht … portemonnaie festgehalten … rausgerannt … andere sind total rumgeflippt … was das denn solle … daraufhin hat der nur … von wegen neuer service der tankstelle … wenn die geheimnummern irgendwann flötengingen, könnten sie ihn jederzeit anrufen … er wisse sie dann ja … wie gesagt: ziemlich lustig … selbst mokis bekannter … der mit der cola und den süßigkeiten … hat mitgemacht und sich weggeduckt, als hätte er nichts mitgekriegt … als wäre er gar nicht da …
einmal gab’s aber stress übelster art … die tanke recht voll … da haben bestimmt drei leute schlange … gewartet … dann hat einer seine nummer falsch eingegeben … das konnte ja keiner wissen, keiner … moki hat natürlich wieder vier zahlen … konnte jeder hören … der mann hat aber vollkommen die nerven … und auch beim zweiten und dritten mal war die nummer falsch … die karte war irgendwann gesperrt … und dafür hat er moki … hat ihm damit gedroht, ihn anzuzeigen … schadenersatz, schmerzensgeld und so weiter … das war natürlich blödsinn … ein schaden ist ja nicht entstanden … schmerzen auch nicht wirklich … trotzdem war dann erst mal ende … mokis bekannter hat uns gebeten, dort nicht mehr aufzutauchen … wegen seines jobs … und soweit ist selbst moki nicht gegangen … nicht mal der …
na ja, war schon ziemlich knapp … das alles … aber irgendwie ist moki damit auf den geschmack … hat sich gleich die nächsten sachen für uns ausgedacht … »abenteuer« hat er es genannt … für joss und mich … so eine art mutproben, um zu zeigen, wie weit wir … nicht so was wie regenwürmer durchs duschsieb drücken … oder bierdosen aus dem supermarkt klauen … andere dinge eben … war wie ein wettbewerb … ich glaube, wenn das mit dem motorrad nicht gekommen wäre … wir hätten uns noch viel mehr … keine ahnung, was sonst noch alles … von daher bin ich ganz froh, dass das etwas runtergekocht ist … wobei auch das nicht so ganz stimmt … denn schon die maschine auf dem balkon … krass übel … und ohne die wären wir ja nie aufs fabrikgelände … niemals … und auch alles andere wäre wohl kaum passiert … aber da waren wir ja selbst schuld, dass es soweit gekommen ist …
JOSS
Zwei Tage später haben wir die Kiste geholt. Mit dem Aufzug runter ins Rentnergeschoss. Parterre. Und von da an waren wir mobil, ich meine richtig mobil. Natürlich hatten Basti und ich die Räder, ein Motorrad ist aber gleich eine ganz andere Liga. Und ich glaube, jeder aus der Schule hätte uns darum beneidet, wenn er gewusst hätte, mit was wir alles am Start waren. Als Moki fertig war mit schrauben, hatten wir nicht nur den Zirkuswagen am Fluss, sondern auch einen japanischen Sushi-Dreher mit 100.00016n’