Inhalt

Hier kommt Lola

  Widmung

  1. Wer ich bin und was mein größter Wunsch war

  2. Vier Mädchen und ein freier Platz

  3. Das Problem mit dem Buchstaben F

  4. Falsche Farbe und richtige Blasen

  5. Tante Lisbeth und die Bühne

  6. Das Huhn, das Ei, der Hahn und die Ziegen

  7. Hamburg räumt auf und ich falle in Ohnmacht

  8. Ich schreie Nein und Annalisa sagt Ja

  9. Annalisa kommt und Papai ist nicht da

10. Wir beten und mir wird leicht ums Herz

11. Ich fühle alles Mögliche und fasse einen Entschluss

12. 440 Luftballons

13. Annalisa kriegt Post und unser Restaurant eine Kellnerin

14. Ziegendienst und Flaschenpost

15. Der erste Brief

16. Ich denke an den Tod und versuche, mich im Traum zu verabreden

17. Ich bekomme Krankenbesuch und gebe ein Konzert

18. Wir retten eine kranke Katze

19. Ein Besuch in der Rambachstraße

20. Das Restaurant bekommt einen Namen und Flo und ich verteilen Flugblätter

21. Wir planen einen Auftritt

22. Ich suche Flo und finde etwas Unglaubliches

23. Ein Fetzen, ein Schnipsel und viele Tränen

24. Mama kennt eine Geschichte

25. Penelope und ich schreiben ein Lied

26. Ich überbringe einen Luftballon

27. „Guck mul du“

28. Mein leuchtend roter Luftballon

Lola macht Schlagzeilen

Widmung

  1. Feenspucke und ein nasses Bett

  2. Die Flolo Mopo

  3. Ich komme in die Vierte und habe eine Idee

  4. Mein Herz wird groß und weit

  5. Ein möglicher Popstar und Neues vom Wasserpistolenbanditen

  6. Eine gute und eine schlechte Überraschung

  7. Wir suchen wichtige Menschen und verlieren Tante Lisbeth

  8. Moritz macht Ärger und ich ärgere mich über Sol

  9. Ein fremder Mann im schwarzen Mantel

10. Vergebliche Rache

11. Tante Lisbeth wird neunzig und Papai gibt ein Zeitungsinterview

12. Eine ganz und gar nicht wundervolle Woche

13. Der schlimmste Tag meines Lebens

14. Ein schwarzes Loch und eine rettende Idee

15. Lina und Moritz

16. Schnellfahrer 1 bis 16

17. Schnellfahrerin Nummer 17

18. Ratter, ratter und Tatütata

19. Nachtschicht in der Perle des Südens

20. Die Hamburger Ziegenpost

Lola in geheimer Mission

Widmung

  1. Die Hubba-Bubba-Katastrophe und mein allerletzter Geburtstagswunsch

  2. Geburtstagsspringen und Geschenke

  3. Der Brülltyp und der Cooltuer

  4. Ich stelle eine dumme Frage und Flo hat eine verrückte Idee

  5. Jane Fond und Mata Hari

  6. Wir suchen und Penelope findet

  7. Ohrlochstechen und McDonald’s

  8. Die Speicherstadt

  9. Wir misten aus und ich spioniere

10. Eine Frage und ein Krankenhausbesuch

11. Flohmarkt

12. Ein Spaziergang am Hafen

13. Papai geht zur Bank und ich gehe bis zur letzten Stufe

14. Die Nacht der singenden Wale

15. Ein kopfloser Geist und ein Schreck am Zuckerwattestand

16. Merde

17. Meine Tante wird Onkel

18. Mein Aszendent und das Codewort

19. Zwei Ohrfeigen und kein Kuss

20. Flo gibt auf und ich gebe Gas

21. Billardkugel Nummer 8

22. Flos Geschichte

23. Tops und Flops in Hamburg

24. Und jetzt?

25. Eins zu null für Brasilien

26. Ein guter und ein schlechter Anruf

27. Zwei gute Nachrichten zur falschen Zeit

28. Das Benefizkonzert

29. Ein Abend ohne Sterne

30. Was sonst noch geschah

www.lola-club.de

 

 

1.

WER ICH BIN UND WAS MEIN GRÖSSTER WUNSCH WAR

Meine Freundin sagt, bevor ich euch die ganze Geschichte erzähle, soll ich mich erst mal vorstellen. Und ich finde, wo sie recht hat, hat sie recht. Schließlich geht es in der Geschichte ja so ziemlich hauptsächlich um mich. Na gut, es geht natürlich auch um meine Freundin, aber die kann ich euch noch nicht vorstellen. Sonst wüsstet ihr ja, wie es ausgeht. Ich verrate nur, dass meine Freundin jetzt neben mir sitzt und mir beim Erzählen hilft. Aber schreiben, sagt sie, soll ich – und jetzt soll ich anfangen.

Also: Ich heiße Jacky Jones (ausgesprochen wird das: Dschäcki Dschohns) und ich bin 15 Jahre alt. Ich gehe zwar noch zur Schule, aber hauptberuflich bin ich Sängerin. Meine Popkonzerte haben massenweise Besucher und einmal habe ich sogar im Fernsehen gesungen. Seitdem bin ich berühmt.

Jetzt gebe ich jeden Tag mindestens 30 Autogramme. Vor allem auf Geburtstagspartys und in unserer Schule. Die ist jetzt auch berühmt, weil ich ja dort Schülerin bin. Auf dem letzten Elternabend wurde vorgeschlagen, unsere Schule in Jacky-Jones-Schule umzubenennen. Und unser Schuldirektor hat sogar ein Poster von mir an der Wand hängen. Darauf trage ich eine schwarze Lederjacke mit silbernen Stachelnieten und habe in jeder Hand ein Mikrofon.

Als berühmte Sängerin habe ich ziemlich viele Fans, wie ihr euch wahrscheinlich denken könnt. Ich verdiene auch ganz schön viel Geld mit meiner Singerei. So ungefähr zwei oder fünfeinhalb Millionen pro Lied. Von dem Geld spende ich immer etwas an die armen Kinder in Brasilien. Aber das meiste gebe ich aus. Für Rollerblades und Mountainbikes und natürlich für Hubba-Bubba-Kaugummi. Danach bin ich nämlich ganz verrückt. Neulich habe ich mir sogar einen eigenen Kaugummiautomaten gekauft. Der hing an einer Hauswand und weil das Haus so schön war, habe ich es gleich mitgekauft. Es hat vier Stockwerke und als ich es meinen Eltern gezeigt habe, haben sie vor Freude geweint. Dann haben wir alles eingerichtet, aber ich durfte die Stockwerke verteilen, weil ich das Haus ja gekauft hatte.

Mama gehört das erste Stockwerk. Dort hat sie das Krankenzimmer für ihre Patienten und ein großes Malstudio für sich selbst. Das zweite Stockwerk habe ich meinem Vater gegeben. Er hat einen Musikraum und ein Tanzstudio, denn Musik mag mein Vater auch. Nur berühmt ist er nicht, aber das bin ja dafür ich.

Oma, Opa und Tante Lisbeth wohnen im dritten Stock und ich selbst wohne im vierten. Dort habe ich fünf Zimmer: ein Kletterzimmer, einen Forscherraum, ein Gruselkabinett, ein Schwimmbad und eine Kinderdisco. Auf dem Dachboden ist unser Restaurant. Dort lade ich meine Fans manchmal zum Essen ein, bevor wir in die Disco zum Tanzen gehen.

Soll ich noch weitererzählen? Oder sollte ich an dieser Stelle vielleicht doch lieber sagen, dass all das natürlich nur dann mit mir passiert, wenn ich abends im Bett liege und nicht einschlafen kann?

Das kommt allerdings ziemlich oft vor. Jeden Abend, um ehrlich zu sein. Wenn Mama sagt, ich soll das Licht ausmachen, bin ich noch knallwach. Mama interessiert das nicht im Geringsten und ich habe das Gefühl, mit diesem Problem stehe (oder liege) ich nicht allein da.

Dabei hab ich wirklich alles versucht, um einzuschlafen, ich schwöre! Sogar Schäfchenzählen habe ich versucht, aber das war wirklich bescheuert. Bei mir sind die Schäfchen nämlich nicht gesprungen, sondern sie sind vor dem Zaun stehen geblieben und haben gebäht. Man konnte sie überhaupt nicht zählen, weil sie alle auf einem Haufen gestanden haben. Das hat mich irgendwann so hibbelig gemacht, dass mir die ganze Kopfhaut gejuckt hat. Und als ich die Schafe angeschrien habe, sie sollten jetzt VERDAMMT NOCH MAL ENDLICH SPRINGEN, ist Mama reingekommen und hat gesagt, bei mir hakt es ja wohl, mitten in der Nacht so rumzukreischen. Als sie wieder rausgegangen ist, haben die Schafe alle im Chor gebäht und es hat sich angehört, als lachten sie mich aus. Es hat ewig gedauert, bis ich die ganze Herde wieder aus meiner Vorstellung weggescheucht hatte, und danach war ich sehr, sehr aufgeregt.

Als Nächstes hab ich es mit Pinkeln probiert, weil Oma immer sagt, wenn gar nichts mehr geht, geht man am besten aufs Klo, denn dabei kommt immer was raus. Also bin ich alle fünf Minuten aufs Klo gegangen und es ist auch immer was rausgekommen! Aber nach dem dreizehnten Mal hat Mama gesagt, wenn sie mich noch einmal auf dem Klo erwischt, zieht sie mir eine Windel an.

Tja. Und dann fingen die Krankheiten an. Sobald das Licht ausging, fühlte ich mich schlecht. Aber meine Kopfschmerzen haben Mama gar nicht interessiert. Genauso wenig wie das Ohrensausen oder das Kratzen im Hals oder die Wachstumsschmerzen oder das plötzliche Schwindelgefühl. Und als ich einmal so gegen halb elf ins Wohnzimmer kam, um Mama mitzuteilen, dass ich gerade einen Herzanfall hatte, gab es sogar richtig Ärger. „Noch ein Wort und ich reiß dir den Kopf ab“, hat sie gebrüllt.

Sind alle Mütter so herzlos? Oder nur meine, weil sie Krankenschwester ist?

Was mir also dringend fehlte, war eine nächtliche Beschäftigung, aber da ist mir erst mal nichts Ordentliches eingefallen. Es ist nämlich ziemlich schwierig, sich zu beschäftigen, wenn man im Dunkeln liegen muss und nicht mucksen darf, weil einem die eigene Mutter sonst den Kopf abreißt. Ich habe mir so leidgetan, dass ich am liebsten gar nicht mehr ich sein wollte.

Also fing ich an, mir vorzustellen, wer ich wohl wäre, wenn ich nicht ich wäre. Und dann ist mir plötzlich eine ganze Menge eingefallen. Ich war Feuerwehrfrau, Piratin, Detektivin, Waisenkind und einmal war ich sogar tot. Das war nach einem Streit mit meinen Eltern. Meine Güte, haben die vielleicht geweint. Aber am nächsten Morgen haben wir uns wieder vertragen und seitdem bin ich Sängerin.

Jetzt bin ich jede Nacht beschäftigt und meine Vorstellungen sind manchmal so aufregend, dass ich davon erst recht wach werde. Vor allem, als ich das Haus mit den vier Stockwerken gekauft habe. Mindestens bis Mitternacht hat es gedauert, bis alles fertig eingerichtet war!

Richtig müde bin ich dann erst morgens und Mama schimpft, weil ich dunkle Schatten unter den Augen habe.

„Lola“, sagt sie dann. „Lola, hast du wieder mal die halbe Nacht wach gelegen und dir Geschichten ausgedacht?“

Wie ihr seht, heiße ich tagsüber also nicht Jacky Jones. Tagsüber habe ich auch kein Haus mit vier Stockwerken. Und 15 Jahre bin ich auch nicht alt. Ich bin neun. Neuneinhalb, um genau zu sein. Aber in diesem Alter kann man als Sängerin – glaube ich – noch nicht so richtig berühmt werden. Deshalb mache ich mich in meinem nächtlichen Leben einfach etwas älter. Und Jacky Jones klingt für eine Sängerin ja auch irgendwie cooler. Das sagt sogar meine Freundin, obwohl sie meinen richtigen Namen mag.

Mein richtiger Name ist Lola Veloso. Lola war Mamas Idee und Veloso heiße ich, weil mein Vater Veloso heißt. Und mein Vater heißt Veloso, weil er aus Brasilien kommt. Deshalb nenne ich meinen Vater immer Papai, weil das Papa auf Brasilianisch heißt. Papai wird Papei ausgesprochen, das klingt so schön weich, finde ich. Auf Brasilianisch klingen ganz viele Wörter weich. Papai spricht oft brasilianisch mit mir. Er sagt, er findet es wichtig, dass ich seine Sprache kann. Aber ich glaube, er findet es auch wichtig, dass er sie selbst nicht vergisst. Papai lebt nämlich schon sehr, sehr lange in Deutschland. Hier haben er und Mama sich auch kennengelernt. Auf einer Zugtoilette, echt wahr! Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Meine Geschichte begann an einem Mittwoch nach den Osterferien. An einem Mittwochmorgen um halb acht.

Ich saß mit Mama am Frühstückstisch und war so hibbelig, dass wieder meine ganze Kopfhaut juckte. Diesmal aber nicht wegen der Schafe, sondern weil dieser Mittwoch mein erster Schultag war. Nicht der allererste natürlich, schließlich ist man mit neuneinhalb keine Erstklässlerin mehr.

Ich war letzten Sommer in die Dritte gekommen. Aber ein erster Schultag war es für mich trotzdem – weil ich auf eine neue Schule kam.

Wir waren nämlich umgezogen, von einem ziemlich kleinen Ort in eine ziemlich große Stadt. Das mit dem Umzug muss ich jetzt auch noch kurz erzählen, aber dann habe ich mich hoffentlich richtig vorgestellt und die Geschichte kann losgehen.

Also: Die Stadt, in die wir gezogen sind, heißt Hamburg und liegt an der Elbe. Die Elbe ist ein Fluss. Wir sind natürlich nicht wegen der Elbe nach Hamburg gezogen, sondern wegen Oma und Opa und Tante Lisbeth. Und wegen des Restaurants natürlich. Und aus dem kleinen Ort weggezogen sind wir wegen Papais Hautproblemen.

Aber nicht dass ihr jetzt denkt, Papai hätte Ausschlag oder komische Krankheiten oder so was. Die hat eigentlich eher Mama, weil ihre Haut so hell ist. Wenn Mama Erdbeeren isst, kriegt sie lauter Flecken, und wenn die Sonne scheint, muss sie sich sofort eincremen, sonst wird sie rot wie ein Krebs.

Papais Haut ist kaffeedunkel und er kann so viele Erdbeeren essen und so lange in der Sonne liegen, wie er will. Papais Hautproblem waren die Leute aus unserem Ort.

Da, wo wir wohnten, hatte nämlich fast niemand dunkle Haut. Sogar ich habe helle Haut und helle Haare und hellgrüne Augen habe ich auch. Papai sagt, das kommt, weil Mamas Gene stärker waren. Das soll wohl heißen, dass ich von Mama mehr Aussehen geerbt habe als von Papai.

Aber ich habe nicht verstanden, warum die Leute aus unserem Ort mit Papais Haut ein Problem hatten – und Mama hat gesagt, so was versteht im Grunde kein normaler Mensch.

Demnach gab es in unserem Ort anscheinend ziemlich viele unnormale Menschen. Denn dass die Leute dort mit Papais Haut ein Problem hatten, war so klar wie Kloßbrühe. Die Frau im Supermarkt hat immer ein Gesicht gemacht, als hätte sie gerade in eine grüne Zitrone gebissen, wenn Papai an die Reihe kam. In meiner Schule haben sie geflüstert, wenn Papai mich abgeholt hat. Und beim Schulfest hat mich eine aus der Vierten gefragt, ob mein Vater sich eigentlich nicht wäscht. Dafür musste ich ihr natürlich eine scheuern. Aber das mit dem Flüstern hat nicht aufgehört.

Als dann irgendwann Neger gehören in den Urwald auf unserer Hauswand stand, hat Papai gesagt, es reicht. Zwei Monate später sind wir umgezogen. Nicht in den Urwald natürlich, sondern wie gesagt nach Hamburg.

Hier haben viele Menschen dunkle Haut und bis jetzt habe ich noch keinen gesehen, der ein Problem damit hat. Papai ist jetzt viel besser gelaunt als früher und das finde ich sehr, sehr schön. Unsere neue Wohnung finde ich auch schön. Sie hat zwar drei Stockwerke weniger als das Kaugummiautomatenhaus aus meiner Vorstellung, aber dafür wohnen Opa, Oma und Tante Lisbeth in der Wohnung über uns. Das ist in einer großen Stadt viel wert, sagt Mama. Mamas Krankenhaus ist mit dem Auto 20 Minuten weit weg und das Restaurant von Papai und Opa fünf Stationen mit der U-Bahn.

Aber an dem Mittwoch, an dem die Geschichte anfing, war das Restaurant noch nicht eröffnet. Es musste erst renoviert werden. Und ich musste meinen ersten Schultag hinter mich bringen.

„Jetzt findest du bestimmt bald neue Freundinnen“, sagte Mama, als sie mich an diesem Morgen zur Schule brachte.

Und Freundinnen, die wollte ich so schnell wie möglich finden! Vor allem eine beste Freundin. Um ehrlich zu sein: Eine beste Freundin wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt. Viel mehr, als Jacky Jones oder Sängerin oder Besitzerin eines Kaugummiautomatenhauses mit vier Stockwerken zu sein. Denn was nützt einem all so was, wenn man keine Freunde hat? (Meine Freundin sagt, es nützt einem gar nichts.)

Doch als ich am Mittwochmorgen um eine Minute vor acht die Klinke zu unserer Klassenzimmertür runterdrückte, da hatte ich noch keine Freundin. Ich hatte nur ein komisches Gefühl im Bauch. Und dieses komische Gefühl flüsterte mir zu: Lola, Lola, das mit der besten Freundin wird keine leichte Sache.

    

2.

VIER MÄDCHEN UND EIN FREIER PLATZ

Außer mir kenne ich noch fünf andere Kinder, die umgezogen sind. Na ja, ich kenne sie nicht wirklich, aber ich habe ihre Geschichten gelesen. In Büchern. Und irgendwie kennt man die Menschen in Büchern ja auch, finde ich. Manchmal sogar besser als die Menschen im richtigen Leben.

Jedenfalls fanden die fünf Bücherkinder es alle bescheuert, umzuziehen. Sie fanden auch erst mal alles und jeden in ihrer neuen Heimat bescheuert. So wie Hanni und Nanni, von denen mir Mama neulich den ersten Band geschenkt hat. Hanni und Nanni sind Zwillinge, die in ein Internat umziehen müssen. Die wollten am Anfang noch nicht mal neue Freundinnen finden, weil sie alles so bescheuert fanden. Oma hat mit Mama geschimpft, weil sie die Hanni-und-Nanni-Bücher bescheuert findet. Aber Mama hat gesagt, Hanni und Nanni waren das Glück ihrer Kindheit und Oma soll sich nicht so anstellen. Tut sie aber trotzdem.

Oma arbeitetet dreimal in der Woche in einem Buchladen. Sie verkauft aber nur Bücher, die sie mag, und manchmal bekommt sie deshalb Ärger mit ihren Kunden. Einmal hat Oma einen Kunden sogar angemeckert, weil er für seine kleine Tochter ein Bilderbuch kaufen wollte, das Oma nicht mochte. Echt wahr! Ich war selbst dabei, weil Tante Lisbeth und ich Oma an diesem Tag im Laden besucht haben. Das Bilderbuch hieß „Hüpf, hüpf, Hopsi Häschen“ und als der Kunde es bezahlen wollte, hat meine Oma ihm das Buch aus der Hand gerissen und geschimpft: „Solche Bücher sind Kindesverblödung!“

„Aber erlauben Sie mal“, hat der Kunde gerufen, „Sie haben das Buch doch selbst in Ihrem Laden, wie können Sie denn so etwas sagen?“ Meine Oma hat gesagt, sie hätten dieses Buch nur deshalb im Laden, weil ihre Chefin keine Ahnung hat – und jetzt solle sich der Herr gefälligst ein anständiges Buch für seine Tochter aussuchen, wenn er noch einen Funken Verstand im Kopf hätte. Da hat der Kunde meiner Oma einen Vogel gezeigt und ist aus dem Laden gegangen.

Meine Oma war sauer. Aber ich glaube, ich wäre auch rausgegangen. Ehrlich gesagt fand ich ihr Benehmen auch sehr ungezogen. Papai sagt immer, „der Kunde ist König“, und mit Königen darf man doch so nicht sprechen, oder? Außerdem hab ich „Hüpf, hüpf, Hopsi Häschen“ auch gelesen und fand, dass der kleine rosa Plüschhase sehr süße Ohren hatte. Mit echtem Glitzer, und wenn man an ihnen gerubbelt hat, haben sie nach Vanille gerochen. Außerdem hat Hopsi Häschen beim Hüpfen ganz viele Freunde gefunden, genau wie Hanni und Nanni am Schluss auch. Da fanden die beiden ihr neues Zuhause auch gar nicht mehr bescheuert.

Ich fand mein neues Zuhause von Anfang an nicht bescheuert. Schon damals wusste ich, dass es mit einer besten Freundin sogar das beste Zuhause auf der ganzen Welt sein würde! Aber als ich mich an diesem Mittwoch durch die Tür in die Klasse schob, wurde das komische Gefühl in meinem Bauch noch stärker und meine Knie fühlten sich auf einmal ein bisschen an, als wären sie aus warmer Butter.

Das Klassenzimmer war schon ziemlich voll. Die meisten Kinder liefen herum oder hockten hinten in der Bücherecke und zwei Jungs bewarfen sich vorne an der Tafel mit nassen Schwämmen. Klatschpatsch. Patschklatsch. Das sah lustig aus. Vor allem, weil der eine den anderen immer genau ins Gesicht getroffen hat. Als ich mich genau umsah, merkte ich, dass eigentlich fast alle Kinder Jungs waren. Jedenfalls entdeckte ich nur vier Mädchen. Die saßen alle an einem Gruppentisch.

Das eine Mädchen hatte noch dunklere Haut als Papai und ungefähr tausend kleine Zöpfe auf dem Kopf. Das Mädchen neben ihr hatte einen roten Pferdeschwanz. Das Mädchen gegenüber hatte blonde glatte Haare und das Mädchen daneben hatte braune Locken. Alle vier sahen sehr nett aus. Das Dumme war nur, dass an ihrem Tisch kein Platz mehr für mich war. Meine Kopfhaut fing wieder an zu jucken und ich traute mich nicht, zum Mädchentisch hinzugehen. Erst recht nicht, als das Mädchen mit dem roten Pferdeschwanz dem Mädchen mit den tausend Zöpfen etwas ins Ohr flüsterte. Das fand ich gemein. Aber dann lächelte mich das blonde Mädchen an und das fand ich lieb. Ich lächelte zurück, traute mich aber immer noch nicht, mich zu bewegen, und dann kam zum Glück die Lehrerin. Sie legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Du bist bestimmt Lola, dann such dir mal einen schönen Platz. Vielleicht da vorne, da ist noch was frei.“

Sie zeigte auf einen Tisch, an dem schon zwei Jungen saßen. Der eine hatte ganz lange Haare, der andere ganz kurze. Aber beide hatten sie dunkle Haut, genau wie mein Papai und genau wie das Mädchen mit den tausend Zöpfen, das fand ich gut. Es hatte so was Vertrautes. Ich setzte mich auf einen der freien Plätze ihnen gegenüber. Der Platz neben mir blieb leer. Das fand ich blöd und wünschte mir, dass noch ein Mädchen kommen würde.

Eine halbe Stunde später, der Unterricht hatte längst angefangen, kam dann wirklich noch ein Mädchen. Plötzlich musste ich an meinen Opa denken. Der sagt nämlich immer: „Mit Wünschen muss man vorsichtig sein, sonst erfüllen sie sich und dann hat man den Salat.“

Ich hatte nie verstanden, was er damit meint.

Jetzt verstand ich es.

3.

DAS PROBLEM MIT DEM BUCHSTABEN F

Ich hasse Fisch. Nicht im Aquarium oder im Meer. Solche Fische finde ich toll. Ich hasse nur Fisch als Essen. Aber da hasse ich ihn sehr, sehr, sehr.

Das Mädchen, das jetzt in die Klasse kam und sich auf den freien Platz neben mich setzte, roch nach Fisch. Von oben bis unten. Sie war ein sehr, sehr kleines und sehr, sehr dünnes Mädchen und ich konnte gar nicht glauben, wie viel Geruch auf so wenig Körper passt. Das Schlimmste waren die Haare. Schwarze, wild vom Kopf abstehende Haare, in denen sich der Geruch festgesetzt hatte. Und das ALLERSCHLIMMSTE war, dass das Mädchen außen saß und ich innen. So musste ich mein Gesicht in den Fischgeruch hineinhalten, wenn ich mitbekommen wollte, was die Lehrerin erzählte.

Unsere Lehrerin heißt Frau Wiegelmann und sie erzählte gerade, dass wir bald ein großes Fest feiern würden, weil unsere Schule 100 Jahre alt würde, und das wäre ein sehr besonderer Geburtstag. Dann verteilte sie zum Glück neue Lesebücher und sagte, wir dürften jetzt ein bisschen darin blättern.

Ich steckte meine Nase so tief ins Buch, dass ich riechen konnte, wie neu die Seiten waren.

Tipp-tipp. Es klopfte. An meine Schulter.

„Ich heiße Flora“, sagte das Mädchen neben mir. „Und du?“

„Lola“, murmelte ich und roch an einem Text, der von Äpfeln und Birnen handelte.

„Dann ist dein Spitzname bestimmt Lo“, sagte das Mädchen. „Weil meiner nämlich Flo ist!“

Nein, mein Spitzname war nicht Lo. Das hätte ich dieser Flo auch gerne gesagt. Aber dann hätte sie wieder was gesagt und dann hätte ich wieder etwas sagen müssen. Und das konnte ich einfach nicht. Ich konnte diese Flora Flo nicht riechen!

Meine Freundin sagt, ich soll mich nicht immer so anstellen, aber die hat gut reden. Erstens musste sie nicht neben einem Floh sitzen, der wie ein gebratener Walfisch roch, und zweitens mag sie Fisch.

„Hey, wieso sagst du denn nichts?“, fragte Flo.

Ich hielt die Luft an.

„Bist du taub?“, zischte Flo.

Ich atmete durch die Nase aus und durch den Mund ein. Wenn man durch den Mund einatmet, riecht man nicht so viel. Den Trick hatte Mama mir eine Woche vorher verraten, als wir auf der Reeperbahn in einer Fischbude waren. Mama liebt nämlich Fisch.

„Du bist nicht taub, du bist bescheuert“, knurrte Flo. „Eine bescheuerte Zimtzicke, genau wie die anderen.“

Ich überlegte, ob ich jetzt doch etwas sagen sollte. Aber dann klingelte es zur Pause.

Ich wartete, bis alle draußen waren. Dann ging ich zu Frau Wiegelmann. „Ich möchte bitte einen anderen Platz“, sagte ich.

Frau Wiegelmann lächelte mich an. „Warum denn das?“

„Wegen dem Fischgeruch“, sagte ich.

Frau Wiegelmann seufzte. Das Seufzen klang ein bisschen so, als hätte sie diesen Satz schon öfter gehört.

„Stört es dich sehr?“, fragte sie.

Ich nickte, ich konnte nicht anders. „Sehr, sehr“, sagte ich.

Frau Wiegelmann seufzte wieder. Dann sah sie sich im Klassenzimmer um und zeigte auf einen Vierertisch gegenüber. „Ich habe es eigentlich nicht gerne, wenn sich die Kinder umsetzen. Das ist jetzt eine Ausnahme, weil da drüben noch ein Platz frei ist. Wenn du willst, kannst du dort sitzen. Aber dabei bleibt es dann, okay?“

Erleichtert nahm ich meine Tasche und zog um. Ich hängte meinen Schulranzen an den Haken und legte das Buch auf den Tisch. Von hier sah das Klassenzimmer ganz anders aus. Ich konnte auf die Wand gucken, der ich vorher den Rücken zugedreht hatte. Ich konnte auch das große Bild sehen, das an der Wand hing. Es war ein Buchstabenposter. Das ganze Alphabet war drauf. Und jedem Buchstaben war ein Tier zugeordnet. Ich sah den Affen neben dem A und den Bären neben dem B und den Elefanten neben dem E.

Dann sah ich das F. Und neben dem F saß ein Frosch.

Ich presste beide Hände vor die Augen. Ich biss die Zähne zusammen. Ich betete, dass ich nicht umfiel oder verrückt wurde oder starb.

Ihr wollt jetzt bestimmt wissen, warum. Ach je. Muss ich das wirklich erklären?

Meine Freundin sagt, ich muss es erklären, weil es zur Geschichte gehört. Und weil es sonst niemand kapiert.

Also gut. Das mit dem Fisch ist eine Sache. Den kann ich nicht essen und nicht riechen, aber mit Fröschen ist es noch viel schlimmer. Habt ihr schon mal was von einer Phobie gehört? Eine Phobie ist eine sehr, sehr schrecklich große Angst und ich kenne dieses Wort auch nur, weil ich selbst darunter leide. Nicht unter dem Wort natürlich, sondern unter der Krankheit. Denn eine Phobie, sagt Mama, ist eine Art Krankheit. Man kann eine Phobie vor allem Möglichen haben. Manche Menschen haben zum Beispiel eine Spinnenphobie. Wenn diese Menschen eine Spinne sehen, dann sagen sie nicht Bääh oder Iiiih oder Pfui Spinne oder irgend so was. Menschen mit einer Spinnenphobie werden komplett verrückt, wenn sie eine Spinne sehen. Sie haben Angst, ohnmächtig zu werden oder zu sterben, wenn sie eine Spinne sehen. Selbst wenn sie winzig klein ist.

Und Mama kennt eine Frau, die hat eine Knallphobie. Diese Frau fürchtet sich vor allem, was knallt. Sogar vor Sektkorken. Und Silvester liegt die Frau dann kreischend im Bett und hält sich die Ohren zu, damit sie das Knallen der Feuerwerksraketen nicht hören muss. Also, diese Frau tut mir sehr, sehr leid, denn Feuerwerk ist für mich das Allergrößte. Spinnen mag ich auch, sogar Vogelspinnen.

Dafür habe ich diese schrecklich große Angst vor Fröschen. Niemand weiß, warum. Ich weiß es auch erst, seit Mama mir das Märchen vom Froschkönig vorgelesen hat. Schon beim Lesen wurde mir schlecht. Aber dann hat Mama mir das Bild gezeigt. Es war ein sehr, sehr großes Bild, das Mama ganz dicht vor meine Nase gehalten hat. Da habe ich so geschrien, dass unsere Nachbarn die Polizei gerufen haben. Mama wollte mit mir zum Arzt, aber davor hatte ich noch mehr Angst. Seitdem mache ich um Frösche einen großen Bogen. Das ist manchmal ziemlich schwierig. Ihr glaubt ja nicht, wie viele Frösche es auf der Welt gibt. Und wie viele Bilder von Fröschen. Jetzt sogar in meinem neuen Klassenzimmer. Frau Wiegelmann konnte ja nicht wissen, dass ich eine Froschphobie habe.

„Was ist denn mit dir los, Lola?“, hörte ich sie fragen. Vor meine Augen hatte ich ja noch immer die Hände gepresst.

„Nichts“, flüsterte ich, als ich wieder sprechen konnte. Ich wollte Frau Wiegelmann nichts von meiner Phobie erzählen. Erst Fische, dann Frösche. Die würde ja denken, ich wollte sie veräppeln. Oder ich hätte ein Problem mit dem Buchstaben F.

F wie Fisch.

F wie Frosch.

F … wie Flora Flo!

Oje!

Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen mit Mama oder Papai zu sprechen, damit sie vielleicht mit Frau Wiegelmann reden konnten.

Nicht wegen Flora oder dem Fischgeruch.

Sondern wegen der Frösche.

Mama hatte auch mit den Lehrern in meiner ersten Schule über meine Phobie geredet, weil wir dort den Frosch einmal im Naturkundeunterricht durchgenommen hatten. Da durfte ich für diese Stunde in eine andere Klasse.

Aber jetzt musste ich erst mal sehen, dass ich von hier wegkam. Ein Frosch im Rücken war schlimm genug. Aber jeden Tag darauf zu gucken, das würde ich nicht aushalten. Das war fast so schrecklich wie ein echter Frosch und viel, viel schrecklicher als der Geruch nach Fisch.

„Ich glaube, ich bleibe doch lieber an meinem alten Platz“, murmelte ich. Dann ging ich mit gesenktem Kopf zurück.

Frau Wiegelmann strahlte mich an. „Das freut mich, Lola. Das freut mich wirklich sehr.“

4.

FALSCHE FARBE UND RICHTIGE BLASEN

Als ich nach Hause kam, war Mama schon weg. Ins Krankenhaus zum Arbeiten. Sie sagt, es ist das schönste Krankenhaus der Welt. An diesem Mittwoch hatte sie Spätschicht und würde erst am Abend zurückkommen. Dafür war Papai da und hatte brasilianische Bohnen gekocht. Die kann Oma nicht riechen. Aber ich liiiiiiiiiebe brasilianische Bohnen und Mama mag sie auch. Selbst wenn sie danach immer pupsen muss. Wir alle müssen nach den Bohnen pupsen. Knatter, knatter, knatter. Es ist ein richtiges Pupskonzert. Papai und ich finden es lustig. Mama nicht. Sie sagt, sie kennt eine Geschichte von einem Mann, der sich einmal zu Tode gepupst hat. Aber das glaube ich ihr nicht so richtig. Mama kennt dauernd irgendwelche komischen Geschichten und Papai und ich verdrehen dann manchmal die Augen.

„Na, Cocada, wie war’s in der Schule?“, fragte Papai, als er mir an diesem Mittag einen großen Teller Bohnen hinstellte. Cocada ist eine brasilianische Kokosnusssüßigkeit. Und Papai nennt mich so, weil er Kokosnüsse liebt.

„Gww ws“, antwortete ich mit vollem Mund. Das sollte heißen: „Gut war’s“. Und es war auch gar nicht richtig gelogen.

Denn nach der ersten Pause wurde es wirklich noch ganz gut. Flo hat wegen der frischen Luft ein kleines bisschen weniger nach Fisch gerochen, obwohl es immer noch so schlimm war, dass ich nicht mit ihr reden mochte. Aber sie hat auch nicht mehr mit mir geredet.

Dafür hat mich Annalisa in der zweiten Pause gefragt, ob ich Lust habe, mit ihr und Frederike Seil zu springen. Annalisa ist das Mädchen mit den blonden Haaren und Frederike ist das Mädchen mit den braunen Locken. Später sind auch Sila und Riekje dazugekommen. Sila ist das Mädchen mit den tausend Zöpfen und Riekje die mit dem roten Pferdeschwanz. Ähnlich sehen sich die beiden gar nicht, aber sie kleben zusammen wie siamesische Zwillinge und haben die ganze Pause durch gekichert, ohne dass ich verstanden habe, warum. Das war schade.

Im Geheimen hatte ich mir ein bisschen gewünscht, dass vielleicht Sila meine beste Freundin werden könnte. Wegen der dunklen Haut. Ich hatte nämlich noch nie ein Mädchen mit dunkler Haut kennengelernt. Aber Sila war immer nur mit Riekje zusammen, das hat auch Annalisa gesagt. Und wenn jemand schon eine beste Freundin hat, kommt man bestimmt nicht so leicht dazwischen.

Annalisa und Frederike fand ich aber auch nett. Obwohl ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gerne Seil springe. Ich wäre lieber zu den Ziegen gegangen, die auf unserem Schulhof ein Gehege haben. Oder zur Kampfbrücke. Die Kampfbrücke ist ein Wackelding, auf dem immer zwei Kinder aufeinander zugehen und miteinander ringen, bis eines von ihnen runterfällt. Das fand ich ziemlich interessant und habe beim Seilschlagen immer wieder hingeschaut. Aber da standen nur große Jungs – und Flo. Da hab ich schnell wieder weggeschaut.

Aber das wollte ich Papai jetzt alles gar nicht erzählen. Ich hasse es, direkt nach der Schule zu erzählen, wie es in der Schule war.

Also sagte ich nur: „Gww ws.“

Papai sagte: „Das freut mich.“

Er sagte das natürlich auf Brasilianisch. Aber ich schreibe es auf Deutsch, sonst versteht es ja keiner.

Dann fragte Papai, ob ich Lust hätte, nach dem Essen mit ihm ins Restaurant zu kommen. Natürlich hatte ich Lust! Das Restaurant liegt am Hafen und es ist ein wunderwunderschönes Restaurant. Damals war es allerdings noch eine ziemliche Baustelle. Überall hingen Kabel aus den Wänden und von der Decke bröckelte der Putz. Papai und Opa hatten von morgens bis abends alle Hände voll zu tun. Opa gehört nämlich die Hälfte des Restaurants. Natürlich ist das Restaurant nicht in zwei Hälften geteilt, das sähe ja bescheuert aus! Opa hat die Hälfte bezahlt und er hat Papai beim Renovieren geholfen.

Als wir an diesem Tag ins Restaurant kamen, hatte Opa die Kabel schon in der Wand versteckt und war gerade dabei, die Farben für den Anstrich zu mischen. Vor ihm stand ein großer Farbtopf mit weißer Farbe. Dahinein wollte er gerade grüne Farbe schütten.

„HAAAAAALT!“, schrie Papai. „BIST DU WAHNSINNIG?!“

„Was denn, was denn?“ Opa kippte sich die grüne Farbe fast übers Knie, so sehr erschrak ihn Papais Geschrei.

„DAS IST GRÜN!“, rief Papai.

„Grün?“ Opa runzelte die Stirn. „Wieso Grün? Das ist Orange.“

„Ist es eben nicht.“ Papai raufte sich die Haare. Opa ist farbenblind, müsst ihr wissen. Aber er ist ein sehr guter Maler und ein sehr, sehr guter Handwerker.

Papai hielt Opa den Topf unter die Nase. „Grün“, sagt er. „Grün wie eine deutsche Sommerwiese. Hier steht es sogar.“

Opa starrte auf die Aufschrift, die wirklich sehr klein war.

„Oh“, sagte er beschämt. „Was für ein Glück, dass ihr gerade gekommen seid.“

Ja, das war wirklich ein Glück. Weiß mit deutschem Sommerwiesengrün passt vielleicht zu einer Gärtnerei. Aber doch nicht zu einem Restaurant!

Also ging Papai neue Farbe holen und ich blieb mit Opa im Restaurant. Ich setzte mich auf die eine Leiter  und Opa setzte sich auf die andere Leiter. Ich steckte mir zwei Hubba-Bubba-Kaugummis mit Colageschmack in den Mund und die anderen beiden gab ich Opa.

„Schön gelb“, sagte Opa, als er die Kaugummis ausgewickelt hatte.

„Nein“, kicherte ich. „Schön braun.“

Opa steckte sich die beiden Hubba-Bubba-Kaugummis in den Mund und kaute. „Stimmt“, sagte er und verzog das Gesicht. „Cola. Igittigitt!“

„Gar nicht igittigitt“, sagte ich. Erwachsene wissen manchmal wirklich nicht, was gut ist.

Aber dann haben wir Kaugummiwettblasen gemacht und hatten sehr, sehr viel Spaß dabei! Opa kann nämlich die besten Kaugummiblasen der Welt machen. Eine war so groß, dass sie auf seinem ganzen Gesicht zerplatzte. Und Opa hat ein großes Gesicht. Ein richtiges Mondgesicht, mit einer dicken Knubbelnase und lieben, lustigen Augen.

Als Papai zurückkam, durfte ich beim Mischen helfen. Opa kippte die orange Farbe in den großen weißen Farbtopf. Dann mischte Papai noch ein bisschen Gelb und ein bisschen Braun dazu und am Ende hatten wir einen wunderschönen Farbton, den Papai zufrieden „Terrakotta“ nannte.

Jetzt konnten wir mit dem Streichen anfangen. Opa malte die Ecken und Ränder. Papai und ich strichen die Wände. Dazu hatten wir Rollpinsel. Oder Pinselroller? Egal. Jedenfalls diese Dinger, die aussehen wie flauschige Drehwürste auf einem Besenstiel. Die machten vielleicht lustige Geräusche, als wir sie über die Wand rollten! Zwischschschiwwwuschhhh! Und sabbbschhhh! Ich fühlte mich wie ein richtiger Malermeister und eine richtige Malermeistermütze hatte ich auch. Die hatte Opa mir aus Zeitungspapier gemacht. Nur einen Maleranzug hatte ich nicht. Mama schimpfte wie ein Rohrspatz, als Papai und ich nach Hause kamen, denn Malerfarbe geht nur ganz schwer rauszuwaschen. Meine Arme waren auch ganz besprenkelt, deshalb schickte mich Mama vor dem Abendessen in die Badewanne.

Unser Badezimmer war damals noch nicht fertig renoviert. Das Licht funktionierte nicht und die Badezimmertür hatte innen keine Klinke. Dadurch konnte man die Tür nur von außen schließen, aber dann von innen nicht mehr öffnen. Und baden musste man immer mit Kerzen, sonst war es stockdunkel. Ich fand das nicht schlimm, aber Mama störte es. „Wann kümmerst du dich endlich drum?“, fragte sie Papai beim Abendessen.

„Morgen“, sagte Papai.

„Morgen, morgen. Das sagst du schon seit Tagen“, brummte Mama. „Ich kenne eine Geschichte von einem Mann, der hat seiner Frau sieben Jahre lang versprochen …“

„Und ich“, unterbrach sie Papai, „kenne eine Geschichte von einer Frau, die hat seit sieben Tagen nicht mit ihrem Mann getanzt!“ Er zog Mama vom Stuhl hoch, legte ihr beide Hände um die Hüften und wirbelte sie in wilden Kreisen durch die Küche. Dabei sang er: „TRALLA-LA-LAAAAAAA!“

Mama kreischte. Ich lachte. Ich liiiiiiiebe es, wenn Papai solche Sachen macht. Und Mama liebt es, glaube ich, auch.

5.

TANTE LISBETH UND DIE BÜHNE

Bevor ich ins Bett musste, kamen uns noch Oma und Tante Lisbeth besuchen. Tante Lisbeth hatte schon ihren Schlafanzug an und hickste dauernd, weil sie Schluckauf hatte. Oma setzte sich zu Mama in die Küche und Tante Lisbeth setzte sich auf meine Bühne. Ich habe nämlich wirklich eine Bühne. Eine ganz tolle. Sie war meine Idee und Opa hat mir geholfen, sie zu bauen. Über vier Betonsteine haben wir ein großes Brett gelegt. Rechts und links daneben stehen zwei Umzugskartons mit Löchern drin. Das sind die Lautsprecherboxen. Damit sie noch echter aussehen, habe ich sie schwarz angemalt.

„Na, Tante Lisbeth, wie findest du meine Bühne?“, fragte ich.

Hicks“, sagte Tante Lisbeth und fing an zu singen: „La, la, la-licks!“ Dazu steckte sie sich mein Mikrofon in den Mund. Das Mikrofon war eine kleine, leere Colaflasche mit Papier drum herum. Das sabberte Tante Lisbeth jetzt voll und als ich ihr die Flasche wegnahm, fing sie an zu schreien. „Rabäää, rabäää, ra-bäcks!“

„ALLES OKAY?“, rief Oma aus der Küche.

Ich steckte Tante Lisbeth einen Hubba-Bubba-Kaugummi in den Mund.

„Alles okay“, rief ich zurück.

Oma ist immer sehr besorgt, wenn es um Tante Lisbeth geht. Tante Lisbeth ist ja auch erst zwei Jahre alt und ein bisschen wie Omas erstes Kind. Eigentlich ist natürlich Mama Omas erstes Kind. Aber als Oma Mama bekommen hat, war Oma erst 17 Jahre alt und Opa war 22. Sie waren wirklich sehr, sehr junge Eltern. Jetzt sind sie sehr, sehr alte Eltern. Denn als Oma Tante Lisbeth gekriegt hat, war sie schon 45 und Opa war 50. Aber das hat ihnen nichts ausgemacht. „Wenn wir mit 17 und 22 gute Eltern sein konnten, dann können wir es mit 45 und 50 erst recht“, hat Oma gesagt. Und Opa hat gesagt, das stimmt.

Oma und Opa sind auch wirklich gute Eltern. Und gute Großeltern! Und Tante Lisbeth ist eine sehr, sehr tolle Tante, auch wenn sie erst 80 Zentimeter groß ist und viele Dinge nicht richtig versteht.

„Also“, sagte ich zu Tante Lisbeth und hob sie von der Bühne runter. „Du setzt dich jetzt auf den Boden und bist mein Fan. Und ich bin Jacky Jones und sing dir was vor. Ja?“

Jacks“, sagte Tante Lisbeth. Ich glaube, das sollte „Ja“ heißen, denn sie ließ sich von mir auf den Boden setzen.

Ich schnappte mir das angesabberte Mikrofon und sang.

„O-jä, jä, jääääää!“, sang ich. „Jää, jää, jääää!“ Dabei klimperte ich mit den Augen und wackelte mit dem Po. So machen echte Sängerinnen das nämlich. Zum Schluss verbeugte ich mich. „Du musst klatschen, Tante Lisbeth“, rief ich. „Und wenn du willst, kannst du auch kreischen und dich vor mir auf den Boden werfen.“ Das machen nämlich echte Fans.

Aber Tante Lisbeth klatschte nicht. Sie kreischte auch nicht. Sie schluckte nur. Und dann wurde sie plötzlich ganz lila im Gesicht.

„Du darfst doch dem Kind keinen Kaugummi geben“, schimpfte Oma, nachdem sie meine Tante auf den Kopf gestellt hatte. Zum Glück kam der Kaugummi wieder raus und der Schluckauf war auch weg.

„Aber wenn ich Tante Lisbeth keinen Kaugummi gegeben hätte, dann hätte sie mein Mikrofon gegessen“, brummte ich.

Mama strich mir tröstend über den Kopf. „Mit kleinen Tanten muss man vorsichtig sein, mein Schatz. Das weißt du doch.“

Als Oma und Tante Lisbeth weg waren, sang ich noch ein bisschen für mich allein. Aber irgendwie war das langweilig. Und als ich abends im Bett wieder richtig Jacky Jones wurde, war mir plötzlich auch langweilig. Deshalb baute ich Annalisa mit in meine Vorstellung ein.

Annalisa wurde meine Mitsängerin und wir gaben ein sehr, sehr großes Konzert. Unsere Fans kreischten und warfen sich vor uns auf den Boden. Das war echt toll!

Zum Schluss sind wir dann alle zusammen in mein Haus mit den vier Stockwerken gegangen. Ich habe allen eine Runde Hubba-Bubba-Kaugummis mit Coca-Cola-Geschmack spendiert.

Papai hat im Restaurant Pommes und Würstchen für alle gekocht und danach haben wir in meiner Disco getanzt, bis uns die Füße wehtaten. Es war eine wunderbare Nacht!

Bevor ich einschlief, dachte ich, vielleicht hat Annalisa ja wirklich Lust, mal mit mir auf die Bühne zu gehen. Und ich glaube, ich träumte davon, sie zu fragen.

6.

DAS HUHN, DAS EI, DER HAHN UND DIE ZIEGEN

Bis ich Annalisa wirklich fragte, verging noch eine sehr lange Zeit. Zwei Schultage und ein Wochenende, um genau zu sein. Und als ich sie fragte, passierte etwas sehr, sehr Schreckliches. Aber meine Freundin sagt, so was erzählt man der Reihe nach.

Der nächste Tag war also ein Donnerstag und als ich in die Klasse kam, war der Platz neben mir wieder leer. Wir hatten Naturkunde und unser Thema war Das Huhn und das Ei. Frau Wiegelmann wollte wissen, wer von den beiden zuerst da war.

Annalisa meldete sich. „Das Huhn“, sagte sie.

Frau Wiegelmann lächelte. „Aber woher kam das Huhn?“

„Aus dem Ei!“, rief Sol, ohne sich zu melden. Sol ist der Junge an meinem Tisch. Der mit der dunklen Haut und den ganz langen Haaren.

„Richtig“, sagte Frau Wiegelmann.

„Dann war halt das Ei zuerst da!“, rief Riekje.

Frau Wiegelmann legte den Kopf schief. „Aber wer hat dann das Ei gelegt?“

„Das Huhn!“, schrie Ansumana, der andere Junge an meinem Tisch. Die Klasse stöhnte und Frau Wiegelmann lachte. „Über diese Frage haben sich schon die klügsten Menschen gestritten“, sagte sie. „Und niemand hat eine richtige Antwort gefunden. Wir wissen nur, dass die Hühner aus den Eiern kommen – und die Eier aus den Hühnern.“

„So“, rief Sol und sprang von seinem Sitz auf: „So kommen die Eier aus den Hühnern.“ Er hockte sich auf den Boden, als ob er Aa machen wollte. Dann sprang er wieder auf, flatterte wild mit den Armen und rief mit gackriger Stimme: „Gooock-gock-gock, ich hab ein Ei gelegt! Gooock-gock-gock, ich bin so aufgeregt!“

Die anderen Kinder mussten lachen. Ich natürlich auch. Sol macht dauernd so witzige Sachen.

„Setz dich wieder hin, Sol“, sagte Frau Wiegelmann und zog ein weißes Ei aus ihrer Tasche. „Wer von euch weiß denn, wie so ein Ei entsteht?“

„Durch Sex“, rief ein Junge, der Jonas heißt.

Die Klasse kicherte und Frau Wiegelmann nickte. Dann erklärte sie uns, wie die Hähne auf die Hühner draufspringen und mit ihnen Sex machen. „Das nennt man ,befruchten‘“, sagte sie. „Und dabei entsteht das Ei. Im Grunde so wie bei uns Menschen auch.“

Jetzt schoss mein Finger in die Höhe. „Aber bei uns springen doch die Männer nicht auf die Frauen drauf!“, rief ich. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass Papai gackernd und flatternd meine Mama ansprang.

Die anderen Kinder mussten wieder lachen und Frau Wiegelmann diesmal auch. „Das stimmt, Lola“, sagte sie. „Ich denke, wir Menschen machen es uns dabei ein bisschen gemütlicher.“

In diesem Moment ging die Tür auf. Ein schwarzer Zauselkopf lugte ins Klassenzimmer. Frau Wiegelmann seufzte. Ich hielt die Luft an. Flo roch schon wieder wie ein gebratener Walfisch.

„Entschuldigung“, piepste sie. Dann setzte sie sich neben mich, gähnte – und zehn Minuten später war sie eingeschlafen.

PONG, fiel ihr Kopf auf den Tisch.

Sol bewarf sie mit Papierkügelchen. Ich sah ihn böse an. Für mich war es ja nur gut, dass Flo schlief. So konnte ich wenigstens über ihren Geruch hinwegsehen. Aber Frau Wiegelmann fand es nicht gut. Sie weckte Flo, notierte sich etwas in ihr kleines Notizbuch und seufzte dabei noch mal.

Als es zur Pause klingelte, ging ich schnurstracks auf Annalisas Tisch zu. Ich kratzte mir den Kopf, und das „Willst du“ lag mir schon auf der Zungenspitze. Aber es kam nicht heraus. Weil Annalisa mich gar nicht richtig beachtete. Sie schoss an mir vorbei zur Tür raus und als ich auf den Schulhof ging, saß sie mit vier Mädchen aus einer anderen Klasse auf der Bank. Sie steckten die Köpfe zusammen und sahen ein bisschen aus wie Hühner auf der Stange. Da traute ich mich wieder nicht hinzugehen. Und heute lächelte Annalisa mich auch gar nicht an.

Also ging ich zu den Ziegen. Dass unser Schulhof ein Ziegengehege hat, habe ich euch ja schon erzählt. Die Ziegen heißen Flocke und Tupfer und sind sehr, sehr süß. Flocke ist ganz weiß, wie eine Schneeflocke. Und Tupfer ist hellbraun mit schwarzen Tupfern. Ihr Gehege ist ziemlich groß und es gibt sogar ein echtes Ziegenhaus darin.

„Na, ihr zwei“, sagte ich.

„Bääääh“, sagte Flocke.

„Ihr habt’s gut“, sagte ich.

„Bääääh“, sagte Flocke.

„Weil ihr zu zweit seid“, sagte ich.

„Bääääh“, sagte Flocke.

„Genau“, sagte ich.

Ich spreche keine Ziegensprache. Aber Flockes Antworten taten mir gut. Sie ist die Gesprächigere von den beiden und irgendwie glaube ich, dass sie mich versteht. Meine Freundin sagt, sie glaubt das auch.

Ich gab Flocke die Kruste von meinem Schulbrot. Jetzt musste ich auch seufzen.

Wie gerne wäre ich auch zu zweit gewesen!

Aber in der nächsten Pause war Annalisa wieder mit den Mädchen aus der anderen Klasse verschwunden. Riekje und Sila gingen Händchen haltend über den Schulhof. Frederike war nicht zu sehen und Flo spielte mit den Jungs aus der vierten Klasse Fußball.

Am Freitag schrieben wir einen Aufsatz über Hühner und Eier und in der ersten Pause fragte mich die Kussmaschine, ob ich mit ihm und Ansumana Eis-Ticken spielen wollte. Die Kussmaschine heißt eigentlich Mario. Aber alle nennen ihn die Kussmaschine, weil er immer die Mädchen küssen will. Vor allem Annalisa und Frederike. Er schleicht sich von hinten an und patsch hat man einen Kuss auf der Backe. Mich wollte er damals noch nicht küssen, wahrscheinlich weil ich neu war. Und weil Annalisa wieder mit den anderen Mädchen zusammensaß, spielte ich mit der Kussmaschine und Ansumana Eis-Ticken.

Eis-Ticken ist ein bisschen wie Fangen, nur lustiger. Wer getickt wird, wird zu Eis. Er muss dann stocksteif stehen bleiben, bis er von einem anderen erlöst wird. Dann darf er wieder laufen. Wenn der Fänger alle zu Eis getickt hat, muss der, der zuletzt getickt wurde, Fänger sein.

In der zweiten Pause spielten auch Flo und Frederike mit. Frederike kreischte immer, wenn sie getickt wurde. Flo wurde nie getickt. Sie war unglaublich schnell. Aber einmal fiel sie hin und schlug sich das Knie auf. Es blutete fies, aber Flo verzog keine Miene. Das fand ich ziemlich tapfer. In der Pause war ihr Fischgeruch auch nicht so schlimm. Aber im Klassenzimmer war er unerträglich. Ich musste ständig durch den Mund atmen. Warum konnte ich nicht am Tisch mit den anderen Mädchen sitzen? Und warum fragte mich Annalisa nicht wie am ersten Tag, ob ich mit ihr Seil springen würde?

Ich wäre stundenlang mit ihr Seil gesprungen, weil ich sie dann wenigstens hätte fragen können, ob sie meine Bühne sehen wollte. Ich überlegte schon, ob ich stattdessen lieber Frederike fragen sollte.

Aber als es zum Schulschluss klingelte, lächelte Annalisa mich dann doch wieder an. Jetzt, dachte ich. Jetzt frage ich sie. Ich wollte gerade zu ihr gehen, als mich Frau Wiegelmann zu sich an den Tisch rief. Sie fragte mich nach meiner Adresse. Die brauchte sie noch für die Klassenliste. Ich wohne in der Bismarckstraße 44 in 20 259 Hamburg.

Als ich das alles aufgesagt hatte, war Annalisa verschwunden.

„Glaubst du, Annalisa will meine beste Freundin werden?“, fragte ich Flocke, als ich ihr vor dem Nachhausegehen eine Möhre ins Gehege warf.

Flocke schaute mich aus ihren glänzend schwarzen Augen an und sagte: „Bääääääh!“

7.

HAMBURG RÄUMT AUF UND ICH FALLE IN OHNMACHT

Am Samstag besuchten Mama, Tante Lisbeth und ich Oma im Buchladen. Am Sonntag bekam das Restaurant eine Theke und am Montag war endlich wieder Schule. Ich war die halbe Nacht als Jacky Jones unterwegs gewesen und bekam am Morgen kaum die Augen auf. Aber beim Frühstück fing meine Kopfhaut wieder an zu jucken, weil ich so aufgeregt war wegen Annalisa und ein bisschen auch wegen dem Ausflug.

Frau Wiegelmann hatte uns für heute bei einem Projekt angemeldet. Das Projekt hieß „Hamburg räumt auf“ – und unsere Klasse war dabei! Wir durften Müllmänner und Müllfrauen sein und bekamen echte Müllsäcke und Müllhandschuhe.

Unser Revier war der Weiherpark in der Nähe unserer Schule. Frau Wiegelmann war natürlich auch dabei – und sogar ein echter Reporter und ein echter Fotograf. Der Fotograf hieß Olaf Wildenhaus und war der Freund von Frederikes Mutter. Der Reporter hieß Herr Lettenewitsch und erzählte uns, dass wir in einer Woche in die Zeitung kommen würden. Das fand ich natürlich toll. Aber noch toller fand ich, dass ich heute nicht am Tisch neben Flo saß.

Beim Aufsammeln hielt ich mich immer dicht an Annalisas Seite. Sie hatte anscheinend nicht so viel Spaß. Ständig verzog sie das Gesicht, hob mit spitzen Fingern Zigarettenkippen auf und einmal quiekste sie ganz laut: „Iiiiiih.“ Das war wegen einer nackten Barbiepuppe, die am Teichufer lag.

„Cool“, rief Ansumana, der in unserer Nähe sammelte. „Eine Wasserleiche!“

Der Fotograf machte ein paar Bilder von der Barbie. Dann machte er ein Foto von Sila. Die hatte im Gras eine Spritze entdeckt. „Hey, kommt mal gucken!“, rief sie und wollte gerade ihre Hand nach der Spritze ausstrecken, da hielt Frau Wiegelmann sie zurück. „In solchen Spritzen steckt Rauschgift“, erklärte sie uns. „Die dürft ihr niemals anfassen.“

Rauschgift ist eine Droge, das weiß ich von Mama. Das spritzen sich manche Leute in den Arm und davon werden sie ganz verrückt. Es ist auch sehr gefährlich, weil man von Rauschgift süchtig werden kann, sagt Mama. Ich finde es eklig, sich Gift in den Arm zu spritzen und kann mir nicht vorstellen, wieso man nach so was süchtig wird.

Frau Wiegelmann fasste die Spritze ganz vorsichtig mit den Müllhandschuhen an und steckte sie in ihren Müllsack. Zum Glück lagen sonst keine Spritzen herum. Dafür aber jede Menge Bierdosen – und Sol fand eine leere Schnapsflasche.