Hinweis:

Folgende Beiträge sind z. T. leicht veränderte Abdrucke der Originalbeiträge:

kropiunigg, u. (2017): Klatschen mit einer Hand. Psychoneuroimmunologie jenseits der Basics. Psychologie in Österreich 12 (4), 217–241. schiffer, e. (2019): Gibt es (k)eine Salutogenese? Fragen an Aaron Antonovskys Konzeptiualisierung des Sense of Coherence. In: meier-magistretti, c., lindström, b., eriksson, m. (Hrsg.), Salutogenese kennen und verstehen,

S. 147–163. Bern: Hogrefe.

Teile des Aufsatzes von schröder Placebo und Nocebo sind den Beiträgen

schröder (2016) und schröder/graf (2018) entnommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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1. Auflage 2020

Projektleitung | Lektorat: Dr. Mathilde Fischer, Editionsservice

Umschlaggestaltung | Layout und Satz: Gesine Beran, Turin

Umschlagmotiv: © shutterstock | indrawijay

Herstellung und Verlag : BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt

isbn 978-3-75268-282-3

INHALT

VORWORT

WIR, DIE BEIDEN HERAUSGEBER DIESES BUCHES, entstammen zwei unterschiedlichen Generationen von Wissenschaftlern und Klinikern – ganz wie die meisten von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Während der ältere von uns beiden noch eine Zeit erlebt hat, in der die Verbindung zwischen Unbewusstem und Bewusstem, Subjektivem und Objektivem, Nicht-Messbarem und Messbarem, kurz: Unsichtbarem und Sichtbarem in der Medizin teils sehr lebendig praktiziert wurde – man denke an eine Reihe von tiefenpsychologisch ausgerichteten Lehrstühlen der Psychosomatischen Medizin, war dies bei der jüngeren von uns nicht mehr der Fall. Denn seit den 1990er Jahren entwickelt sich die akademische Psychosomatische Medizin immer mehr in eine Richtung, in der vor allem das Sichtbare und Objektivierbare zählt.

Nun gibt es aber in der aktuellen Forschungsliteratur durchaus Stimmen, die davon ausgehen, dass hinter dem Sichtbaren Kräfte stecken, die, wenn wir sie in unsere Forschungsüberlegungen einbeziehen, ja ihnen eine interpretative Signifikanz einräumen, Möglichkeiten für Prävention, Diagnostik und Behandlung von Krankheiten eröffnen, die der derzeitigen mechanistischreduktionistisch ausgerichteten Biomedizin entgegenwirken können. Diese Stimmen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Lebenswissenschaften, z. B. der Psychoneuroimmunologie (PNI) im engeren Sinne, aber auch der Naturheilkunde, der Psychoanalyse und der Musikwissenschaft, um nur einige zu nennen, sind im vorliegenden Buch vereint.

Die Kongressreihe »Psychoneuroimmunologie im Lauf des Lebens« wurde 2016 ins Leben gerufen und hat sich zum Ziel gesetzt, dem fortschreitenden Dualismus und Reduktionismus in der Medizin konstruktiv entgegenzuwirken. »Das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren« hieß das Motto der zweiten Veranstaltung dieser Kongressreihe, die 2018 in Innsbruck stattgefunden hat. Die in diesem Buch versammelten Beiträge sind allesamt aus den Vorträgen dieses Kongresses entstanden.

Wir möchten folgenden Personen, die direkt und indirekt, sichtbar und unsichtbar, zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben, ganz herzlich danken: Prof. Dr. Dr. KURT ZÄNKER, der 2014 den Anstoß zum Start der Kongressreihe »Psychoneuroimmunologie im Lauf des Lebens« gab. Dr. MATHILDE FISCHER, die die Idee zu diesem Buch hatte, uns Herausgebern mit ihrer großen Verlagserfahrung unter die Arme griff und als Lektorin hervorragende Arbeit leistete. Und schließlich GESINE BERAN, die mit graphisch-kreativem Geschick das vorliegende Buch in seinem Werden begleitete.

Innsbruck/Wien, im Oktober 2020
Christian Schubert, Magdalena Singer

WULF BERTRAM

VON DESCARTES
ÜBER KARL VALENTIN ZU
THURE VON UEXKÜLL

DER DUALISMUS IN DER MEDIZIN
UND DER VERSUCH
SEINER ÜBERWINDUNG

DIE MEDIZIN IST GESPALTEN in eine »Medizin für kranke Körper ohne Seelen« und eine »Medizin für leidende Seelen ohne Körper«, so THURE VON UEXKÜLL, der berühmte Psychosomatiker und Begründer der Integrierten Medizin. Doch was ist konkret damit gemeint und wie kam es überhaupt zu dieser Spaltung in unserer modernen westlichen Medizin?

Diese ist ja keineswegs zwangsläufig, es gibt durchaus auch andere über Jahrtausende pragmatisch bewährte, hoch differenzierte Krankheits- oder Gesundheitsmodelle. So kommen beispielsweise die Traditionelle Chinesische oder die Ayurvedische (d. h. »Wissenschaft vom Leben«) Medizin ohne einen solchen Dualismus aus.

DIE LANGE GESCHICHTE
EINER SPALTUNG

DIE SPALTUNG DER MEDIZIN IN ZWEI LAGER hat eine lange Geschichte. Sie beginnt nicht etwa bei DESCARTES, wie so oft behauptet wird, dennoch hat sie der französische Philosoph (1596–1650), der zeitweise auch als Soldat und sogar als Söldner des Herzogs MAXIMILIAN VON BAYERN im Dreißigjährigen Krieg diente und an der Eroberung Prags teilnahm, entscheidend geprägt.

DESCARTES, auch CARTESIUS genannt, griff in seinem Werk die platonische Trennung in Geist und Materie auf und definierte sie neu. In seinem Traktat De homine, welches 1662 posthum erschien, entwirft er das Modell des Menschen als Maschine, die aus einem physikalischen Körper und einer rationalen und unsterblichen Seele besteht. Diese rationale Seele, bzw. der Geist, war für DESCARTES das eigentlich Gewisse. Cogito, ergo sum – »… ich denke, also muss es mich wohl geben!«, war seine Schlussfolgerung. Alles andere, »das da draußen«, schien ihm nur über die Sinnesorgane erfassbar und daher anfällig für Täuschungen. Immerhin konnte man dieses »Äußere« mit mathematischen Methoden messen (DESCARTES nannte es aufgrund seiner Ausdehnung res extensa) und so in die Welt des Geistes »implementieren«. Das schien ihm gewissermaßen der einzige Schutz gegen Täuschungen, weil die Messmethoden der Welt des objektiven Geistes, der res cogitans, zugehörten.

Auch der Körper war für DESCARTES Teil der vom Geist streng getrennten Materie und folgte so allein den Gesetzen der Mechanik. Besondere Faszination übte auf DESCARTES die Feinmechanik aus. Er schrieb dazu: »Wir sehen Uhren, künstliche Brunnen, Mühlen und ähnliche Maschinen, die, obwohl nur von Menschenhand gemacht, doch fähig sind, sich von selbst auf verschiedene Weise zu bewegen (…). Ich sehe keinen Unterschied zwischen Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die allein die Natur zusammengesetzt hat (…). Für mich ist der menschliche Körper eine Maschine. In Gedanken vergleiche ich einen kranken Menschen und eine schlecht gemachte Uhr mit meiner Idee von einem gesunden Menschen und einer gut gemachten Uhr.« (DESCARTES 1996) – Es war in der Tat eine Art »Uhrmachermedizin«, die sich im Gefolge triumphaler technischer Fortschritte und naturwissenschaftlicher Methoden auch zunehmend durchsetzen sollte.

Die Mechanik NEWTONs, die auf der mathematischen Analyse der wahrnehmbaren Phänomene beruhte, führte in ihrer angewandten Form in den kommenden Jahrzehnten zu atemberaubenden Entwicklungen. Besonders Maschinen, die das Beobachten, Messen und Rechnen selbst verbesserten, somit wiederum den physikalischen Erkenntnisprozess befruchteten und die Prüfung von Hypothesen ermöglichten, halfen dabei, das Wissen über die Naturgesetze immens zu erweitern. So erfand noch zu Lebzeiten DESCARTES’ JOHANNES KEPLER das astronomische Fernrohr, der Tübinger Mathematiker WILHELM SCHIKHARD eine erste funktionierende Rechenmaschine – auch wenn die Erfindung später BLAISE PASCAL zugeschrieben wurde; SCHIKHARD hatte das Pech gehabt, dass seine zum größten Teil aus Holz bestehende Rechenmaschine bei einem Brand verloren ging.

Im Jahr 1670, 20 Jahre nach DESCARTES’ Tod, erfand LEEUWENHOEK das Mikroskop. In einer weiteren Erfindungswelle machte man sich die mit diesen Messinstrumenten entdeckten und präzisierten Gesetze der Natur zunehmend zunutze. Bereits in der Generation nach DESCARTES erfand der in Deutschland lebende Hugenotte DENIS PAPIN einen Topf, mit dem Wasserdampf in kinetische Energie umgewandelt werden konnte, so entstand schon 1688 eine erste Versuchsdampfmaschine. Die rasante physikalische Forschung dieser Jahrzehnte schaffte die Voraussetzungen für die technische Revolution, die wiederum eine industrielle Revolution auslöste.

Bahnbrechend waren zu jener Zeit auch Entdeckungen im Bereich der Medizin: 1628 – DESCARTES war 32 Jahre alt – entdeckte WILLIAM HARVEY den Blutkreislauf des Menschen. Etwa 50 Jahre später wurden mit Hilfe des LEEUWENHOEK’SCHEN Mikroskops die Spermatozoen gefunden.

Diese beiden Entdeckungen hatten zur Folge, dass ältere metaphysische Theorien über den Sitz und den Ursprung des Lebens durch mechanistische, experimentell überprüfbare Modelle ersetzt wurden. Es schien nur eine Frage der Zeit, wann die physiologischen Vorgänge so präzise entschlüsselt und die Mechaniken so kunstvoll verfeinert sein würden, dass die cartesianische Überlegung, der Mensch sei nichts anderes als ein hochkompliziertes Uhrwerk, durch die Konstruktion eines wandelnden Automaten verifiziert würde.

Es ist interessant, dass mit der Vorstellung des Maschinenmenschen offenbar gleichzeitig ein tiefes Unbehagen verbunden war, das u. a. in einer Reihe literarischer Variationen zu diesem Thema ihren Niederschlag fand (MARY SHELLEYs Frankenstein, E.T.A. HOFFMANNs Coppelia, der Golem des RABBI LÖW in seinen zahlreichen Variationen). Das erinnert ein wenig an die gegenwärtigen Horrorszenarien im Hinblick auf die künstliche Intelligenz, wo autonome Roboter die Macht über den Menschen übernehmen.

In dem Maße, wie die »Uhrmachermedizin« ihre Triumphe feierte, nahmen sich andere Disziplinen des Themas Seele an. Mit den Methoden der naturwissenschaftlichen Erkenntnis war die Psyche ja offenbar nicht dingfest zu machen. Die kritische Haltung der Aufklärung gegenüber allem Irrationalen, dem Aberglauben und jeglicher Metaphysik, ließ keinen Raum für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Psyche, die schließlich weder vermessen noch präpariert oder abgebildet werden konnte. Ab nun waren die Philosophie und Theologie (wieder) ersatzweise zuständig für die Beschäftigung mit der Seele.

DIE MEDIZIN DER ROMANTIK:
SUCHE NACH DER EINHEIT

DER WIDERSTAND GEGEN DIESE mechanistische Betrachtung des Menschen ließ nicht lange auf sich warten. Mit der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde er erstmals deutlich formuliert. Entwicklung findet für die Romantiker im Rahmen eines Widerstreits von Polaritäten statt. Dieses Prinzip sollte von der Urmaterie bis zu den höchsten Erscheinungen des Lebens gelten. Romantische Mediziner griffen in ihren therapeutischen Konzepten auf das Prinzip der antiken Diätetik zurück (griech. »Lehre von der Lebensweise«). In dieser Lehre ging es um die Harmonie von Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidung und Affekten. Zudem wurde als besonders wichtig die Persönlichkeit des Arztes herausgestellt und auch die Subjektivität des Patienten wurde ernst genommen. Die Arzt-Patienten-Beziehung spielte eine zentrale Rolle.

So betont der Arzt CARL EBERHARD SCHELLING, Bruder des (bekannteren) Naturphilosophen, dass der Patient die ihm vom Arzt vermittelte Kraft assimiliere, »… und zwar umso leichter, dass sie im freundschaftlichen Rapport zu ihm steht, und (der Patient) dadurch einen Zuwachs an Kraft erhält.« (Zit. nach V. ENGELHARDT 1993). Das entspricht in einer moderneren Formulierung einer Beschreibung der interpersonellen Wirkfaktoren in der Arzt-Patienten-Beziehung und erinnert bereits an BALINTs Begriff von der »Droge Arzt«.

Einer der bedeutendsten Mediziner jener Zeit war der Berliner Professor JOHANNES MÜLLER. Er hatte sich an der Universität Bonn habilitiert und ein Buch über »Die phantastischen Gesichtserscheinungen« veröffentlicht, in dem er das Gesetz von der spezifischen Energie der Sinnsubstanzen formulierte. MÜLLER siedelte zwischen den »objektiven« physikalischen Reizen, die man messen und berechnen kann, eine subjektive, dem Individuum eigene Interpretationsinstanz an. Ein Blitz ist also nicht ein Blitz, sondern das, was unsere Augen aus dem physikalischen Phänomen der elektromagnetischen Wellen zu machen in der Lage sind. So kann etwa ein starker mechanischer Reiz des Auges wie ein Schlag auf den Bulbus nichts anderes als den spezifischen Output des Organs hervorrufen, nämlich eine Lichtempfindung (das berühmte »Sternesehen«). Wir reagieren auf Naturereignisse entsprechend unseren eigenen physiologischen Möglichkeiten und interpretieren sie aufgrund tradierter Erfahrungen. Die beiden Elemente der cartesianischen Welt, das Äußere und das Innere, sind in der Theorie von MÜLLER untrennbar miteinander verbunden. Die schöne Gewissheit des physikalischen Weltbildes nach NEWTON gerät damit ins Wanken. Mit den naturwissenschaftlichen Modellen, wie sie damals verfügbar waren, kann die Annahme einer spezifischen Sinnesenergie nicht erklärt werden. Heute würden wir hier eben die Semiotik, die Zeichenlehre, ins Spiel bringen.

PHYSIKO–CHEMISCHE VERSCHWÖRER
UND IHRE NACHFOLGER

AUF DIE SPÄTROMANTISCHE, GANZHEITLICHE Naturphilosophie, die sich nicht weiter durchsetzen konnte, folgte bald wieder eine mechanistische Gegenbewegung, die erstaunlicherweise durch die Schüler MÜLLERs selbst initiiert wurde. Einer von ihnen, EMIL DU BOIS REYMOND, schrieb den als Leitspruch der Mechanisten berühmt gewordenen Satz: »BRÜCKE (ERNST WILHELM RITTER V. B., 1819–1892, Physiologe in Königsberg und Wien) und ich haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen, physikalisch chemischen.« (DU BOIS 1848)

Knapp 30 Jahre später heißt es dann in dem Lehrbuch Der Ärztliche Beruf eines gewissen ROBERT WILHELM VOLZ: »Es ist gleichgültig, wer am Bett steht, aber er muss verstehen zu untersuchen, zu erkennen. Er tritt vor ein Objekt, welches er ausforscht, ausklopft, aushorcht, ausspäht, und die rechts und links liegenden Familienverhältnisse ändern daran gar nichts: der Kranke wird Gegenstand.« (VOLZ 1870)

Die Verfechter einer solchen mechanistischen Sichtweise sollten für lange Zeit die Oberhand behalten. So eröffnet 1930 der Präsident der internistischen Fachgesellschaft FRANZ VOLHARD den traditionsreichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin mit folgenden Worten:

»Wenn wir die außerordentlichen Fortschritte der letzten 30 Jahre überblicken, so dürfen wir als das Wesentliche hervorheben, dass der Weg, auf dem sie gewonnen sind, der der wissenschaftlichen physiologischen Medizin gewesen ist. (…) Nicht das intuitive Erfassen der Situation, nicht der Künstlerarzt (…) haben das geleistet, sondern die induktive Methode der exakten naturwissenschaftlichen und biologischen Forschung. Auch nicht die uralte, zum (…) Gemeinplatz gewordene Einstellung, nicht die Krankheiten, sondern die Kranken zu behandeln (eine Polemik gegen LUDOLF KREHL, der 1907 die Leitung der Klinik für Innere Medizin in Heidelberg übernommen und der diesen »Gemeinplatz« formuliert hatte, Anm. d. A.), sondern im Gegenteil: Man kann es geradezu als Kriterium und höchste Leistung der rationalen Therapie bezeichnen, dass sie in einer Gruppe von Fällen ohne Rücksicht auf den individuellen Kranken, seine Persönlichkeit, seine seelische Verfassung, seine Konstitution mit der Krankheit fertig wird (…).

Das bitter gemeinte Wort von PAUL DUBOIS (PAUL DUBOIS war ein Schweizer Psychotherapeut und Neuropathologe des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Anm. d. A.), ›Zwischen Medizin und Tiermedizin besteht nur noch ein Unterschied bezüglich der Kundschaft‹, trifft heute (…) tatsächlich für eine ganze Reihe von Krankheiten zu, bei denen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis Heilung sozusagen garantiert werden kann, unabhängig von der Individualität der Kranken und der Persönlichkeit des Arztes. Das Ziel der Forschung kann nur sein, die Zahl dieser rationell angreifbaren Krankheitszustände zu vergrößern.« (VOLHARD 1982)

Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass eine solche mechanistische Medizin auch genau den Patienten hervorbringt, der sie dann mit entsprechenden Erwartungen in Anspruch nimmt. Dazu möchte ich einen Sketch des Komikers KARL VALENTIN anführen, der das wunderbar illustriert. Der von VALENTIN gespielte Patient kommt zum Arzt und klagt: »Mein Magen tut weh, die Leber ist geschwollen, die Füße wollen nicht so recht, das Kopfweh hört auch nicht mehr auf, und wenn ich von mir selbst reden darf: Ich fühle mich auch nicht wohl …«

Besser kann man das Unheil (dieses Wort hat in diesem Zusammenhang einen doppelten Sinn) nicht ausdrücken, das eine mechanistisch-dualistische Medizin anrichten kann: KARL VALENTINs Patient hat sich – hier natürlich in der satirischen Übertreibung – das offizielle Paradigma der gegenwärtigen dualistischen Medizin folgsam zu eigen gemacht und differenziert seine Beschwerden in eine Reklamation über isolierte Defekte einzelner Organe und sein davon scheinbar völlig unabhängiges psychisches Unbehagen. Ein solcher Patient wird in der Werkstatt, sprich Arztpraxis, eine Reparatur der Bauteile seiner beschädigten Maschine erwarten. Seine Lebensumstände, sein eigenes krankheitsförderndes oder auf der anderen Seite auch salutogenetisches Verhalten bleiben unbeachtet. Jede Therapeutin und jeder Therapeut, die bzw. der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen behandelt hat, die ganze Odysseen von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen hinter sich haben, weiß, welche Mühe es macht, wieder Vertrauen zu schaffen, um Symptome und Beschwerden sowie Lebensbedingungen und Eigenverantwortung des Patienten wieder miteinander in Beziehung zu setzen.

FREUD UND DIE ANDERE SEITE
DES DUALISMUS

DER SCHON ERWÄHNTE Biomechanist ERNST WILHELM VON BRÜCKE hatte einen Schüler, der ihn später an Prominenz weit übertreffen sollte: SIGMUND FREUD. Die Medizin, die FREUD begründen sollte, war allerdings der seines Lehrers diametral entgegengesetzt.

In den 1895 gemeinsam mit JOSEF BREUER veröffentlichten Studien zur Hysterie beschrieben die beiden Autoren Störungen, die ihrer Meinung nach nicht auf objektive physiko-chemische Veränderungen, sondern auf subjektive Phänomene wie verdrängte Erinnerungen und unterdrückte Emotionen zurückzuführen waren. Zwar versuchte FREUD selber noch in seiner Schrift Entwurf einer Psychologie, die er ebenfalls 1895 verfasste, seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen »rein« neurophysiologisch zu beschreiben und zu erklären; die von ihm gewählten Modelle spiegeln dabei den seinerzeit verfügbaren naturwissenschaftlichen Wissensstand wider.

Eine Skizze in dem erwähnten Aufsatz soll hemmende und bahnende Synapsen darstellen. Es zeugt von FREUDs Genie, dass er als einer der Ersten die Idee hatte, dass das Gehirn aus untereinander verknüpften Synapsen bestehe – was erst 50 Jahre später durch RAMÓN Y CAJAL bestätigt wurde, der dafür 1906 den Nobelpreis erhielt.

FREUDs Gedankengebäude faszinierte – denkbar, dass viele darin auch eine Reaktion auf die »unromantischen«Vorstellungen der Biomechanisten sahen –, rasch wuchs die Zahl seiner Anhänger, die in den folgenden Jahren eine Fülle von Theorien, Hypothesen und auch Spekulationen hervorbrachten. Die von FREUD gegründete Psychoanalyse entwickelte sich so von einer klinischnaturwissenschaftlichen zu einer hermeneutischen Methode, wohl schon einzig und allein, um hier Ordnung und Übersicht zu schaffen. An die Stelle von Empirie, kontrolliertem Experiment und wissenschaftlicher Transparenz traten nun Introspektion, Reflexion und Interpretation. Hochgradig spekulative, wenn auch faszinierend-genialische psychoanalytische Phantasien wie die von GEORG GRODDECK oder später von WILHELM REICH brachten der Psychoanalyse viel Beachtung, aber wenig wissenschaftlichen Respekt ein, führten sie mitunter gar an den Rand der Esoterik und trieben einzelne ihrer Adepten in eine sektiererisch anmutende Außenseiterposition.

Die Kluft zwischen der somatischen und der psychotherapeutischen Medizin wurde immer größer, ja nahezu unüberbrückbar. Daran änderten auch einige prominente psychosomatisch orientierten Hochschullehrer wie LUDOLF VON KREHL, RICHARD SIEBECK und VIKTOR VON WEIZSÄCKER wenig. Sie versuchten, psychische (WEIZSÄCKER auch psychoanalytische) Elemente in Diagnostik und Therapie zu integrieren. Der Mainstream beider Lager sprach keine gemeinsame Sprache mehr, begegnete sich im günstigsten Fall skeptisch, oft eher zynisch bis feindselig.

Eine »Medizin für Körper ohne Seelen« in Opposition zu einer Medizin für »Seelen ohne Körper« – das war das Ergebnis dieser Entwicklung, wie es schon THURE VON UEXKÜLL beschrieben hat.

KÖRPER UND PSYCHE
IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND

DIE VERTREIBUNG UND ERMORDUNG der jüdischen Psychoanalytiker und die Gleichschaltung ihrer verbliebenen »arischen« Kollegen im sogenannten »Göring-Institut« mit dessen Ausprägung einer »völkisch-ganzheitlichen« Heilslehre zerstörte schließlich vollends die psychotherapeutische Kultur in Deutschland und verhinderte über Jahre jede Weiterentwicklung. Davon blieb auch das Verhältnis zur somatischen Medizin nicht unberührt, die verbliebenen Vertreter wurden gegenüber der internationalen wissenschaftlichen Welt isoliert.

Vor allem in Amerika erfuhren Psychoanalyse und neuere psychotherapeutische Verfahren wie Gesprächs- und Verhaltenstherapie zwischenzeitlich eine lebhafte Entwicklung, die auch besonders die Psychiatrie prägte. Über Konsultations- und Liasondienste wuchs ihre Bedeutung auch für die anderen medizinischen Disziplinen. Hier entstand in den Nachkriegsjahren eine wissenschaftliche psychosomatische Medizin mit Forschungsaktivitäten, Vereinigungen, Fachzeitschriften und Professuren.

In Deutschland kam es erst nach dem Zusammenbruch des Naziregimes mit seiner bereits erwähnten »völkisch-ganzheitlichen« Heilslehre zu einem verspäteten Aufbau einer wissenschaftlichen psychosomatischen Medizin.

Die Psychiatrie der Nazizeit hatte auf genetische Ursachen psychischer Störungen und Behinderung gesetzt und so die Ermordung von Menschen mit abweichenden körperlichen und psychischen Merkmalen pseudowissenschaftlich unterstützt und dadurch mit verschuldet. So waren weite Teile der damaligen Psychiatrie dem herrschenden Biologismus gefolgt, um dem Rassenwahn des Nationalsozialismus ein wissenschaftliches Fundament zu verschaffen. Man versteifte sich deshalb auf das akribische Messen von Schädelproportionen und die pathologische Auswertung von Gehirnpräparaten, die oft auf kriminelle Weise gewonnen worden waren.

Eine Psychiatrie in dieser Tradition hatte auch den Krieg überdauert. Zur Psychotherapie und der im Aufbau begriffenen, aus der Inneren Medizin kommenden Psychosomatik gab es hier keine Verbindung. Viele Kollegen, die in dieser Zeit eine Weiterbildung in Psychotherapie absolvierten, mussten es vor ihren Chefs in der Psychiatrie geheim halten, andernfalls hätten sie mit ihrer Entlassung rechnen müssen.

Die Psychotherapie als solche fand erst 1992 mit der Schaffung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie systematisch Eingang in die psychiatrische Ausbildung und Berufspraxis. Dennoch haftete dem Berufsstand des Psychiaters noch lange Zeit das Negativimage des »Irrenarztes« an, mit der entsprechenden Schwelle für Patienten, die an sich selbst eine psychische Komponente ihrer Erkrankung wahrnahmen oder deren Hausärzte eine solche vermuteten. ADOLF MEYER, einer der Pioniere der Psychosomatik im Nachkriegsdeutschland und Ordinarius für Psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), skizziert als Folge, »… dass sich entsprechende Kranke unter Berufung auf ihre Erschöpfung, ihr Herzjagen, ihre Schweißausbrüche etc. vorwiegend an Internisten um Hilfe wandten. Es entstand ein neues Verlegenheitskrankheitsbild, die so genannte ›vegetative Dystonie‹. Wenn es selbstkritischen und weiterdenkenden Internisten gelang, solche Patienten oft gegen deren erheblichen Widerstand zu einem Besuch beim Psychiater zu motivieren, kamen die wie ein Bumerang und dem Vermerk ›Kein Anhalt für Psychose‹ und der Empfehlung eines Sedativums zurück.« (MEYER 1994)

Aus dieser unbefriedigenden Situation entstanden an einigen Universitätskliniken auf Initiative führender Internisten, die selber psychotherapeutisch tätig waren, psychosomatische Fachabteilungen oder Kliniken. Zu den Pionieren gehörten u. a. LUDWIG HEILMEYER, FRIEDRICH CURTIUS und THURE VON UEXKÜLL.

Die Psychosomatik in Deutschland entwickelte sich in der Nachkriegszeit also aus der Inneren Medizin – und nicht aus der Psychiatrie. Damit war prinzipiell zunächst ein integrierter Behandlungsansatz verbunden, d. h. eine enge Verflechtung zwischen somatischer und »sprechender« Medizin. Dies führte allerdings dazu, dass unter dem Deckmantel der Inneren Medizin auch psychische Störungen behandelt wurden, für die die damalige Psychiatrie, die überwiegend mit Medikamenten, vielfach auch noch mit Elektroschocks operierte, kein geeignetes (und sozial akzeptiertes) Behandlungsangebot anbieten konnte.

Am 28. Oktober 1970 löste die neue Approbationsordnung (ÄAppO) für Ärzte die bis dahin herrschende »Bestallungsordnung« ab. Eine entscheidende Neuerung war die Aufnahme psychosozialer Fächer wie medizinische Psychologie, medizinische Soziologie, Psychosomatik und Psychotherapie in die Medizinausbildung. Wiederum war es THURE VON UEXKÜLL, von dem als Mitglied der sogenannten »Kleinen Kommission« zur Vorbereitung der ÄAppO die entscheidenden Impulse für diese Neuerung ausgingen. Die Studentenrevolte der späten 60er Jahre mit ihrer Kritik an den politischen Verhältnissen im Wirtschaftswunderdeutschland, die »Entdeckung« des gesellschaftswissenschaftlichen Aspekts der Psychoanalyse und die sozialpsychiatrische Bewegung, die Alternativen zur medikamentösen und zur »Wegsperr-Praxis« der Psychiatrie forderte, gehörten zu den Wegbereitern der Reform.

Nach 1970 musste an allen medizinischen Universitäten auch Psychosomatik angeboten werden und 1976 war dann die Zeit reif für ein erstes großes Lehrbuch der Psychosomatik, das »Schwerbuch«, wie es sein Erstherausgeber THURE VON UEXKÜLL immer augenzwinkernd genannt hat.

An den meisten Universitätskliniken wurden psychosomatische Abteilungen eingerichtet, die neben ambulanter Therapie auch stationäre Aufnahmen möglich machten. Die Leitung dieser Abteilungen lag, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den Händen von ärztlichen Psychoanalytikern. Psychiater kamen wegen ihrer verbreiteten Abneigung gegen Psychotherapie dafür nicht in Frage. Psychologen, die oft wesentlich bessere Voraussetzung für Theorie und Praxis von Psychotherapie mitbrachten, konnten als Nichtärzte nicht berufen, sondern höchstens als delegierte Assistenten eingesetzt werden. Psychoanalytiker allerdings hatten für die breite Versorgung von psychisch gestörten Menschen noch nie eine besondere Rolle gespielt: Ihre Stärken liegen in der intensiven Arbeit in der psychotherapeutischen Dyade mit bis zu vier wöchentlichen Sitzungen mit einem Patienten, wodurch die Kapazitäten eines Behandlers zwangsläufig begrenzt sind. Ihr großer Vorzug, unbewusste Prozesse in der unmittelbaren Interaktion zwischen Patient und Therapeut bzw. therapeutischem Team deutlich und nutzbar zu machen, verlangt zwangsläufig einen hohen Aufwand an Selbstreflexion und Supervision.

In der Kooperation zwischen somatischen Medizinern und Psychosomatikern (in der Regel Psychoanalytiker) entstand daraus allerdings häufig das Ressentiment, die »Psychos« beschäftigten sich in erster Linie mit sich selbst und ihrem Team, tränken ständig miteinander Kaffee und wären erst in zweiter Hinsicht mit den ihnen anvertrauten Patienten beschäftigt. Wenn einmal einer von ihnen dringend für ein Konsil oder eine Krisenintervention gebraucht würde, sei er garantiert in einer Teambesprechung, in einem nicht störbaren Einzelgespräch oder in der Supervision. Also auch hier keine glückliche Paarbeziehung zwischen Psychotherapeuten und »Körperärzten« …

Auf der anderen Seite führte die introvertierte, selbstkritische Attitüde der psychosomatischen Szene mit ihrer hochgradigen Skepsis gegenüber jeglichem »Agieren« dazu, dass in den praktischen, organisatorischen und auch machtpolitischen Auseinandersetzungen an den medizinischen Universitäten die Somatiker in der Regel die Oberhand behielten. Psychosomatiker und Psychotherapeuten waren es gewohnt, sich eher abstinent zu verhalten, kluge Bemerkungen und Deutungen zu machen, bei Abstimmungen zu unterliegen und sich dann hinter einem charmanten oder melancholischen Rückzug zu verstecken, wie der Psychoanalytiker WALTER PONTZEN 1994 selbstkritisch schrieb (PONTZEN 1994).

In einem solchen Klima konnte es wohl kaum zu einer konstruktiven Zusammenarbeit kommen, selbst wenn von allen Seiten guter Wille und Aufgeschlossenheit vorherrschen. So sind auch die Beispiele vom Scheitern psychosomatischer/somatopsychischer Projekte zahlreich, und einige Institute konnten nur dank des Charismas ihrer Gründer und Leiter so lange überleben, bis diese emeritiert oder pensioniert wurden. Allmählich verbreitete sich so die Auffassung, eine vernünftige, erfolgreiche, kompetente und atmosphärisch befriedigende Integration von Somatik und Psychotherapie könne es weder intrapersonell (also in der Person ein- und desselben Arztes) noch interpersonell (also in der Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in einem psychosomatischen Team) geben.

Es klaffte eine große Lücke zwischen dem, was die Psychiatrie an Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen leisten konnte, die eben nicht an einer Psychose erkrankt waren, und den zwar therapeutisch kompetenten, aber versorgungstechnisch begrenzten Ressourcen der psychoanalytischen Institute und niedergelassenen Psychoanalytiker.

Vor diesem Hintergrund entstand nach und nach das Konzept, einen eigenen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zu etablieren – was allerdings im Rahmen der Fachgesellschaften und vor allem im Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin, der internistisch dominierten Fraktion der Vereinigungen, heftig diskutiert wurde. THURE VON UEXKÜLL war ein engagierter Gegner der Einführung dieses Facharztes. Sein Anspruch ging weiter. Sein Ziel war es ja stets gewesen, die somatische und psychotherapeutische Medizin so kompetent und interaktiv wie möglich miteinander zu verschränken. Deshalb war seine Sorge, dass die dualistische Medizin durch einen eigenen Facharzt eher noch zementiert würde, denn dann würde die Psychosomatik, so seine Meinung, nur additiv, akzessorisch und eben nicht integrativ betrieben werden.

1988 erschien die Theorie der Humanmedizin, ein Grundlagenwerk von THURE VON UEXKÜLL und WOLFGANG WESIACK. Darin legten die beiden Autoren die erkenntnistheoretischen und philosophischen Fundamente für eine Heilkunst, die dem Körper und der Seele die gleiche Aufmerksamkeit schenkt und die die optimale Passung im System Patient/Arzt/Umwelt sucht. An diesem Anspruch sollten sich sowohl die individuelle ärztliche Praxis als auch medizinische und gesundheitspolitische Entwicklungen messen lassen müssen. Die Theorie der Humanmedizin war die einer Metadisziplin, aus der Forschungs- und Ausbildungsansätze generiert und beurteilt werden sollten.

Um den Anspruch solch einer integrierten psychosomatischen Medizin zu demonstrieren, hatte UEXKÜLL bereits 1981 ein zunächst wenig beachtetes Buch mit dem Titel Integrierte psychosomatische Medizin herausgegeben. Dessen Ziel war es, wie UEXKÜLL im Vorwort schrieb, » … einer breiten Öffentlichkeit darzustellen, dass in unserem dualistischen, in immer mehr und immer engere Spezialdisziplinen aufgeteilten Gesundheitssystem Einrichtungen existieren und funktionieren, die es nach dem Urteil vieler Fachleute sowohl aus dem Lager der somatischen Mediziner wie dem der Psychotherapeuten angeblich nicht geben kann: Einrichtungen für eine medizinische Betreuung, welche bei hohem Anspruch an das Niveau der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen die organischen und die psychosozialen Probleme der Kranken gleich ernst nehmen.« (UEXKÜLL 1981)

Aus diesem zunächst dünnen Bändchen entstanden dann genau zehn Jahre später in 2. und 3. Auflage zwei stattliche Bücher, in denen über 20 real existierende Kliniken, Abteilungen und Praxen vorgestellt wurden, die auf unterschiedlichen Stufen eines angenommenen Integrationsgrades Modelle Integrierter Medizin – in verschiedenen Fachrichtungen wie Hausarztpraxis, Gynäkologie, Urologie, Onkologie, Dermatologie etc. – bereits verwirklichten.

Mit seinen Bedenken gegen einen neuen Facharzt für Psychosomatische Medizin konnte THURE VON UEXKÜLL in den Fachgesellschaften allerdings keine Mehrheit finden. Der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wurde schließlich 2003 eingeführt und ersetzte den bis dahin nach Musterweiterbildungsordnung erwerbbaren Arzt für Psychotherapie. Integrierte Medizin wurde also nicht als idealer Regelfall der medizinischen Versorgung etabliert, sondern sie blieb und bleibt mehr ein Ideal und ein Leitmotiv einer ärztlichen Haltung, die über die berufspolitischen Zuständigkeiten und Belange deutlich hinausgeht.

Bei den wiederholten Treffen der Autorinnen und Autoren zur Vorbereitung des Buches Integrierte Psychosomatische Medizin war das Bedürfnis, sich mitzuteilen und Erfahrungen auszutauschen, entsprechend groß. Viele von ihnen arbeiteten als »Einzelkämpfer« in Praxen, wo sie sowohl somatisch als auch psychotherapeutisch behandelten, andere hatten mit den Widerständen ihrer Träger und Klinikleitungen zu kämpfen, denn ihre Art der Behandlung unterschied sich deutlich von der üblichen medizinischen und institutionellen Praxis. Deshalb zeichnete sich der Wunsch ab, die Diskussion fortzusetzen, den Informationsaustausch untereinander zu verstärken und nach weiteren, ebenfalls im Verborgenen arbeitenden Gleichgesinnten zu suchen. Solange die »Integrierten« vereinzelt agierten, gab es auch keinerlei Möglichkeit, gesundheitspolitisch aktiv zu werden und auf die unbefriedigenden Verhältnisse Einfluss zu nehmen. Der Wunsch nach einer kontinuierlichen Zusammenarbeit in einer offiziellen Vereinigung wurde immer deutlicher.

Im Sommer 1992 gründete THURE VON UEXKÜLL dann gemeinsam mit den Autoren seines Buches Integrierte Psychosomatische Medizin und einigen weiteren Mitstreitern die Akademie für Integrierte Medizin (AIM). Bei der Namensgebung dieser Organisation wurde bewusst auf das Attribut »psychosomatisch« verzichtet. Es war und ist nach wie vor das Ziel der AIM, die vergessene oder ganz verlorengegangene psychosoziale Dimension in die traditionellen Fachgebiete der Medizin zurückzubringen. Damit ist eine solche »integrierte Medizin« immer auch psychosomatisch, und die Disziplin Psychosomatik hat aus dieser Warte die Aufgabe, sich selbst zunehmend überflüssig zu machen.

Das Ziel der AIM wird in ihrer Satzung folgendermaßen beschrieben: »Zweck der Akademie ist die Koordination und Förderung von Initiativen, Therapiemodellen, Ausbildungs-und Forschungsaktivitäten, die die Integration psychotherapeutisch und somatisch orientierter Behandlungsansätze darstellen und auf diese Weise geeignet sind, den gegenwärtigen vorherrschenden biomechanisch/psychologischen Dualismus in der medizinischen Versorgung überwinden zu helfen.« (AIM 1996)

Das Konzeptpapier als Ergänzung dieser Satzung präzisiert die Defizite der dualistischen Medizin: »Das naturwissenschaftlich orientierte Menschenbild ist als Fundament der Ausbildung zum Arzt unzureichend: Es ist außerstande, ein Verständnis für die zahlreichen körperlich, psychisch und sozial bedingten Störungen und ihre Wechselwirkungen zu vermitteln. Damit fehlt die Voraussetzung für deren adäquate Therapie.

Dieses Menschenbild ignoriert nicht nur die persönlichen Faktoren des Kranken, sondern auch jenes in der Allgemeinmedizin und der Praxis des Facharztes ›bei weitem am häufigsten verwendete Medikament‹: den Arzt selbst.

Solange akut Kranke mit definierbaren Störungen im körperlichen Bereich, die durch kausal ansetzende Therapien geheilt werden können, das Hauptkontingent der ärztlichen Klientel bildeten, war es möglich, diese Defizite zu übersehen. Bei den heute weitaus überwiegenden chronisch Kranken liegen die Verhältnisse anders. Hier muss der Arzt die Wechselwirkungen körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren in Diagnostik und Therapie in Rechnung stellen können. Darüber hinaus muss er in der Lage sein, seine eigene Rolle in der Beziehung zum Patienten kritisch zu reflektieren.« (AIM 1996)

2004 starb THURE VON UEXKÜLL im Alter von 96 Jahren. Vielfach war die Vermutung geäußert worden, dass ihn die von ihm initiierte und gegründete Akademie nicht lange überleben würde, da sein Charisma, sein einzigartiges Wissen und sein vorbildhaftes Engagement für eine humane Medizin das entscheidende Bindeglied für die Vereinigung seiner Schüler und Mitstreiter seien. Diese Befürchtung erwies sich als vollkommen unbegründet, die AIM lebt und gedeiht weiterhin. Ganz offensichtlich war UEXKÜLLs intellektuelles und persönliches Vermächtnis so wirksam, dass die Akademie nicht nur überlebte, sondern zunehmend auch neue Mitglieder gewann. Einige unter ihnen gründeten unterdessen selber eigene Initiativen, die sowohl in der psychosomatischen Versorgung und Forschung als auch in der Gesundheits- und Ausbildungspolitik an Einfluss gewannen.

Regelmäßig organisiert die AIM, die 2006 gemäß Vorstandsbeschluss in Thure-von-Uexküll Akademie für Integrierte Medizin umbenannt wurde, zwei verschiedene Formate von Austausch- und Fortbildungsaktivitäten: zum einen die großen Jahrestagungen, zu denen Referenten aus den unterschiedlichsten Bereichen von Geistes-und Naturwissenschaften eingeladen werden, zum anderen die sogenannten Modellwerkstätten. Bei Letzteren werden in einem kleineren Kreis theoretische Themen diskutiert und erarbeitet und – nach dem von THURE VON UEXKÜLL begründeten Verfahren der reflektierten Kasuistik – konkrete Fallbeispiele besprochen. Die Mitgliederzahl der AIM bewegt sich ziemlich konstant knapp unterhalb einer Zahl von 200. Gemessen an den Mitgliedern anderer psychotherapeutischer, psychosomatischer, geschweige denn somatischer Fachgesellschaften ist das eine eher kleine Zahl, aber der Einfluss der Aktivitäten der AIM ist nicht zu unterschätzen. Fast regelmäßig wird über die Jahrestagung z. B. im Wissenschaftsteil der Süddeutschen Zeitung berichtet, über Tageszeitungen, Fernseh- und Radio-Interviews gelangen die Gedanken und Forderungen der Integrierten Medizin in die Öffentlichkeit, wo sie oft auf ein beträchtliches Echo stoßen. Das Bedürfnis nach einer Medizin, die sich dem ganzen Menschen, seiner Seele und seinem Körper widmet, ist ganz offensichtlich ungeheuer groß. Dass eine solche Medizin in der Praxis noch eher selten zu finden ist, wird stets nach Veranstaltungen der AIM oder in Publikationen über die Akademie deutlich. Immer wieder melden sich dann Patientinnen und Patienten mit der Frage an die Referentinnen und Referenten, wo man denn eine solche medizinische Behandlung erfahren können, wie sie die AIM vertritt.

Welche Kreise die AIM ziehen kann, soll stellvertretend hier nur an zwei Beispielen illustriert werden. Eines davon ist Prof. CHRISTIAN SCHUBERT – der auch AIM-Vorstandsmitglied ist – mit seiner Tagung für Psychoneuroimmunologie. Sein wissenschaftlicher Ansatz der »integrativen Einzelfallstudie« (z. B. SCHUBERT et al. 2012) ist ja eigentlich der einer Integrierten Medizin, und als ich zum ersten Mal einen Vortrag von ihm hörte, war mir klar, dass wir jemanden wie ihn in der Akademie brauchten. Es war insofern auch gar nicht schwer, ihn zu überzeugen, in die Akademie einzutreten. Seine Argumente, weshalb es sich bei der Psychoneuroimmunologie eigentlich um »angewandte Integrierte Medizin« handelt, formuliert er so: »Die PNI kann als konsequente empirische Realisierung des biopsychosozialen Modells gesehen werden, wenn man die verschiedenen systemtheoretischen Basisannahmen der PNI betrachtet: die Existenz eines ›Immunoneuroendokrinen Netzwerks‹, gewissermaßen eine ›gemeinsame biochemische Sprache‹, sowie die Bedeutung des ›Sickness Behavior‹ für den Verlauf von Krankheiten.« (SCHUBERT, mündliche Mitteilung)

Das andere Beispiel: 1994 meldete sich bei THURE VON UEXKÜLL die frisch approbierte junge Ärztin JANA JÜNGER, weil sie seine Bücher gelesen und Interesse an seinem Ansatz hatte. UEXKÜLL selber war immer aufgeschlossen für die Ansichten und Projekte junger, neugieriger und kluger potentieller Mitstreiterinnen und Mitstreiter, und viele von ihnen wollten den Nestor der Psychosomatischen Medizin natürlich auch gerne persönlich kennenlernen. Er lud diese junge Kollegin daher zu den ersten Sitzungen der »Urzelle« der AIM ein, und sie zeigte sich so interessiert und engagiert, dass sie nach der Gründung der AIM bald in den Vorstand gewählt wurde. Frustriert von der medizinischen Didaktik in ihrer internistischen Aus- und Weiterbildung und vor allem vom Defizit der »sprechenden Medizin« auch während des klinischen Alltags, begann JANA JÜNGER während ihrer Weiterbildung an der Universitätsklinik für Innere Medizin in Heidelberg, in den Lehrveranstaltungen der Klinik Arbeitsgruppen für die Ausbildung in ärztlicher Kommunikation zu organisieren – unter anderem mit Hilfe von Schauspieler-Patienten. Sie begann sich zusätzlich in der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) zu engagieren, wurde im Laufe ihrer Berufslaufbahn zunächst Leiterin des »Kompetenzzentrums für Prüfungen in der Medizin in Baden-Württemberg« und erhielt 2011 den Arslegendi-Fakultätenpreis »… für exzellente Lehre in der Medizin«.

Geprägt von der Person und Lehre THURE VON UEXKÜLLs war es ihr ein besonderes Anliegen, die Integrierte Medizin und die Verbesserung der Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung zu verankern. Sie war maßgeblich an der Entwicklung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) beteiligt, in dem die Ärztliche Kommunikation eine zentrale Rolle spielt.

Seit 2016 ist sie Direktorin des Deutschen Instituts für Medizinische und Pharmakologische Prüfungsfragen, das verantwortlich ist für den verbindlichen Gegenstandskatalog in der deutschen Mediziner- und Medizinerinnenausbildung. In der neuen Approbationsordnung ist ärztliche Kommunikation nun ein obligatorisches Prüfungsfach, das mit einem mündlichen Examen abgeschlossen werden muss. Im Klartext bedeutet das, dass die Gedanken der Integrierten Medizin und die Forderungen von THURE VON UEXKÜLL offiziell Eingang in die medizinische Lehre gefunden haben. Damit ist sicherlich ein Meilenstein auf dem Weg zur Überwindung des Dualismus in der Medizin gesetzt worden.

Bis dies alles in die allgemeine ärztliche Praxis und die medizinische Versorgung durchdringt, ist allerdings noch sehr viel zu tun – der Auftrag der Akademie für Integrierte Medizin ist noch lange nicht erfüllt.

STEFAN KNAPPE

DEN KLANG
DES PRESSLUFTHAMMERS
GENIESSEN

MUSIK UND SOUND
ALS ERFAHRUNGSDIMENSIONEN
DES UNBEWUSSTEN

DER FOLGENDE BEITRAG GLIEDERT SICH in 3 Teile: Es geht erstens um die Grundlagen der Verbindung von Musik und Psychoanalyse, zweitens um Geräuschmusik, die diese Verbindung exemplarisch darstellt, und drittens um die Behandlung der Frage, was sinnliches Hören für unser Bewusstsein, generell auch für unsere Kreativität und für Kunst bedeutet.

MUSIK AUS PSYCHOANALYTISCHER SICHT

ZUNÄCHST MÖCHTE ICH MIT EINIGEN ganz allgemeinen, einführenden Bemerkungen zu Musik beginnen. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der überhaupt noch nie Musik gehört hat. Im Gegenteil, wir alle hören Musik – und wir sind davon oft in irgendeiner Weise emotional berührt. Musik ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, man nimmt an, dass es, seit es menschliche Kultur gibt, auch Musik gibt. Dies belegen u. a. die Entstehungsmythen von Musik, die es in sämtlichen Kulturen zu geben scheint. Man kann daher Musik als ein universelles Phänomen bezeichnen. Es gibt Vermutungen, dass Musik schon als Ausdrucksform vorhanden war, bevor es überhaupt Sprache gab (NITZSCHKE 1984; PARNCUTT 1997; TENBRINK 2000; BETHGE 2003).

Welche Wirkung hat Musik auf uns? Woher rührt ihre ungeheure emotionale Macht? Kann man Musik »erklären«? Diese und viele weitere Fragen dieser Art stellen sich unweigerlich, wenn wir dem faszinierenden Phänomen Musik auf den Grund gehen wollen, doch mit der Ratio ist Musik nicht wirklich fassbar, auf gewisse Weise erscheint sie uns als Mysterium.

Musik und Psyche