Auf unserer Welt geschieht tagtäglich Unfassbares.
Auf unserer Welt geschieht immer wieder Unfassbares. Kriege, Terroranschläge, Amokläufe und Rachetaten versetzen uns immer wieder in Angst und Schrecken. Diese Ereignisse machen uns schmerzlich bewusst, dass Menschen dazu in der Lage sind, anderen Menschen Furchtbares anzutun. Es wird der Eindruck vermittelt, dass wir uns eigentlich fast nirgends wirklich sicher fühlen können. Aber auch schreckliche Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überflutungen und Hurrikans bringen immer wieder für Tausende von Menschen tragische Folgen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht durch die Tageszeitungen und die TV-Nachrichten über Schreckensereignisse auf der ganzen Welt in Kenntnis gesetzt werden.
Im Gegensatz zu Traumatisierungen, die viele Menschen gleichzeitig betreffen, erfahren wir von Einzelschicksalen häufig nichts.
Manchmal betreffen diese furchtbaren Ereignisse viele Menschen, manchmal sind es Einzelne, die betroffen sind. Während wir von den Katastrophen, die viele Menschen betreffen, meistens etwas erfahren, bleiben die Einzelschicksale oft unbekannt. Kindesmissbrauch und Vergewaltigungen, Körperverletzungen und seelischer Terror in Partnerschaften und Familien – das sind traumatisierende Ereignisse, von denen wir nur selten erfahren. Schuld, Scham und Einstellungen wie »es kann nicht sein, was nicht sein darf« decken häufig den Schleier des Schweigens über diese privaten Katastrophen.
Die Wahrscheinlichkeit, Unfassbares erleben zu müssen, ist hoch.
Die meisten Menschen werden mindestens einmal in ihrem Leben mit einem traumatischen Erlebnis konfrontiert. Dies muss nicht heißen, dass wir ständig Gefahr laufen, Opfer eines Terroranschlags zu werden oder einer Geiselnahme anheim zu fallen. Auch ein schwerer Verkehrsunfall, Erlebnisse bei der Ausübung bestimmter Berufe, wie im Rettungsdienst oder bei der Feuerwehr, oder das knappe Entkommen aus einer lebensbedrohlichen Situation – alles dies sind traumatische Ereignisse. Nach einem solchen Erlebnis scheint nichts mehr so, wie es vorher war.
Nicht jeder wird allein damit fertig, wenn das Unfassbare geschehen ist.
Glücklicherweise sind wir Menschen zumeist dazu fähig, unser Leben auch nach harten Schlägen wieder aufzubauen. Manchmal gehen wir sogar gestärkt aus einem traumatischen Ereignis hervor und können eine neue positive Sicht der Welt entwickeln. Doch: Das gelingt nicht allen Menschen. Einige drohen an traumatischen Erfahrungen zu zerbrechen.
Manchmal nehmen wir seelische Verletzungen auf die leichte Schulter oder wir schämen uns dafür, nicht stark genug zu sein.
Manche Menschen nehmen die psychischen Folgen eines Traumas auch zu leicht. Gebrochene Knochen werden dem Fachmann wie selbstverständlich gezeigt. Bei physischen Verletzungen wird medizinische Hilfe in Anspruch genommen, ohne lange darüber nachzudenken. Die von außen nicht sichtbaren seelischen Wunden hingegen werden oftmals verharmlost – sich selbst und anderen gegenüber. Manche Menschen schämen sich auch dafür, nicht stark genug zu sein, und das Geschehene nicht fassen und meistern zu können.
Wir suchen oft erst dann Hilfe, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Oft suchen Menschen, denen Unfassbares widerfahren ist, erst dann Hilfe, wenn ihre individuellen Bewältigungsstrategien endgültig versagen. Erst wenn Mediziner oder Gutachter dies für notwendig erachten, oder Angehörige darauf drängen, dass nun endlich etwas passieren muss, wird gehandelt. Kurz: Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, wird fachliche Hilfe in Anspruch genommen. Dann aber sind die Symptome oft schon chronisch.
Schnelle Hilfe erspart einen längeren Leidensweg.
Deshalb gilt: Je früher psychotherapeutische Hilfe nach einem traumatischen Vorfall in Anspruch genommen wird, wenn dies notwendig erscheint, desto schneller kann eine Heilung bewirkt werden. Dadurch wird die Zeit des Leidens der Betroffenen, ihrer Angehörigen und ihres sozialen Umfeldes verkürzt.
Traumatisierte Menschen befürchten häufig, sie könnten ver-rückt werden.
Traumatisierte Menschen verstehen sich häufig selbst nicht mehr und vermuten, dass die Symptome, unter denen sie leiden, ein Anzeichen dafür sind, dass sie ver-rückt werden. Da Ver-rückt-Sein mit der Angst vor Stigmatisierung verbunden ist, vermeiden Traumatisierte es daher häufig, mit Angehörigen oder anderen Menschen ihres Vertrauens darüber zu sprechen.
Schuld- und Schamgefühle erschweren es, mit anderen zu sprechen.
Sie trauen sich nicht, anderen zu erzählen, was ihnen passiert ist und wie es ihnen mit ihrem schrecklichen Erlebnis geht. Schuld- und Schamgefühle tragen ihren Teil dazu bei, den Leidtragenden im schlimmsten Fall in die Isolation zu treiben.
Tatsächlich verhalten sich Menschen, denen Unfassbares widerfahren ist, oftmals merkwürdig.
Menschen aus dem sozialen Umfeld von Traumatisierten beobachten an diesen häufig merk-würdige Verhaltensweisen. Aber: Wie damit umgehen, dass sich ein Mensch plötzlich so anders verhält? Was tun, wenn er sich vielleicht von uns zurückzieht, häufig aggressiv reagiert oder andere ungewohnte Verhaltensweisen an den Tag legt, ohne dass ein offensichtlicher Grund dafür vorliegt?
In den Fällen, in denen wir gar nicht wissen, dass etwas Unfassbares im Leben des Anderen geschehen ist, beziehen wir das veränderte Verhalten möglicherweise auf uns selbst und ziehen uns ebenfalls zurück. Und in den Fällen, in denen wir wissen, dass etwas Schreckliches vorgefallen ist, wissen wir nicht, wie wir uns verhalten sollen. Im schlimmsten Falle vermuten wir, der Traumatisierte könnte ver-rückt werden.
Tabus erschweren den Umgang mit dem Unfassbaren.
Zusätzlich erschweren Berührungsängste mit einer Tabuzone unser Verhalten: Wie umgehen mit dem Leid des Anderen (das uns möglicherweise auch noch an eigenes erinnert)? Wie umgehen mit möglichen Schuld- und Schamgefühlen?
Direkt oder indirekt leiden auch die Menschen im Umfeld von Betroffenen.
Dieser Ratgeber richtet sich sowohl an Betroffene wie an deren Angehörige, an Freunde und Bekannte, an Arbeitskollegen, Vorgesetzte und Untergebene und an alle Menschen, die mit Menschen zu tun haben. Er richtet sich an alle, die besser verstehen wollen, was traumatisierende Erlebnisse in der Welt der Betroffenen auslösen. Er ist aber auch an diejenigen adressiert, die mit-leiden. Denn: Direkt oder indirekt – betroffen sind wir bei der hohen Wahrscheinlichkeit, mit der traumatische Ereignisse uns selbst oder andere ereilen können, alle.
Reaktionen, die auf traumatische Ereignisse folgen können, werden in diesem Buch dargestellt und erklärt.
Dieser Ratgeber erklärt, welche Reaktionen nach traumatischen Ereignissen auftreten können. Er soll helfen, diese Reaktionen bei sich selbst, aber auch bei anderen erkennen zu können. Während bestimmte Verhaltens- und Erlebnisweisen unmittelbar nach einem unfassbaren Erlebnis zunächst normal sind, gilt das nicht mehr, wenn diese auch Wochen, Monate oder Jahre später noch bestehen. Daher wird dargelegt, welche Reaktionen zu welchem Zeitpunkt normal und hilfreich sind und wozu sie dienen. Es wird aber auch gezeigt, wie die eigenen Selbstheilungskräfte unterstützt werden können und wann Hilfe in Anspruch genommen werden sollte.
Die Nutzung der Selbstheilungskräfte ist wichtig.
Da in diesem Buch besonderes Augenmerk auf die Selbstheilungskräfte des Menschen gelegt wird, wird dargestellt, was dies für Kräfte sind und wie sie mobilisiert und genutzt werden können. Den Menschen, denen Unfassbares widerfahren ist, werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie sie selbst dazu beitragen können, seelische Wunden heilen zu lassen.
Traumatisierungen lösen oft auch im sozialen Umfeld merkwürdige Reaktionen aus.
Aber auch für Angehörige, Freunde, Kollegen – kurz für alle Menschen, die mit Betroffenen umgehen, ist dieses Buch als Hilfestellung gedacht, um besser verstehen zu können, was durch eine traumatische Erfahrung alles ausgelöst werden kann und wie sie die Betroffenen unterstützen können. Manchmal besteht diese Hilfe zunächst darin, die eigenen Reaktionen besser zu verstehen. Denn traumatische Erfahrungen lösen nicht nur Gefühle und Reaktionen beim Traumatisierten aus, sondern natürlich auch bei denjenigen, die mit ihm umgehen. Und so wie ein Mensch, der einer unfassbaren Erfahrung ausgesetzt war, sich selbst oft nicht mehr versteht, verstehen diejenigen, die mit ihm umgehen, sich selbst häufig auch nicht mehr. Oft ist es so, dass wir erst unsere eigenen Reaktionen im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen verstehen lernen müssen. Erst dann können wir den Betroffenen Hilfestellung bei der Selbsthilfe leisten und sie entsprechend unterstützen.
Was ist ein Trauma? Wie sehen die Symptome aus? Wie kann das Unfassbare überwunden werden?
Dieser Ratgeber leistet praktische Hilfe, indem zunächst erklärt wird, was ein Trauma überhaupt ist. Er thematisiert, wie Traumatisierungen sich in Form von verschiedenen Symptomen zeigen. Er hilft Betroffenen und denen, die mit ihnen umgehen, dabei, Tabus zu überwinden. Damit erleichtert er es auch, frühzeitig den Weg in die Beratung oder Therapie zu finden, falls dies notwendig erscheint. Weiter wird ein Überblick über die zur Verfügung stehende fachliche Hilfe und deren Arbeitsweise geboten. Im 4. Teil finden Sie Übungen, die bei der Bewältigung des Traumas helfen können und im Anhang sind wichtige praktische Informationen und die Eckpunkte der professionellen Traumadiagnose zusammengefasst.
Langsam lesen! Wenn etwas Unfassbares geschehen ist, leidet unsere Konzentration.
Es ist hilfreich, diesen Ratgeber – insbesondere wenn Sie selbst betroffen sind – langsam zu lesen und sich nicht zu überfordern. Nach traumatischen Erlebnissen ist die Konzentrationsfähigkeit häufig sehr herabgesetzt und man braucht oft länger, um zu verstehen, was gemeint ist. Lesen Sie daher einzelne Kapitel ruhig öfter und machen Sie Pausen beim Lesen. Vielleicht finden Sie eine Person Ihres Vertrauens, die das Buch mit Ihnen gemeinsam liest, sodass sie nach der Lektüre über das sprechen können, was Sie gelesen haben und was Ihnen vielleicht unklar geblieben ist.
An den Seitenrändern ist jeder Absatz in einem Satz kurz zusammengefasst, sodass Sie sich vorab einen Überblick verschaffen können und Inhalte schnell wieder finden.
Mithilfe des Glossars finden Sie die Erklärung von Fremdworten schnell wieder.
In diesem Ratgeber wird auf Fremdworte so gut es geht verzichtet. Nur wenn mir dies hilfreich erscheint, werden Fachbegriffe eingeführt. Diese werden dann jedoch erklärt. Sollten Sie, verehrter Leser/verehrte Leserin, während der Lektüre die Bedeutung eines solchen Wortes wieder vergessen haben, so schlagen Sie einfach das Stichwortverzeichnis am Ende dieses Buches auf. Dort finden Sie die Angabe der Seite, auf der das Wort das erste Mal erscheint und erklärt wird.
Psychotrauma bedeutet übersetzt Verletzung der Seele.
Das erste Fremdwort, das bereits aufgetaucht ist, ist das Wort Trauma. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt Wunde oder Verletzung. Die Mehrzahl des Wortes ist Traumata. Die Verletzungen, um die es in diesem Buch geht, sind seelischer Art. Die korrekte Bezeichnung für eine solche Verletzung der Seele ist eigentlich Psychotrauma, was gleichbedeutend ist mit seelischer Verletzung. Der Einfachheit halber und weil es sich so durchgesetzt hat, wird in diesem Buch das Wort Trauma für diese seelischen Wunden verwandt.
Der in diesem Buch verwandte männliche Artikel ist geschlechtsübergreifend gemeint.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es mir aufgrund unseres Sprachgebrauchs sehr umständlich erschien, das grammatikalische Geschlecht an allen Stellen zu differenzieren. Der Gebrauch des männlichen Artikels, für den ich mich entschieden habe, ist daher geschlechtsübergreifend zu bewerten.
Traumata sind unfassbare Erfahrungen, die schwer in den Erfahrungsschatz eingegliedert werden können.
Traumatische Erfahrungen sind wesentliche Bestandteile des menschlichen Lebens und das wohl, seit es Menschen gibt. Als Trauma werden Erfahrungen bezeichnet, die so unfassbar sind, dass sie nur schwierig oder manchmal fast gar nicht in den bestehenden Erfahrungsschatz eingegliedert werden können.
Furcht, Entsetzen, Hilflosigkeit und Kontrollverlust sind für traumatische Situationen typisch.
Meistens sind unfassbare Erfahrungen mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen verbunden. Auch das Gefühl, die Kontrolle über die Situation und möglicherweise auch über uns selbst zu verlieren, ist häufig mit solchen Erfahrungen verbunden. Manchmal verlieren wir auch die Kontrolle über alles, was mit dem Ereignis zu tun hat. Die Kontrolle über das, was mit uns geschieht, zu verlieren, ist jedoch für uns (zumindest für uns westliche) Menschen besonders schlimm zu ertragen. Wenn ein Mensch Unfassbares erlebt und sich währenddessen intensiv gefürchtet, sich hilflos gefühlt hat oder von Entsetzen erfüllt war sprechen Kliniker von einer Traumatisierung.
Alarmbereitschaft, die ins Leere läuft.
Während des Erlebens eines traumatischen Ereignisses, z. B. wenn wir Opfer eines Verkehrsunfalls werden, sehen wir die Katastrophe manchmal noch auf uns zukommen. Unser Organismus wird dann in größte Alarmbereitschaft versetzt und bietet alle möglichen Schutzreflexe auf. Unsere Muskulatur ist z. B. aufs Äußerste gespannt. Wir mobilisieren dann ungeheure Kraftreserven. Unser Gehirn sucht krampfhaft nach Auswegen aus der bedrohlichen Situation. Diese Reaktionen unseres Körpers dienen schon seit jeher der Flucht oder dem Kampf. In traumatischen Situationen ist aber zumeist eine Flucht oder ein Kampf nicht möglich. Wir sind der traumatischen Situation im Allgemeinen macht- und hilflos ausgeliefert. Das bedeutet, dass alle Anstrengungen, die unser Körper »automatisch« unternimmt, ins Leere laufen.
Einige Menschen »beamen« sich aus der traumatischen Situation heraus.
Manchmal ist es so, dass wir uns aus einer solchen Situation heraus »beamen« – uns quasi von unserem Körper lösen. Dann sehen wir dem, was passiert, von außen zu, und schweben gleichsam über dem Geschehen. Einige Menschen erleben das Ereignis auch als unwirklich, so als erlebten sie nur einen bösen Traum, aus dem sie wieder erwachen werden. In einer traumatischen Situation erleben manche Menschen auch sich selbst als unwirklich. Diese Phänomene werden Dissoziation, im Sinne von »Unverbundenheit« oder »Trennung« genannt, weil der Betroffene quasi aus sich oder der Situation heraustritt. Bei schweren oder sich wiederholenden Traumatisierungen kommt dieses Phänomen relativ häufig vor.
Das Zeiterleben kann verändert sein.
Die Wahrnehmung während des Erlebens traumatischer Ereignisse ändert sich oftmals drastisch. So kann sich z. B. das Zeiterleben verändern, Sekunden können zu Minuten oder Stunden werden und umgekehrt.
In einigen Fällen verschwindet die Erinnerung an die traumatisierende Situation ganz oder teilweise.
Manchmal können wir uns nach erlebten Traumata gar nicht mehr erinnern, was passiert ist. Wir finden uns z. B. im Krankenhaus wieder und wissen nicht, wie wir dorthin gekommen sind. Häufiger ist es allerdings so, dass wir uns lediglich an die schlimmsten Augenblicke nicht mehr erinnern können. Dieses Phänomen heißt in der Fachsprache Amnesie. Das bedeutet einen teilweisen oder gänzlichen, zeitlich begrenzten oder dauernden Gedächtnisverlust. Wahrscheinlich ist die Amnesie ein Schutz für unsere Seele. Die schlimmsten Erfahrungen werden einfach vergraben.
Nach einer Traumatisierung scheint die Welt häufig verändert und einstige Sicherheit verloren.
Trotz der menschlichen Fähigkeit, zu überleben und sich anzupassen, können traumatische Erlebnisse das seelische, körperliche und soziale Gleichgewicht eines Menschen ganz erheblich verändern. Die Wahrnehmung der Welt ist plötzlich eine andere als vor dem Ereignis. In die alte Wirklichkeit zurückzukehren, scheint vielen Betroffenen nicht mehr möglich, denn alles erscheint anders als vorher. Vor allem das Gefühl der Sicherheit in dieser Welt ist zunächst verloren.
Selbstheilungsprozesse brauchen Zeit, um die Seele gesunden lassen zu können.
Aber wir verfügen über Selbstheilungskräfte, die auch nach unfassbaren Geschehnissen aktiviert werden. Doch genauso wie ein Knochenbruch Zeit braucht, um zu heilen, benötigt auch die Seele ihre Zeit, damit ihre Wunden geschlossen werden können.
Merk-würdige oder ver-rückt erscheinende Reaktionen nach traumatischen Ereignissen sind zunächst natürlich und hilfreich, weil es sich um Selbstheilungsversuche unseres Organismus handelt.
Wie bereits angesprochen, fürchten Betroffene nach einer Traumatisierung manchmal, sie könnten ver-rückt werden, weil sie an sich selbst merk-würdige Reaktionen feststellen (auf die in den nächsten Kapiteln genauer eingegangen wird). Es ist aber vielmehr so, dass nicht der Betroffene ver-rückt ist, sondern die Situation. Daher sind traumatische Reaktionen zunächst ganz normale, grundsätzlich gesunde Antworten auf eine anormale, die Seele verletzende Erfahrung. Die Reaktionen, die wir nach traumatischen Ereignissen an den Tag legen, sind zum Großteil Selbstheilungsversuche des Körpers und der Seele und sollten auch als solche von uns gewürdigt werden.
Man muss nicht selbst von einem überwältigenden Ereignis betroffen sein, um traumatisiert zu sein — auch Zeugen oder Nahe stehende können traumatisiert sein.
Viele Ereignisse können zu einer Traumatisierung führen und es gibt mehrere Möglichkeiten, wie Menschen eine Traumatisierung erfahren. Grundsätzlich können alle Ereignisse, die einen Menschen in seinem Denken und Fühlen geradezu überwältigen, zu einer Traumatisierung führen. Insbesondere Erlebnisse, die mit einer Lebensbedrohung einhergehen, sind als traumatisch zu bezeichnen. Es kann natürlich immer dann zu einer Traumatisierung kommen, wenn Menschen von dem Ereignis selbst betroffen sind. Wichtig ist es aber zu wissen, dass Traumata auch dann ausgelöst werden können, wenn Menschen Zeugen von belastenden Ereignissen werden, z. B. einem Autounfall oder einem Verbrechen.
Weiterhin können Traumata auch dadurch ausgelöst werden, dass wir von einem solchen Geschehnis erfahren, ohne unmittelbar Zeuge zu sein. Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn es sich um nahe stehende Personen handelt, z. B. Familienangehörige.
Traumata, die von anderen Personen ausgelöst werden, erschüttern häufig das Vertrauen in alle Menschen.
Zu unterscheiden sind zunächst zwei verschiedene Formen von traumatischen Ereignissen. Manche Ereignisse werden von Menschen ausgelöst, wie zum Beispiel eine Vergewaltigung. Andere Ereignisse sind vom Verhalten anderer Menschen völlig unabhängig, wie z. B. Naturkatastrophen. Häufig sind traumatische Erlebnisse, die von anderen Menschen ausgelöst worden sind, noch wesentlich schwerer zu verarbeiten, als solche, auf die andere Menschen keinen Einfluss hatten. Das Vertrauen in andere Menschen ist dann oft schwer und vor allem grundsätzlich erschüttert und es kann lange dauern, bevor Betroffene anderen Personen – auch denen in ihrem eigenen persönlichen Umfeld – wieder vertrauen.
Einige Traumatisierungen geschehen plötzlich und unerwartet, andere dauern über einen längeren Zeitraum an und/oder wiederholen sich und werden dadurch erwartbar.
Es gibt eine weitere Unterscheidung von traumatischen Ereignissen, die wichtig für die Verarbeitung von Traumata ist. Es gibt Traumata, die kurzfristig und unerwartet geschehen, wie eine Vergewaltigung, ein Unfall oder ein Erdbeben. Diese sind zu unterscheiden von traumatischen Situationen, die über einen längeren Zeitraum andauern oder sich wiederholen, wie etwa wiederholte Vergewaltigungen im Krieg oder Misshandlungen in der Ehe oder Familie. Die letztere Form von Traumata zieht häufig noch mehr Folgereaktionen beim Betroffenen nach sich, als die erste Form. Oft äußert sich die Belastung des Traumatisierten durch immer wiederkehrende traumatische Situationen dann auch in Form von körperlichen Störungen. Aber auch Schwierigkeiten mit der Regulierung der eigenen Gefühle und im Umgang mit den eigenen Impulsen kommen häufig vor. Manchmal wird auch das Bild, das der Traumatisierte von sich selbst hat (Selbstbild), also die eigene Wahrnehmung von sich selbst als Person, und sehr häufig auch die Beziehungsfähigkeit zu anderen Menschen gestört.
Beispiele für Ereignisse, die zu Traumatisierungen führen können.
Zwar ist die Liste möglicher traumatisierender Ereignisse lang und kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden. Dennoch einige Beispiele von Ereignissen, die zu Traumatisierungen führen können:
Wie gesagt: Die Aufzählung möglicher traumatischer Ereignisse ist hiermit noch lange nicht erschöpft. Es gibt viele weitere Erlebnisse, die für den Menschen unfassbar sein können und damit sehr schwierig zu verarbeiten sind.
Menschen verarbeiten traumatische Erlebnisse unterschiedlich. Im Folgenden wird es darum gehen, zu zeigen, welche möglichen Reaktionen es auf solche Erlebnisse gibt.
Immer wiederkehrende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis sind zunächst normal.
Die meisten Menschen, die traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren, sind irgendwie fähig, ihr Leben weiter zu führen, ohne ständig von Erinnerungen an das Geschehen verfolgt zu werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die traumatischen Ereignisse keine Spuren hinterlassen würden. Nach einem traumatischen Ereignis sind die meisten Menschen von diesem Erlebnis in hohem Maße in Anspruch genommen. Immer wiederkehrende Erinnerungen an das Erlebnis stellen z. B. eine zunächst durchaus normale Reaktion auf die bedrohliche Erfahrung dar. Und diese Erinnerungen haben auch eine Funktion: Sie helfen dabei, die Gefühle, die mit dem Ereignis in Zusammenhang stehen, allmählich zu verändern und abzuschwächen. Die Erinnerungen helfen also bei der Verarbeitung des Erlebten. Etwa ein Drittel der Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, können diese jedoch nicht auf diese Art verarbeiten.
Wenn die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse nicht gelingt, ist dies kein Zeichen von Schwäche. Es gibt viele Einflüsse, die die Verarbeitung beeinflussen.
Wenn die Verarbeitung unfassbarer Ereignisse nicht gelingt, ist dies keineswegs als Schwäche auszulegen. Vielmehr ist es so, dass es eine ganze Reihe von Einflüssen auf die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse gibt. Es gibt so genannte Risikofaktoren, die die Verarbeitung erschweren, es gibt aber auch solche Einflüsse, die sie erleichtern – so genannte Widerstandsfaktoren. Die Verarbeitung ist unter anderem abhängig von den biologischen Anlagen des Einzelnen und von seinen früheren Erfahrungen, also von anderen kritischen oder positiven Lebensereignissen. Einen Einfluss hat auch die eigene Familiengeschichte und Kindheit. Wichtig für die Verarbeitung ist auch die Unterstützung durch Angehörige, Freunde, Kollegen und überhaupt durch die Menschen, von denen der Traumatisierte umgeben ist.
Alle diese Einflüsse können als Risiko- oder als Widerstandsfaktoren auf die Verarbeitung einwirken. Auch die Häufigkeit der bereits im Lebenslauf erfahrenen traumatischen Situationen hat einen Einfluss auf die Verarbeitung. Im Volksmund sagt man: »Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht.« Manche Menschen können erstaunlich viel Unfassbares verarbeiten, andere Menschen werden von einem traumatischen Erlebnis bereits von Grund auf erschüttert. Man weiß noch nicht genau, womit dies zusammenhängt, aber es bekommt auch nicht jeder eine Grippe, wenn die entsprechenden Erreger in der Luft sind – einige trifft es und andere können sich gegen den Angriff auf ihre Gesundheit besser wehren.
Manche Menschen bleiben quasi »am Trauma hängen«, weil sie die Erfahrung nicht verarbeiten können.
Was passiert nun, wenn die traumatische Erfahrung nicht verarbeitet werden kann? Wir können uns das so vorstellen, dass die unfassbare Erfahrung nicht in den bestehenden Erfahrungsschatz integriert werden kann. Das Erlebnis ist so überwältigend und so anders als alles andere, was wir bisher erlebt haben, dass es einfach nicht so schnell verarbeitet werden kann, wie unsere sonstigen alltäglichen Erlebnisse.
Die unverarbeitete Erinnerung an das traumatische Erlebnis
Das Ergebnis der nicht erfolgten Verarbeitung ist, dass das Erlebnis quasi in Rohform im Gedächtnis abgespeichert wird. Das wiederum hat zur Folge, dass das Erlebnis auch in der Rohform wieder erinnert wird. Dann wird unverändert abgespeichert und immer wieder »abgespult«.
hat man die gleichen Eindrücke, Gefühle und Körperempfindungen, als wenn das Ereignis gerade im Moment passieren würde. Außerdem wird das Erlebnis auch besonders leicht aus dem Gedächtnis abgerufen. Der Mensch bleibt also quasi »am Trauma hängen« und erlebt es in seinen Gedanken oder Gefühlen immer wieder in seiner ursprünglichen Form, ohne etwas dagegen tun zu können.