Einleitung

„Bildung der Geschlechter“ – diese Formulierung lässt sich auf zweierlei Weise lesen. Zum einen könnte sie sich auf Bildungsprozesse in schulischen oder außerschulischen Kontexten beziehen, etwa mit der Frage, ob diese geschlechtstypisch unterschiedlich verlaufen. Zum anderen aber kann „Bildung“ hier auch heißen, dass die Geschlechter sich herausbilden oder hervorgebracht werden als voneinander unterscheidbare gesellschaftliche Gruppen – hier wäre dann zu fragen, wie dieser Prozess verläuft, wie erkennbare geschlechtstypische Verschiedenheiten einzuschätzen sind und worauf sie verweisen.

Bei beiden Lesarten stellen sich also eine Menge wichtiger Fragen. Es zeigt sich nämlich, dass viele pädagogisch relevante geschlechtstypische Befunde in Bezug auf kindliche Entwicklung, Erziehung und im Kontext von Schule erklärungsbedürftig sind und sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Wie sollen wir etwa die neuerdings festgestellten Asymmetrien im Bildungserfolg von Mädchen und Jungen einschätzen, welche Folgerungen daraus ableiten? Oder die Tatsache einschätzen, dass in manchen Ländern Jungen und Mädchen besser lernen, wenn sie von einer Lehrerin unterrichtet werden, während sie in anderen gerade umgekehrt bei männlichen Lehrern zu besseren Ergebnissen kommen? Oder den Befund, dass der „gender gap“, also die Leistungsunterschiede und die Unterschiede in den Leistungsprofilen zwischen Mädchen und Jungen nicht durchgängig, sondern schichtabhängig sind? Oder auch nur ganz schlicht die Ungleichverteilung der Geschlechter auf die verschiedenen Bildungsbereiche oder die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft?

Spätestens seit sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die erste Frauenbewegung vehement für gleichwertige Bildung für Mädchen einsetzte, ist die Frage stets aktuell geblieben, wie die Geschlechtszugehörigkeit von Kindern und Erwachsenen sich im Bildungssystem, in seinen Strukturen und Anforderungen, seinen In- und Exklusionen niederschlägt oder niederschlagen sollte. Heute reichen die Debatten von der Frage, warum Frauen seltener in Leitungspositionen streben, bis zu der Frage nach den Gründen für die unterschiedlichen Leistungsprofile und eine geschlechtstypische Fächerwahl in der Oberstufe oder die unterschiedlichen Formen von Aggression und Ausgrenzung bei Mädchen und Jungen.

Das allein wäre schon Grund genug, sich mit der Geschlechterthematik zu befassen – denn ganz offensichtlich haben wir es hier mit kontinuierlichen und weitreichenden Wirkungen zu tun, deren Funktionsweise aber nicht ganz durchschaubar ist. Es gilt hier, sorgfältig und vorsichtig zu sein. Gerade in Populärmedien (Zeitschriften, Talk-Shows usw.) wird häufig vollmundig behauptet, diese oder jene geschlechtsspezifischen Unterschiede seien „bewiesen“ oder „Studien“ hätten sie bestätigt usw. Tatsächlich gibt es wohl für jede solche Studie auch eine, die das Gegenteil beweist, und da Kinder niemals, selbst nach wenigen Lebenstagen nicht ohne Einfluss aus der Kommunikation mit den betreuenden Erwachsenen sind, kann man in der Beobachtung kindlichen Verhaltens auch nie einen „Punkt Null“, die „wahre“ geschlechtliche Natur usw. isolieren. Wenn Sie also auf Autoren/innen stoßen, die im Bereich von Geschlechterdifferenzen Eindeutigkeiten behaupten, dann sollten Sie sehr genau hinschauen, mit welchen Materialien sie jeweils ihre Einschätzungen belegen und wie sorgsam sie damit umgehen.

Gleichwohl möchten natürlich alle, die in pädagogischen Bereichen tätig werden wollen, wissen, wie sie sich zu den auftretenden Geschlechtereffekten verhalten sollen – und solche Effekte finden wir praktisch überall und immer. Die Frage, welche Bedeutung diese Effekte haben und woher sie stammen, zieht sich durch die Geschichte und die Ideengeschichte, seit es schriftliche Aufzeichnungen gibt – deshalb wird Geschlecht als eine „Strukturkategorie“ bezeichnet, eben weil es das Denken der Menschen, ihre Vorstellungen von sich und anderen und die gesellschaftliche Ordnung strukturierend beeinflusst (vgl. dazu genauer Kap. 4).

Zwar steht heute – zeitgemäß – vor allem die Frage der unterschiedlichen Leistungen und Leistungsprofile von Jungen und Mädchen im Vordergrund, doch ist auch diese nicht zu verstehen, wenn man sie nicht im größeren Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen sieht und mit der Geschichte, die diese hervorgebracht hat. Denn die Vergangenheit ist nicht vergangen, sondern wirkt in Gewohnheiten und Geschichten, in kulturellen Übereinkünften und Traditionen fort.

Ist „gleiche Bildung für alle“ die richtige Antwort, oder müssen wir mit kompensatorischen, ausgleichenden pädagogischen Konzepten gegen früher geschehene Festlegungen anarbeiten? Oder umgekehrt – sind die Geschlechter vielleicht so verschieden, dass wir zu getrenntem Unterricht zurückkehren sollten? Brauchen wir eine Extra-Pädagogik für Jungen? Da gerade in letzter Zeit in den Medien oft undifferenzierte, populistische und fragwürdige Parolen und Konzepte verbreitet werden, sollen in diesem Band wesentliche Aspekte des Themenfeldes „Bildung und Geschlecht“ vorgestellt und diskutiert werden. Er soll vor allem dazu beitragen, die Thematik differenziert und ideologiekritisch zu betrachten. Wir müssen deshalb zuerst ein wenig ausholen – denn es gibt keine Praxis, kein Praxisverständnis ohne Theorie und keine Theorie ohne Geschichte.

Der erste Teil des Buches (Kapitel 1 und 2) wird sich folglich mit historischen Aspekten befassen: mit Bildungsvorstellungen, der gesellschaftlichen Stellung von Frauen und Männern und mit den Konsequenzen, die pädagogische Theorien und Konzepte daraus ableiten. Dabei ist immer zu fragen, wie sich diese historischen Aspekte auf die heutigen Strukturen ausgewirkt haben, auf das Denken der Menschen über sich selbst und die Welt um sie herum, und auf die Art und Weise, wie sie diese Welt organisieren. Die Strukturen dieses Denkens ändern sich nicht so schnell. Sie wirken nachhaltig auf gesellschaftliche Formen und Institutionen und diese wirken wiederum auf das Denken über die Gesellschaft und den Einzelnen zurück.

Es ist für alle pädagogisch Tätigen grundsätzlich notwendig, sich selbst als „historisch Gewordene“ zu betrachten, als jemanden, dessen Denken eine Geschichte hat und nicht gewissermaßen authentisch und individuell (als eine je private „Meinung“) entsteht – denn diese Haltung ist wiederum die Voraussetzung dafür, sich selbst und die Welt, in der man lebt, als veränderlich zu begreifen. Das wiederum – das können wir aus der Geschichte lernen – unterscheidet eben fundamentalistisches oder totalitäres von aufgeklärtem Denken und ist die entscheidende Basis für demokratische Gemeinwesen. Deshalb ist diese Haltung gerade für diejenigen, die in pädagogischen Berufen tätig sein wollen, von grundlegender Wichtigkeit.

Im zweiten Teil des Buches (Kap. 3 und 4) werden diese Überlegungen geordnet und systematischer betrachtet. Hier werden auch einige Begriffe gründlicher angeschaut – was sind überhaupt „Stereotype“, wie entstehen sie und wie entfalten sie ihre Wirkung? Wie sieht das komplexe Zusammenspiel aus Vorerwartungen, Selbstbildern und der Struktur gesellschaftlicher Institutionen aus? Und wie schlagen sich diese Faktoren im pädagogischen Denken und den Formen pädagogischen Handelns nieder?

Der dritte Teil des Textes (ab Kap. 5) wird sich dann näher mit der Frage beschäftigen, wie sich die im gesellschaftlichen Kontext entstandenen Denkweisen und Strukturen auf den Bereich der Schule niederschlagen und auf die „geschlechtliche Arbeitsteilung“, d. h. auf die unterschiedlichen Profile, die sich für Frauen und Männer im Bereich von Schule und Ausbildung entwickelt haben. Hier wird auch über Formen des pädagogischen Miteinanders nachgedacht und zuletzt wird diskutiert, wie die in der aktuellen Debatte erhobene Forderung nach einer besonderen Pädagogik für Jungen einzuschätzen ist.

Was Sie nicht in diesem Buch finden werden, sind Handlungsanweisungen. Doch das ist eigentlich kein Mangel, denn pädagogische Handlungen sind ja Ergebnis und das Ende einer Kette von Überlegungen, von Nachdenken und Abwägen. Anweisungen dagegen sind das Gegenteil: sie fordern dazu auf, das eigenständige Nachdenken vor dem Handeln zu unterlassen. Pädagogisches Handeln ist immer eine Sache der Reflexion – die Fragen, die sich aus der Praxis ergeben, sollen ja geprüft und durchdacht werden, um ihrerseits auf die Praxis zurückwirken zu können. So wird selbst das letzte, abschließende Kapitel zwar die Frage stellen, wie die Pädagogik mit der Geschlechterthematik umgehen sollte, doch die eigentliche Antwort darauf müssen die pädagogisch Handelnden auf der Basis ihrer Auseinandersetzung mit der Thematik letztlich selber entwickeln.

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Kurze Skizze zu den historischen Grundlagen der geschlechter-getrennten Bildung

Eine weit verbreitete Ansicht über das Geschlechterverhältnis lautet, dieses sei „immer schon“ auf dieselbe Weise ungleich gewesen, Frauen hätten sich „immer schon“ als Schwächere in einer unterlegenen gesellschaftlichen Position befunden, festgelegt auf das Häusliche, die Emotionalität und die Sorge für Andere, und Männer seien „immer schon“ rational und beherrschend gewesen. Auf diesem Hintergrund werden dann im Umkehrschluss geschlechtstypische Verteilungen in Staat, Gesellschaft und Bildungswesen gewissermaßen als Ausdruck historischer Zwangsläufigkeiten verstanden. Doch so einfach ist das nicht. Tatsächlich haben alle uns bekannten Gesellschaften zwischen den Positionen von Männern und Frauen unterschieden und es sind in den meisten uns bekannten Gesellschaften Ansehen, Macht, Rechte und ökonomische Ressourcen – also Besitz und Erwerbsmöglichkeiten – nicht gleich, sondern ungleichgewichtig zugunsten der Männer verteilt. Doch erstens gibt es dabei große graduelle und strukturelle Unterschiede in der Logik der Aufteilung, und zweitens variieren die Begründungen für diese Ungleichverteilung ganz erheblich. Für unsere Region und Fragestellung sind dabei insbesondere die Entwicklungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts außerordentlich wichtig und aussagekräftig. In dieser Zeit kamen die Auffassungen über Geschlechter und ihre Eignungen durch Aufklärung, Revolution und die Entfaltung der Wissenschaften in Bewegung, die gesellschaftlichen Aufgaben von Frauen und Männern wurden neu bestimmt und dabei vor allem „vereindeutigt“.

Das 18. Jahrhundert war – dies nur in aller Kürze – eine Zeit des enormen politischen, ökonomischen und sozialen Wandels, da mit den Ideen der Aufklärung die bestehenden Verhältnisse einer grundlegenden Revision unterzogen wurden und sich eine neue gesellschaftliche Schicht herausbildete: das Bürgertum. In Abgrenzung einerseits vom Adel mit seinem Müßiggang, seiner Verschwendungssucht und seinem feudalen Leben von der Arbeit anderer, und von den Bauern, den armen Leuten, ihren Zwängen und Beschränkungen andererseits, kultivierte das Bürgertum (genauer: die bürgerliche Oberschicht) ein ausgeprägtes Brauchbarkeits- und Nützlichkeitsdenken, aufklärerisch, aber der Revolution abgeneigt und eher darauf aus, den Staat für seine Interessen nutzbar zu machen.

Von nachhaltiger Wirkung auf die Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung waren natürlich die wirtschaftliche und technologische Entwicklung und die dazu gehörenden Theorien. Mit der Ausbreitung des Handels, der Veränderung der Produktionsweisen und des Hauswesens wurde im 18. Jahrhundert die politische Ökonomie bzw. Nationalökonomie die Leitwissenschaft zur Erklärung des Kreislaufs der Güter und des Werts der Arbeit. Die ausschließliche Konzentration auf den Markt, den Gebrauchs- und Tauschwert der Güter, führte dazu, dass die Arbeiten, die der Sicherung der Existenz und der Ausgestaltung der Sozialbeziehungen dienten, dem Essen, Trinken, Schlafen, Erziehen, dem Wohlergehen und dem sozialen Miteinander der Menschen, in dieser Rechnung (der „Arbeitswerttheorie“) nicht als „Wert“ auftauchten. Das Haus, das in der alten Ökonomie des 17. und frühen 18. Jahrhunderts der gemeinsame Lebens- und Arbeitsort aller Familienmitglieder gewesen war, wo alle Arbeiten als Beitrag zum Gelingen des Ganzen angesehen wurden, wird von nun an zur Stätte des Konsums und des Sozialen – die dort verrichtete Arbeit erscheint nicht mehr als wertschöpfende Tätigkeit, sondern wird zur Konsumtion und Reproduktion degradiert.

Das färbt logischerweise auf die Personen ab, deren Tätigkeitsfeld sich zunehmend auf Binnenraum der Familie konzentriert: die Frauen.

Die Frau der Aufklärungszeit und des Bürgertums hatte keine vollen, den Männern entsprechenden bürgerlichen Rechte – sie konnte niemals einen Status von selbstbestimmter Unabhängigkeit erlangen, sondern sie blieb der „väterlichen Erziehungsgewalt“ unterworfen, bis diese auf den Ehemann oder einen Nachfolger des Vaters überging. Von hier aus begründet sich auch die (teilweise noch bis heute weiterwirkende) Sitte, dass Söhne eine Ausbildung und Töchter statt dessen eine „Aussteuer“ erhalten – eine Abfindung in Form von Hausrat, die damals zugleich die Tochter von Erbansprüchen an die Herkunftsfamilie ausschloss (Heinemann 1990: 260).

Das Fernhalten der Frauen von der höheren Bildung, die ja auf das Leben und Arbeiten in einem öffentlichen gesellschaftlichen Raum abzielte, verstärkte und betonte also die Tatsache, dass die Frauen nicht an dieser Öffentlichkeit teilhaben durften, ihren weitgehenden Ausschluss aus den politischen und wirtschaftlichen Bereichen der Gesellschaft und ihre Konzentration auf den engen Raum des Hauses: „Frauen besaßen kein eigenes Geld, konnten über ihr Vermögen nicht selber verfügen und hingen deshalb in all ihren Wünschen und Bedürfnissen von ihren Ehemännern ab“ (Frevert 1986: 46).

Innerhalb der Familie hatten die Frauen des späten 18. Jahrhunderts aber durchaus eine definierte Erziehungsaufgabe: die Bildung der „jungen Kinderseelen“ (so ein Text von J. H. Campe), die Grundlegung von Erziehung bei den kleinen Kindern, die auch das Lesenlernen und das erste Rechnen mit einschloss.

Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschienen eine ganze Reihe von Erziehungsratgebern und Anleitungen für Mütter, wie sie ihre Kinder das Lesen lehren sollten. Diese waren recht eigentlich „doppelte“ Fibeln, denn sie nahmen die Mütter – also diejenigen, die die Basis des Bildungsprozesses und die Grundlagen der Kulturalisation zu legen hatten – vor allem als Belehrungsbedürftige in den Blick (vgl. auch Kap. 3.2, 4.1). Damit wurden Frauen genau wie ihre Kinder zu Lernenden im Haus – ihr Lernen wurde aber an den familialen, privaten Kontext gebunden und blieb so von der ‚eigentlichen‘ Bildung außer Haus abgeschnitten.

Was das öffentliche Schulwesen angeht, so wurden zwar schon im 18. Jahrhundert in den deutschen Ländern die ersten Edikte zu einer allgemeinen Schulpflicht erlassen, die an Mädchen und Jungen gleichermaßen adressiert waren – doch hier stand nicht der Erwerb von Wissen im Vordergrund, sondern vor allem die sittliche und religiös-moralische Erziehung: Der Schulbesuch müsse für alle Kinder verbindlich sein – denn „wenn ich baue und verbessere das Land und mache keine Christen, so hilft mir das alles nicht“, schrieb König Friedrich Wilhelm I. zu seiner 1717 erlassenen Verordnung zum Schulbesuch (nachzulesen in der Preußenchronik des RBB: www.preussen-chronik.de).

Faktisch waren diese Edikte wohl eher „wohlgemeinte Absichtserklärungen“ (Herrlitz et al. 1998: 52), der Schulbesuch war im 18. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich – und wegen des zu zahlenden Schulgeldes war er für die meisten ärmeren Eltern ohnehin unerschwinglich. Es sollte noch über hundert Jahre dauern, bis die allgemeine Schulpflicht annähernd durchgesetzt wurde (ebd.). Doch macht uns dieser „Blick zurück“ darauf aufmerksam, dass die heftigen und streitigen Diskussionen, die im 19. Jahrhundert um die Beschulung von Mädchen geführt wurden, sich weniger auf die Volksschule bezogen, sondern vor allem auf das weiterführende Schulwesen. Die Grundbildung, die nur die einfachsten Kulturtechniken umfasste, galt also als eine – in erster Linie von den Eltern (der Mutter) vermittelte, von der Volksschule eher halbherzig unterstützte –, jedem Kind zustehende „Grundlage des menschlichen Daseins“ (Heinemann 1990: 256). Doch die weiterführende Bildung zielte auf Fähigkeiten, die für öffentliche Aufgaben nötig und brauchbar waren: für die Ausübung eines Berufs, das Studium an einer Universität und die Wahrnehmung von Bürgerpflichten – und von diesen waren Frauen ja ausgeschlossen.

Für das Bürgertum als gesellschaftliche Schicht jedoch waren Bildung und Schulbildung die entscheidenden Erfolg versprechenden Bereiche der Investition – das Lesen wurde zu einer hochgeschätzten Betätigung und Teil bürgerlicher Öffentlichkeit. Überall entstanden Leihbibliotheken, Lesezirkel und Lesegesellschaften, ganz überwiegend den Männern vorbehalten (Frevert 1986: 35; Jonach 1997: 46). Die wenigen Salons von Frauen, die ein gemischtes Publikum anzogen, waren die absolute Ausnahme. Und da die neue bürgerliche Schicht, vom Nützlichkeitsdenken geleitet, auf die gemeinsam betriebene wirtschaftliche Weiterentwicklung orientiert war, wobei Bildung ihr wichtigstes Mittel zur Selbstdefinition und Selbstformung wurde, sollte nun auch diese Bildung nicht mehr nur als individuelle Veranstaltung zwischen dem einzelnen Hauslehrer und seinem Zögling stattfinden, sondern als institutionell organisierter Prozess betrieben werden.

Die erste Gruppe von Bildungsbürgern, die sich mit organisierter Schulbildung befassten, waren die Philanthropen (die „Menschenfreunde“, meist Pädagogen und Theologen), unter denen Basedow, Campe, Trapp und Salzmann wohl die bekanntesten sind. In Modellschulen, den Philanthropinen, wurden neue Bildungs- und Erziehungswege ausprobiert – überwiegend nur für Jungen (wie in Dessau), teilweise aber auch unter Beteiligung von Mädchen oder in getrennten Einrichtungen (so gab es auch Philanthropine für Mädchen, etwa in Frankenthal). An den philanthropischen Schriften lässt sich dann auch gut ablesen, welches die zentrale Orientierung für die Bildung von Mädchen des gehobenen Bürgertums im 19. Jahrhundert war: die weibliche Bestimmung zur Hausfrau, Gattin und Mutter (Näheres zur Begründung und zur Argumentation einzelner Autoren siehe Kap. 2).

Die in dieser Zeit speziell für Mädchen gegründeten öffentlichen Schulen unterschieden ihrerseits in ihren Bildungsplänen deutlich zwischen den verschiedenen Ständen. Die „Industrieschulen“ für Mädchen aus den niederen Ständen sollten vor allem auf die frauentypischen Erwerbsarbeiten (und die Arbeit als Dienstbotinnen) vorbereiten – im „Industrieunterricht“ lernten sie vor allem Nähen, Spinnen, Stricken und die Gewöhnung an „Arbeitsamkeit“ (vgl. Mayer 1996), während in den höheren Mädchenschulen die auch für die Knabenschulen üblichen Fächer unterrichtet wurden – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie keinerlei Abschlusszeugnisse oder Berechtigungen vergeben durften (Herrlitz et al. 1998: 93).

An dieser Stelle setzte nun gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Frauenbewegung mit ihren Forderungen an. Wie sollen denn die Mütter, so argumentierten die Wortführerinnen, ihre Aufgabe der grundlegenden Bildung erfüllen, wenn sie selber so schlecht gebildet sind? Und wie sollten sie besser gebildet werden, wenn nicht Frauen als Lehrerinnen in den Schulen unterrichten durften? Das war die Strategie des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV), der 1890 gegründet wurde und überaus große politische Wirkung erlangte. Aus einer heutigen politischen Perspektive gesehen war die Position des ADLV problematisch, da sie von einer naturgegebenen Verschiedenheit der Geschlechter ausging und die Frauen dadurch mit dem Etikett einer natürlichen Eignung aller Frauen zum Erziehen, der „geistigen Mütterlichkeit“, auf einen begrenzten intellektuellen und gesellschaftlichen Raum festlegte – doch andererseits war es möglicherweise gerade diese Beschränkung, die in der damaligen Gesellschaft und von den Männern einigermaßen akzeptiert werden konnte, die letztlich zum Erfolg führte: zu der 1908 erlassenen „Bestimmung über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens“, das Frauen die Zulassung zum Universitätsstudium ermöglichte. Zwar war auch hier noch das Mädchen-Lyzeum als Regelform höherer Mädchenschulbildung festgelegt, doch war der Grundstein für eine breitere Bildung von Mädchen gelegt. 1923 wurde das Mädchenlyzeum den Realschulen des Knabenschulwesens gleichgestellt und 1932 waren bereits fast ein Drittel der Abiturienten junge Frauen. Von diesen nahmen jedoch bis ins späte 20. Jahrhundert insgesamt immer deutlich weniger nach dem Abitur tatsächlich ein Studium auf, als es bei den Männern der Fall war, so dass die jungen Frauen also (bis heute, wie sich zeigen wird) ihre durch Schulbildung gewonnenen Chancen und Vorteile nicht in ihr Erwachsenenleben mit hinüber nehmen konnten.

Halten wir also fest: Gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse sind immer gefärbt durch die jeweilige politische Ordnung und durch die Denkgewohnheiten der Gesellschaft, durch ihre Produktionsweise, ihre Religion(en) und Konventionen. Welche Bildungsmöglichkeiten eine Gesellschaft für ihre Jugend bereitstellt, und ob und wie sie dabei zwischen Jungen und Mädchen unterscheidet, ist ebenfalls ein Ergebnis dieses Zusammenspiels zwischen verschiedenen Faktoren: der Erwartungen der Erwachsenen an die Jugend, dem für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte notwendigen Wissen und der historisch gewachsenen Auffassung über die angemessenen Plätze von Männern und Frauen in Staat und Familie und ihren jeweiligen Beitrag zum Ganzen der Gesellschaft.

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Historische Theorien und Erklärungsansätze

2.1 Begründungen für ungleiche Positionen von Frauen und Männern in der Geschichte

Auch was die Geschichte der Frauen(bildung) und Männer(bildung) angeht (und das Denken darüber), dürfen wir uns nicht von der Vorstellung leiten lassen, es gäbe eine kontinuierlich voranschreitende Entwicklung, von finsteren altmodischen Vorstellungen zur Natur des Weibes über das Licht der Aufklärung bis zur Emanzipation der Frau in heutiger Zeit.

Nein, die Sache ist viel komplizierter. Es hat nämlich zu allen Zeiten Widersprüche gegeben, zu gleicher Zeit einander grundsätzlich widersprechende Auffassungen, kontrovers argumentierende Autoren und Denkerinnen, und die Argumente, die heute die Besonderheiten der Geschlechter erklären sollen, unterscheiden sich manchmal nicht grundsätzlich von denen, die vor zweitausend Jahren diskutiert wurden. Denn eine „Wahrheit“ der Geschlechterunterschiede oder der „Bedeutung“ von Geschlechterdifferenzen gibt es nicht – es gibt nur mehr oder weniger überzeugende Interpretationsansätze.

Hier könnte auch das Wort „Theorien“ stehen – aber selbst damit muss man zurückhaltend sein. Denn eine „Theorie“ setzt sich immer zusammen aus empirischer Gewissheit (darüber, wie die Dinge beschaffen sind), die aus systematischer Betrachtung gewonnen wird, und ihrer Systematisierung, ihrer Ordnung, die in plausible Erklärungen mündet. Weil aber in diese Ordnung und Erklärung immer Elemente von Interpretation einfließen, weil manche Erkenntnisse stärker, andere weniger in das Erklärungsmodell eingehen, und weil sich Einflüsse von Vorwissen oder Interessen auf den Erklärungsprozess nicht ausschließen lassen, ist die Gültigkeit von Theorien immer begrenzt und der Prozess der wissenschaftlichen Entwicklung ist stets damit befasst, Theorien zu widerlegen (zu falsifizieren) und die Grenzen ihres Erklärungspotentials zu überprüfen.

Die Theorien über Geschlecht sind nun aus zwei Gründen besonders anfällig für Interpretationsfehler: Erstens sind hier besonders viele und widerstreitende Interessen beteiligt, und zweitens ist die empirische Basis des zu erforschenden Gegenstandes („Geschlecht“) unklar: Handelt es sich um ein biologisches Thema? Oder ein juristisches, ein soziologisches, ein philosophisches oder ein theologisches? Was „ist“ überhaupt Geschlecht und warum hat es so weitreichende Wirkungen? Da aber die Wissenschaftler/innen nicht alle diese beteiligten Disziplinen überblicken, bleiben schon von hier aus ihre Ergebnisse immer und notwendigerweise begrenzt.

Interpretationen von Geschlechterunterschieden sind folglich Erklärungsversuche für vermeintliche Differenzen, wobei die Wahrnehmung dieser Differenzen (und die Frage, ob sie überhaupt als erklärungsbedürftig angesehen werden) von der jeweiligen Zeit und ihrem Denken beeinflusst ist.

Es empfiehlt sich also nicht unbedingt, die Geschichte des Denkens über Geschlecht und Geschlechterverhältnisse und die daraus folgenden Bildungskonzepte nur chronologisch zu betrachten. Um nicht allzu viel Verwirrung zu stiften, wird im Folgenden beides unternommen – es wird ein Blick in bestimmte historische Zeitfenster geworfen und außerdem versucht, Argumente und Positionen zu sortieren, um Ansätze einer Ordnung des Denkens über Geschlecht zu gewinnen. Zentrale Autoren der pädagogischen Theoriegeschichte werden anschließend mit ihren Positionen kurz vorgestellt.

Doch zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur Ordnung unserer Gedanken.

Ordnungen: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“

Um Dinge voneinander zu unterscheiden, zu gruppieren und zu ordnen, benötigen wir Maßstäbe, an denen wir diese Einteilungen vornehmen. Wir verwenden dafür meistens einander ausschließende, zweiwertige Begriffspaare oder Oppositionen, wie etwa groß – klein, tot – lebendig, kalt – heiß usw., weil diese den Vorgang der Unterscheidung scheinbar besonders leicht machen. Und je autoritärer strukturiert, je unsicherer über sich selbst jemand ist, desto sicherer, fester wünscht er sich die Grenzen dieser Orientierung, desto klarer formuliert er die Kategorien und desto strenger wird er die Grenzen dieser Zuordnungen verteidigen. Doch der Nachteil dieses gewohnheitsmäßigen Verfahrens ist es, dass wir gezwungen sind, alles in zwei Kategorien zu teilen, also jedes Ding (oder jede Verhaltens- und Erscheinungsweise) so weit zu vereindeutigen, dass es auf die eine oder andere Seite passt. Auch wenn wir diese Zuordnungen durch ein „mehr oder weniger“ abschwächen, bleibt die Zuweisung zu einer bestimmten Kategorie dabei doch erhalten – so kann beispielsweise jemand im umfassenden Sinne „schuldig“ oder auch „ein bisschen mitschuldig“ sein, ist aber deutlich erkennbar nicht „unschuldig“; eine Frau kann „sehr weiblich“ oder sogar „unweiblich“ sein, bewegt sich dabei aber noch im Bedeutungsfeld von „weiblich“, welches von „männlich“ erkennbar unterschieden ist, usw.

Aber diese Art der Ordnungsstiftung ist keineswegs zwingend – das lässt sich leicht verdeutlichen anhand anderer Ordnungssysteme, die zu ihrer Zeit und in ihrem Kontext ebenso plausibel und überzeugend schienen wie unsere Systeme uns heute erscheinen. Besonders beredte Beispiele dafür, wie viele unterschiedliche Modelle von Ordnung es geben kann, zeigen die Erfinder von Universalsprachen, die alle Gegenstände, Tätigkeiten und Beschaffenheiten in logische Klassen ordnen