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Anja Stiffel

Ehehygiene

Was man so alles tut,
um es mal wieder zu tun

ullstein extra

Für Samuel und alle, die an die Liebe glauben

Inhalt

PROLOG

Am Anfang war das Nichts

Lust-Reise

Die Macht der Gewohnheit macht es gewöhnlich

Fahrt ins Blaue

Sigmund Freude

Schatz, wir haben einen Termin

Karnickel-Attack oder Handwerk will gelernt sein

Wühltisch-Erotik

Expertengeplänkel

Latino in Love

Schweißtreibende Angelegenheiten

Auf Biegen und Brechen zum Gipfel

Flotte Nudel

Wenn das Stück Theater macht

Manöverkritik

Ringelpiez mit Anfassen

Getrenntes Bettgeflüster

Vorläufiger Höhepunkt

Das Ende vom Liebeslied ist aller Triebe Anfang

Dankesbussi

Impressum

PROLOG

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Am Anfang war das Nichts

Ächz. Stöhn. Rumpeldipumpel.

»Ich ruf dich zurück, wir sind gerade noch beschäftigt.« Meine Mutter stöhnt ins Telefon wie eine altersschwache Lokomotive. »Mama, ist alles klar bei dir – du schnaufst so laut?«

Tüt. Tüt. Tüt. Das gibt’s doch nicht. Sie hat einfach aufgelegt. Warum geht sie überhaupt ran, wenn sie keine Zeit hat? Ich weiß natürlich, dass sie aus großem Pflichtbewusstsein heraus immer rangeht, wenn eines ihrer flügge gewordenen Kinder anruft, und normalerweise kann sie dann auch nichts und niemand von einem Telefonat abhalten, aber heute anscheinend doch. Fassungslos und etwas beleidigt starre ich immer noch auf den Telefonhörer. Dann dämmert es mir. Meine tendenziell immer etwas überspannte, fast sechzigjährige Mutter hörte sich gerade eher nach beseelter Lust als nach widrigem Frust an. Kann das sein? Kann das wirklich sein? Hysterische Gedankenströme jagen durch mein Gehirn.

Meine Mutter. Sex. Meine Mutter. Sex. Mutter. Sex – Krise.

Klar weiß ich, dass auch Leute jenseits des zweiten Frühlings noch triebhaften Strömungen unterliegen. Schon meine achtzigjährige Großmutter hat immer zu mir gesagt: »Weißt du, mein Spätzchen, es geht langsam – aber es geht.« Ich bin also eigentlich, was dieses Thema betrifft, ziemlich offen eingestellt. Das, was meine Begeisterung für das muntere Treiben der älteren Generation mindert, ist eine einzige, dafür aber wirklich dramatische Tatsache: Ich habe verdammt noch mal KEINEN Sex mehr. Und somit mein Mann auch nicht – will ich jedenfalls schwer hoffen.

Im Zeitraffer laufen die letzten Monate an meinem geistigen Auge vorbei, und sosehr ich auch hoffnungsvoll in der Erinnerung grabe, mir mag einfach nicht einfallen, wann Jan und ich das letzte Mal übereinander hergefallen sind. Also entweder war ich dabei total angeschickert, oder aber es ist in diesem Jahr einfach noch nichts passiert. Hmpf – wir haben April. Da hilft kein Schönreden mehr. Zwischen dem letzten Mal und heute sind gefühlte tausend Monde vergangen.

Zumal ich Ende letzten Jahres – oder war es schon vor zwei Jahren? – aufgrund exorbitanter Kiloschübe panisch die Pille abgesetzt habe und wir auf Kondome zurückgreifen mussten. Allerdings kann Jan nicht mit den Kautschuk-Hängerchen und konnte dementsprechend auch nicht mit mir. Ich starre meinen Mann an, der neben mir auf der Couch sitzt und zufrieden sein neues iPad streichelt. Vor uns flimmert die Glotze. Es läuft »Bauer sucht Frau«, und tatsächlich sieht es so aus, als würde der reizende Rinderwirt Rudi heute auf dem Scheunenfest einen Treffer landen. Außerdem liegen zwischen Jan und mir noch zwei iPhones, drei leere Packungen Schokolade sowie mein Laptop, das in den Werbepausen für diverse Ad-hoc-Shoppingerlebnisse herhalten muss. Alles in allem ein eher bedenkenswertes als wünschenswertes Szenario. Es stinkt nach ehelichem Kompensationsmüll.

»Jaaan?«

»Hm?«

»Meine Mutter hat Sex.«

»Hm.«

Mehr kommt nicht. Das ist eben mein Mann. Während ich mich stetig durchs Leben emotionalisiere und wie ein Pingpongball von oben nach unten und von rechts nach links sause, ist er stets gleichbleibend ruhig und auf Spur. Verlässlich, verantwortungsbewusst – einer von den Guten. Leider manchmal etwas gefühlsarm und uneuphorisch, was nicht nur mir, sondern auch seinen zahlreichen Mitarbeitern in seiner Firma auffällt. Aber gut, dafür ist er kein Blender, und vor allem haut es ihn weit weniger oft aufs Seelenfresschen als mich.

»Jaaan?«

»Hm?«

»Massierst du mich?«

»Nee.«

Arschloch. Hab ich natürlich nicht gesagt, sondern nur gedacht. Aber schon allein so über meinen Mann zu denken, gibt mir zu denken. Irgendwie bin ich momentan nicht wirklich in meiner Mitte. Ich hab alles, und doch fühlt es sich wie nichts an. Kann es wirklich daran liegen, dass wir beide bei einem Thema so völlig versagen?

Dabei sind Jan und ich doch eigentlich ein Bilderbuchehepaar: beide Mitte dreißig, er, der stets korrekte, Zahlen kombinierende Geschäftsführer einer Werbeagentur, ich die leicht ausgeflippte Kreativ-Texterin mit leichtem Hang zu großer Dramatik und noch größeren Worten. Eine wunderbare Mischung. Wir ergänzen uns prima.

Schon unsere gemeinsame Geschichte – ja, wir haben eine Geschichte – ist wunderbar. Er stolperte auf dem Oktoberfest stockbesoffen in meine Arme und schrie »Servus«, und ich, nicht minder trunken, schubste ihn von der Bank und schrie: »Hau ab!« Er blieb, biss sich zu »Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?« von Wolle Petry an meinem Ohr fest und ließ erst wieder locker, als ich ihm hoch und heilig versprach, mich zu melden. Normalerweise waren mir ja Männer, die offensichtlich was von mir wollten, ein Greuel. Ich war Jägerin und ließ mich nur ungern fangen. Aber Jan war irgendwie anders – er wollte mich, ließ aber seine Finger von mir. Wenig Geknutsche, keine großartige Nähe und erst Wochen nach der ersten absichtlichen Begegnung der erste Sex (von zarten Streicheleinheiten in intimeren Regionen als dem Gesicht mal abgesehen). Ich weiß es noch wie heute, als er mich bei unserem ersten richtigen Date mit den Worten verzauberte: »Weißt du, mir ist Sex nicht ganz so wichtig. Wir können uns da echt Zeit lassen – magst auch Snickers?«

Ein Mann, ein Wort – bis heute. Wahrscheinlich wäre jede andere Frau bei diesen Worten sofort davongerannt. Ich bin geblieben. Zum einen, weil ich ihn wahnsinnig süß fand, zum anderen weil er endlich mal keiner von diesen männlichen Egomanen war, mit denen ich es sonst so zu tun hatte. Keiner, der mich auf eine SMS fünf Tage warten ließ, nur von hinten konnte und mich aus dem Bett stieß, wenn Schlafenszeit war. Nein, Jan war einer für die Zukunft – das spürte ich sofort.

Und ich sollte recht behalten. Exakt ein Jahr nach unserem ersten Kennenlernen wurde ich schwanger (da soll mal einer sagen, das Oktoberfest lohnt sich nicht), und es wurde sofort, aber nicht deswegen geheiratet. Heute haben wir mit Paul einen phantastischen Sohn, leben in einer tollen Wohnung in einer tollen Gegend und verfügen über Jobs, die wir lieben, und Freunde, die uns als Paar mit und in unserem ganzen Drumherum bewundern. Wir sind charmante Gastgeber, talentierte Köche, sagenhafte Eltern – die heilige Familie. Stets gelassen und alles andere als streitsüchtig. Ja, eine Verbindung, die eigentlich das Wort Ewigkeit nicht zu scheuen bräuchte. Nur eines ist bei all dem Drumherum irgendwie völlig in Vergessenheit geraten – die Lust aufeinander.

Fakt ist: Jan und ich leben mittlerweile wie Hänsel und Gretel nebeneinander her. Halten Händchen wie Brüderchen und Schwesterchen und erzählen uns Märchen von längst vergangenen Zeiten. Von damals, als ich noch die verführerische Hexe war und er mir mit Vorliebe Feuer unterm Hintern machte. Seufz.

»Jan?«

»Hm?«

»Liebst du mich?«

Jan lächelt mich milde an, tätschelt mein Knie und checkt seine E-Mails, ich checke daraufhin, ob vom Chardonnay noch was da ist. Mittlerweile küsst Rammelrudi seine Sachsen-Braut, und mir rinnen ein paar stumme Tränen über das Gesicht. Normalerweise nicht weiter bemerkenswert – ich heule ja schon bei der Merci-Werbung, doch heute ist es anders, heute weine ich über uns.

Es wäre natürlich einfach zu sagen: Jan ist an allem schuld, aber ich muss ehrlich sein. Auch ich trage einen nicht unwesentlichen Teil zu unserem zölibatären Dasein bei. All das, was ich ihm insgeheim vorwerfe, trifft nämlich eigentlich auch auf mich zu. Begehren und Leidenschaft meinerseits – Fehlanzeige. Ich kann weder zulassen, noch kann ich mich einlassen, noch mach ich den ersten Schritt. Im Grunde gibt es nur einen Menschen, der momentan wirklich an mich rankommt, und das bin ich.

Eigenliebe (auch Masturbation genannt) ist aber auch was Herrliches. Man befriedigt in aller Seelenruhe und ohne Zeitdruck vor sich hin, niemand erwartet etwas von einem, und man kann selbst das Tempo bestimmen. Außerdem schmutzt es nicht, und großartige schauspielerische Fähigkeiten sind auch nicht gefragt. So unkompliziert und multipel kommt man selten zum Orgasmus.

Später im Bett, während Jan einkokoniert – dafür baut er aus seinem Bettzeug so eine Art Sarg – meilenweit von mir entfernt liegt, schicke ich mich daher an, mein wahnsinniges Fingerspitzengefühl mal wieder an mir selbst unter Beweis zu stellen. Der Erfolg lässt auch nicht lange auf sich warten. Die Reaktion leider auch nicht: »Was tust du da?«

Jan schaut mich leicht irritiert aus seinem Kissenwust heraus an. Zack verschwinde ich schamesrot unter der Decke.

Stille. Mein Herz pocht bis in die Schläfen hinein. Gott ist mir das alles peinlich. Erinnerungen an den einen Familienurlaub von vor gut zwanzig Jahren werden wach. Meine Cousine und ich beide gemeinsam in einem Zelt und gemeinsam auf einer Doppelluftmatratze. Mich überkommt das Feeling und meine Cousine aufgrund exorbitanter Campingbett-Schwingungen wenig später die Seekrankheit …

Ich sollte wirklich aufhören damit. Über zwei Jahrzehnte Selbstbefriedigung sind echt genug. »Schatz. Schaatz.« Jans Stimme dringt dumpf an meine heißen Ohren. Ich hmpfe zurück. Wieder Stille. Dann plötzlich spüre ich durch die Decke hindurch ein leichtes Vibrieren an der Oberfläche. Was ist das denn jetzt? Neugierig grabe ich mich aus meiner Dunkelkammer hervor. Jan erwartet mich mit einem breiten Grinsen.

»Warum nimmst denn nicht den Vibrator, den ich dir zum Geburtstag geschenkt habe?« Auffordernd streckt er mir die »Big Jelly«-Lustkeule entgegen. Das Ding steht jetzt seit einem Jahr auf meinem Nachtkästchen und kam bis dato noch nicht mal in die Nähe meiner sensiblen Genitalräume.

»Soll ich den jetzt ausprobieren?« Unsicher sehe ich Jan an.

»Wenn du magst.«

»Und du findest das gut?«

»Na ja, wenn du ihn hast, kannst du ihn doch auch benutzen.«

Irgendetwas an dieser Unterhaltung ist seltsam. Seltsam ernüchternd.

»Aber ich hätte so gerne, dass wir uns gegenseitig auch mal wieder benutzen.« Jetzt ist es raus.

»Echt, ist mir bis eben noch gar nicht aufgefallen, dass du das möchtest.«

Sieben Jahre sind wir jetzt schon zusammen, und noch immer habe ich mich nicht an seinen Sarkasmus gewöhnt. Beleidigt wende ich mich von Jan ab und umarme stattdessen Karl, mein Stoffhündchen. Der kann wenigstens nicht abhauen. Ganz fest presse ich ihn an meine Brust. Wie vor vielen Jahren meine kleine weiße Maus, die ich zum sechsten Geburtstag geschenkt bekommen habe. Leider hat sie diesen Akt der vollkommenen Zuneigung nicht überlebt. Erdrückt von meiner Liebe, was für ein tragisches Schicksal eigentlich.

Während ich so vor mich hin sentimentalisiere, schüttelt Jan akribisch und voller Elan zum zweiten Mal an diesem Abend sein Kissen aus. Könnten Daunenfedern kotzen, dann hätten wir jetzt die Bescherung. Mich nervt es einfach nur.

»Jaaaan, bitte!« Ich hätte auch sagen können: »Hasso sitz«, genauso klingt es nämlich. Immerhin, es wirkt. Jan lässt sich neben mich auf die Matratze sinken und starrt nachdenklich in die Luft.

»Du, Schatz, ich glaube, es ist völlig normal, dass nach ein paar Jahren Ehe die Lust weniger wird. Das sagen doch eigentlich alle.«

Er versucht zu bagatellisieren – wahrscheinlich mit der guten Absicht, mich zu beschwichtigen. Nur eins muss ich ihm wohl noch erklären: den Unterschied zwischen wenig und gar nicht. Aber für heute bin ich einfach durch mit dem Thema. Doch kurz bevor mir die Augen zufallen, fällt es mir wieder ein:

Meine Mutter. Sex. Meine Mutter. Sex. Mutter. Sex. Jan und ich. Krise.

Lust-Reise

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Die Macht der Gewohnheit
macht es gewöhnlich

Ist die Krise erst einmal da, dann geht sie auch nicht so schnell weg. Alles war mir zu viel – ich selbst inbegriffen. Ich fühlte mich abgrundtief hässlich, dauermüde und ungeliebt. Und egal wie viel Geld ich auch für Klamotten, Kosmetika und Friseurbesuche ausgab – der Blick in den Spiegel machte jegliche Hoffnung zunichte, dass sich das auch nur im Ansatz als lohnenswert erweisen würde. Dunkle Augenringe, strähniges Haar und Mundwinkel, die tendenziell nach unten hingen. Ich war scheiße drauf, sah scheiße aus und heulte zu allem Überfluss bei jeder Kleinigkeit wie ein beschissener Kojote los.

Auch jetzt schießen mir sofort die Tränen in die Augen, als die Zahnpasta ihr Ziel verfehlt und nicht wie geplant auf der Bürste, sondern direkt im Keramikbecken landet.

»Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?« Besorgt sieht mich Jan an. Er sitzt auf der Toilette, die Pyjamahose in den Kniekehlen. Sein Anblick macht mich wütend – überhaupt macht mich das alles wütend.

»Musst du ausgerechnet aufs Klo, wenn ich Zähne putze?«, schnauze ich ihn an.

»Hä?«, ist die einzige Antwort, die ich auf meine – in unserem Fall wirklich etwas seltsame – Frage zurückbekomme. Denn bis dato hat sich noch niemand von uns daran gestört, wenn der eine dabei war, sein Geschäft zu verrichten, während der andere sonst was im Badezimmer zu schaffen hatte. Wir können einander ertragen, egal in welcher Situation. Jan und ich sind ein gut eingespieltes Team. Aber vielleicht ist es ja genau das, was uns gegenseitig abtörnt. Dass es eben keinerlei Intimsphäre mehr zwischen uns gibt. Dass wir uns vielleicht besser kennen, als für die Erotik gut ist.

Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Woher soll ich das eigentlich wissen? Ich möchte nur fast wetten, dass sich wenig Pärchen gegenseitig beim Hintern-Abputzen zusehen. Mal abgesehen von den Kleinkind-Verbindungen. Aber da gehört das entwicklungspsychologisch gesehen auch irgendwie zum guten Ton: »Guck mal, was mein Pipimann kann.«

Aber wir sind doch erwachsene Menschen. Mann und Frau. Und als solche will man das jeweils andere Geschlecht doch lieber in Aktion im Bett als auf der Brille erleben. Irgendwie stimmt doch hier alles hinten und vorne nicht mehr. Wo war sie nur hin, die Leidenschaft von früher? Gut, es war nie der Wahnsinnsritt, dafür sind wir einfach nicht die Typen – aber immerhin war es ein zartes Pflänzchen, das wir regelmäßig gegossen haben.

Erschöpft lasse ich mich auf den Badewannenrand sinken und beobachte Jan, wie er putzt, wie er spült, wie er sich die Hände wäscht. Dann setzt er sich neben mich und legt zärtlich den Arm um meine Schulter.

»Was ist denn los mit dir?«, fragt er in liebevollem Ton. Zu betont liebevoll für meinen Geschmack. Ich rücke ein Stück von ihm ab.

»Was los ist? Wir haben keinen Sex mehr. Aber das macht dir ja anscheinend nichts aus.« Das kommt jetzt patziger daher, als es gemeint ist.

Jan sieht mich ernst an. »Natürlich fehlt er mir auch.«

Leider bin ich gar nicht in der Stimmung, ihm zu glauben, was ich auch sofort in meiner gewohnt unverblümten Art loswerde.

»Da merke ich aber nichts von.«

»Du mit deiner Frauenlogik. Warum machst du denn nicht mal den Anfang, von dir kommt ja wohl auch nix«, kontert er, jetzt nicht mehr ganz so nett.

Da hat er schon recht. Aber ich lasse nun mal diesbezüglich lieber den Männern den Vortritt. Ich will im Bett erobert werden und auch diejenige sein, die das Vetorecht auf ihrer Seite hat. Und das hätte ich wohl nicht, wenn ich den Anfang machen würde.

Schon als Teenager, also in der Sturm- und Drangzeit, war bei mir von Drang wenig zu spüren. Während meine Freundinnen auf Partys aufrissen, was ging, stand ich in der Ecke und nuckelte an meiner Cola. Die Angst, als »leichtes Mädchen« zu gelten, stand einfach über allem und überschattete auch das Verhältnis zu meiner ersten großen Liebe. Er war ein Wahnsinnstyp und dementsprechend wahnsinnig gelangweilt von mir prüdem Vogel. Irgendwann verabschiedete er sich dann mit den Worten: »Du schreibst echt besser, als du küssen kannst.«

Er war der Erste einer Reihe von beziehungstechnischen Tiefschlägen. Erst mit Jan trat dann endlich der Mann in mein Leben, der mich so nahm, wie ich bin. Mit all meiner Verklemmtheit und Scham. Jan ist kein Mann, der immer nur das eine will. Er definiert sich nicht über Sex und sieht ihn auch nicht als Gradmesser für ein funktionierendes Miteinander an. Nein, er ist ein Mann, mit dem man auch viel Spaß außerhalb des Schlafzimmers haben kann. Und trotzdem, wie viel Enthaltsamkeit erträgt die Liebe?

Während ich so vor mich hin sinniere, fixiert Jan die Kacheln an der Wand, als wollte er sie hypnotisieren. Zwanzig Zentimeter Badewannenrand zwischen uns fühlen sich plötzlich an wie tausend Kilometer. Und dann diese Stille. Schweigen macht mich nervös. Darin liegt so viel Unberechenbares. Mein Vater war Meister darin. Er strafte mich als kleines Mädchen oft tagelang mit stummer Nichtbeachtung. Als ich einmal unserer Angorakatze mit der Nagelschere die Barthaare stutzte, brachte er es gar auf den traurigen Rekord von zehn Tagen. Was von meiner Kindheit übrig blieb, sind also eine massive Verlustangst und Ungeliebtheitspanik, die an mir kleben wie Hundekacke am Schuh. Auch jetzt machen sich die beiden Scheusale wieder bemerkbar.

Ich schnappe nach Jans Hand. »Es tut mir leid.«

Keine Antwort.

»Ich bin einfach total durch«, rudere ich zurück. Ich will, dass er mir auf der Stelle und sofort sagt, dass er mich noch lieb hat. Das Spiel spielen wir häufig. Meist geht es auf Kosten meines Selbstwertgefühls. Aber besser das Ego unten, als dass der eigene Mann tagelang wie ein trauriger Tiger durchs Haus schleicht.

Jan ist nämlich nicht eigentlich nachtragend, sondern extrem nachleidend. Was, ehrlich gesagt, die schlimmere der beiden Nach-Varianten ist. Oft genügt ein lautes Wort von mir, und er verkriecht sich wie eine verschreckte Schildkröte in seinem Panzer. Konflikte sind für ihn kaum auszuhalten, deswegen riskiert er sie auch nur im äußersten Notfall.

»Warst du eigentlich mal wieder bei deinem Therapeuten?«

Oh, anscheinend ist das hier ein Notfall für ihn. »Nein.« Meine Antwort kommt bissig, denn wenn ich etwas nicht leiden kann, dann das Gefühl, dass ich immer an allem schuld bin. Nur weil ich seit acht Jahren die Couch belagere, heißt das nicht, dass ich diejenige mit dem größten Knacks bin. Ich versuche wenigstens, die Risse in meiner Psyche zu kitten. Aber so ist es immer. Sobald es im ehelichen Gebälk knarzt und ächzt, werde ich als Geräuschmacher ausgemacht. Mein Mundwerk schießt zwar oft schneller und lauter als das von Jan, aber das heißt nicht, dass ich zwangsläufig immer die größeren Wunden verursache. Ich bin einfach hoffnungslos emotional und kann mit rationalen Ansätzen – vor allem was das Leben in einer Partnerschaft betrifft – einfach herzlich wenig anfangen.

Während ich alles aus dem Bauch heraus entscheide, ist Jan ein Wunderwerk an Pflichterfüllung. Kaum hatte er den Ehering am Finger und das Kind im Tragetuch, gab er alles auf, was für ihn einmal sein Leben war: Freunde, Hobbys, Flugschein, Karriere, Cuba Libre … Fast schon beängstigend. Für ihn gibt es nur noch eines – und zwar uns und dazu den Satz: »Ihr seid mir einfach das Wichtigste in meinem Leben.« Wunderschön, das will jede Frau hören. Allerdings weit weniger schön, dass die halbe Welt deswegen glaubt, ich hätte Jan am Wickel. Ich die Dominante, er das arme Schoßhündchen. Vor allem in den Augen seiner Familie scheine ich eine unglaubliche Femme fatale zu sein. O ja, ich steh nämlich auf Yoga, probiere aus, wohin mich die Begeisterung treibt, mag es gerne ökologisch wertvoll und halte absolut nichts von abgelaufener Billigwurst und noch weniger von autoritärer Erziehung. Okay, damit bin ich natürlich auch ein echter Schocker für Jans Sippschaft. Aber vielleicht bin ich das ja auch für ihn.

Wir starren jetzt beide auf die Kacheln. Sie sind gar nicht richtig weiß, sondern mit einem feinen Schmutzfilm überzogen. Ein leichter Schatten, kaum erkennbar, aber doch da – wie der Schatten auf unserer Ehe.

»Jan, bist du glücklich mit mir?« Obwohl die Uhr im Badezimmer eine von der digitalen Fraktion ist, höre ich sie laut ticken. Jan lässt sich Zeit mit seiner Antwort, dann sieht er mich an und lächelt. »Eigentlich schon.« Das »eigentlich« kehren wir mal unter den Teppich. Immerhin hat er nicht »nein« gesagt. Und ich kann mich auch darauf verlassen, dass er meint, was er sagt. Jan lügt nämlich nie. Im Gegenteil. Manchmal übertreibt er es eindeutig mit der Ehrlichkeit. (»Ja Schatz, der Nagellack ist wirklich schön, aber damit fallen deine krummen Zehen doch noch viel mehr auf.«) Tja, man kann einfach nicht alles haben. Er bekommt von mir schließlich auch nie seinen heißgeliebten Hackfleischstrudel serviert (kann Mama eh am besten).

»Friede?«, frage ich ihn.

»Friede«, sagt er, lächelt und umarmt mich. Ganz, ganz fest. Das macht er auch nur bei mir. Bei Freunden, Bekannten und Verwandten hält er meist einen gehörigen Sicherheitsabstand. Mit Körperkontakt hat er es nicht so.

Für den Moment geht es mir wieder besser. Auch wenn ich weiß, dass nicht alles wirklich gut ist. Gemeinsam löschen wir das Licht im Badezimmer, gemeinsam werfen wir einen letzten Blick auf unser schlafendes Söhnchen, und gemeinsam gehen wir ins Bett. Letzteres haben wir in sieben Jahren im Übrigen kein einziges Mal ohne den anderen getan. Jetzt mal die Zeiten ausgenommen, wo einer von uns krank oder auf Geschäftsreise war. Kein spannender Film (nicht mal »Bauer sucht Frau«), keine noch so frühe Uhrzeit konnte uns jemals davon abhalten, zu zweit in die Koje zu steigen. Meine Freundinnen fragen mich oft verwundert warum, und ich antwortete nicht selten: »Darum«. Eine wirkliche Antwort auf dieses Phänomen gibt es nicht. Zumal es umso verwunderlicher erscheinen mag, wenn man weiß, dass wir uns im Schlafzimmer außer zum Betten-Ausschütteln, Kokons-Bauen und eben Schlafen kaum zu einer anderen Aktivität hinreißen lassen.

Aber wenn hinreißen, dann tatsächlich nur im Schlafzimmer. Früher musste manchmal noch pünktlich zur Primetime das Sofa herhalten, aber erstens war mir das irgendwann zu berechenbar und zweitens mal ehrlich: Wer will schon gerne zwischen Jauch und Zwegert eine Nummer schieben? Beim »Tatort« (sonntägliches Pflichtprogramm) lief im Übrigen nie was. Der Grund liegt auf der Hand: keine Werbepausen, keine Pause fürs Werben. So einfach ist das. Also blieb nur noch die banale Schlafstatt. Und da diese selten auf dem Küchentisch, auf Badezimmerfliesen oder sonst wo zu finden ist, waren unsere sexuellen Ortsbegehungen wahrhaft von begrenzter Natur. Apropos – zwischen Gräser, Wiesen und Feldern lief natürlich auch nix.

Jan ist diesbezüglich einfach wenig experimentierfreudig und lebt außerdem in ständiger Angst davor, dass ihm die Nachbarn dabei zusehen, wie er sich die Knie aufschubbert.

Heute schubbert sich nichts mehr. Jan ist müde. Ich bin müde. Gemeinsam sind wir es irgendwie müde. Nachdenklich starren wir beide an die Schlafzimmerdecke – wieder diese Schatten. Jan richtet sich auf und sieht mich an. Ein Novum, denn einmal im Bunker, kommt er normalerweise selten vor dem Weckerklingeln wieder daraus hervorgekrochen.

»Weißt du was, wir fahren übers Wochenende weg.«

»Nur wir zwei beide?«, frage ich gerührt nach.

»Nur wir zwei beide«, wiederholt er mit heiligem Ernst. Wir fassen uns an der Hand und halten uns für Sekunden fest. Dann lässt Jan los und wühlt sich zurück in sein Kissen. Nicht berühren – alles wie immer, und das ist für den Moment auch wie immer alles.

»Gute Nacht, mein Schlafschaf«, murmelt er noch, dann schläft er auch schon ein.

»Gute Nacht, mein Zickenzähmer«, antworte ich leise und meine es auch so. Auch so eine Angewohnheit von uns: Jeden Abend ein neuer unsinniger Kosename.

Was uns wohl morgen einfällt?