Uwe Rada

Die Adria

DIE WIEDERENTDECKUNG EINES
SEHNSUCHTSORTES

Pantheon

Alle Fotos in diesem Buch stammen von Inka Schwand.

Erste Auflage

September 2014

Copyright © 2014 by Pantheon Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Karte: Peter Palm, Berlin

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-12545-5

www.pantheon-verlag.de

Für Else Rada,
die mir das Meer gezeigt hat

»Der älteste Kern meiner Sehnsucht liegt auf einer Adriainsel, zwischen duftenden Salbeibüschen, die sonnendurchglühte Steinhaufen und Schaumkronen versilbern, die ›auf hoher See Sirenen waren‹. Doch durch dieses stehende, zeitlose Licht zieht eine Ahnung von Sonnenuntergang. Die Insel weiß inzwischen vom Widerspruch.«

MARISA MADIERI, 1938 – 1996

»Die Sonnenuntergänge auf der östlichen und der westlichen Seite unterscheiden sich sehr. (…) An der einen Küste legt sich die Sonne beim Untergang auf die Oberfläche des Meeres und taucht dann hinein, auf der anderen geht sie am Tagesende hinter einer kleineren oder größeren Anhöhe des Festlands unter. Im Osten wurde davon der Begriff suton geprägt, von sun(ce) (= Sonne) und ton(e) (= versinken); im Westen der Begriff tramonto, weil die Sonne ›hinter dem Berg‹ untergeht. Die Sprachen haben sich auf beiden Seiten der Sonne angepasst.«

PREDRAG MATVEJEVIĆ, GEBOREN 1938

Inhalt

Meine Adria

Gute Griechen, böse Römer

Rimini reloaded

Ravenna statt Rom

Puer Sveviae

Umkämpfte Meeresenge

Mediterrane Küsten oder Schluchten des Balkan?

Kriegerische Adria

Küste und Hinterland

Eine Nacht in Neum

Gesamtkunstwerk Split

Piraten in der Adria

Fiume statt Rijeka

Abbazia revisited

Trauriges Triest

Die Rache der Adria

Mein Istrien

Dank

Chronologie

Zum Weiterlesen

BILDTEIL

Meine Adria

WIE MIR CAORLE ZUM SEHNSUCHTSORT WURDE

Das erste Mal am Meer. Noch traut der knapp Zweijährige dem Ganzen nicht. Etwas unsicher balanciert er auf dem Heck des eierschalenfarbenen Opel Rekord P 2, die Mutter hält ihn fest am linken Arm. Im Hintergrund schon die Adria, beiger Sand, schlierenblauer Himmel, dazwischen ein Bauchnabelstreifen Wasser. Kind und Mutter schauen campingplatzeinwärts, in Richtung des fotografierenden Vaters. Die Entdeckung des Meeres braucht seine Zeit, doch das Maritime ist bereits in Sicht. Ein blauweißgestreiftes Matrosen-T-Shirt trägt das Kind, auf dem Kopf eine Schiffermütze aus Papier, heute ist sie als US Navy Sailor Hat ein Hit bei Faschingspartys. Die Mutter posiert mit einer Kapitänsmütze. Es ist geschafft. Wir sind am Meer.

Eigentlich wollten meine Eltern den Sommer 1965 am Millstätter See verbringen. Doch über Kärnten hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, so dass der Entschluss schnell feststand: an die Adria. Noch ohne Kind hatten Mutter und Vater schon 1960 die jugoslawische Adriaküste erkundet, waren mit ihrem VW Käfer über Villach und Laibach hinunter nach Split und Dubrovnik gefahren – »bis an die albanische Grenze«, wie meine Mutter später stolz betonte. Nun galt es, zum ersten Mal mit Kind zu reisen. Caorle hieß der Sehnsuchtsort, an den es meine Eltern zog.

Das gefiel nicht jedem. Caorle sei mittlerweile »der Strand von Wien, München und Ulm«, gruselte sich Pier Paolo Pasolini schon 1959. Im Auftrag der Illustrierten Successo hatte der Filmregisseur die italienischen Küsten von San Remo bis Triest bereist, runter den Stiefel und wieder hoch, und war dabei auch in das einst verschlafene Fischerdorf gekommen, das nun den Deutschen gehörte: »Auf drei-, viertausend Einwohner und ein-, zweitausend Sommerfrischler aus Venetien kommen achttausend Deutsche«, notierte Pasolini in seiner Reportage Die lange Straße aus Sand – und trauerte den Zeiten hinterher, als Caorle noch ein Geheimtipp war. »Ich schwöre, es war einer der schönsten Orte der Welt. Es gab keine Brücken, die Kanäle und Lagunen überquerte man auf sehr langsamen Flößen. Keiner kannte es.«

Mein Caorle sah anders aus. Nicht sentimental, sondern quietschbunt, ich trauerte nicht über Verlust, sondern begann zu entdecken: Die lustigen Dreiradlaster, auf denen die Lautsprecher unentwegt plärrten. Das Gelato am Strand, das so ganz anders schmeckte als das Softeis im schwäbischen Eislingen. Das Zelt, das nun für drei Wochen die heimatliche Wohnung ersetzte. Nichts davon würde ich, der Zweijährige, in Erinnerung behalten, nur den Geschmack dieser drei Silben: Ca-or-le. Mein erstes Mal am Meer wird immer mit dem Fischerort verbunden sein, der Pasolini zerronnen war wie Sand zwischen den Fingern.

Zwei Jahre später fuhren wir erneut nach Caorle. Wieder über Tauernpass und Villach. Wieder das Kanaltal hinab nach Udine. Wieder über die öde, ebene Vorlagunenlandschaft, Strandhinterland. Auch von diesem zweiten Adriaurlaub gibt es ein Foto. Es zeigt mich mit einem Mädchen im Schlauchboot. »Ursula aus Bayreuth«, wusste meine Mutter noch lange danach. Meine Eltern hatten sich mit Campingplatznachbarn angefreundet – und ich mich mit Ursula. Nach der Abreise entdeckte mein Vater ein Jackett, das die Bayreuther Familie vergessen hatte. Weil sie zuvor Adressen ausgetauscht hatten, nahm meine Mutter das Jackett mit nach Deutschland und wollte es von da an seinen Besitzer schicken. Als sie beim Einpacken aber ein Päckchen mit weißem Pulver entdeckte, wurde ihr klar, dass sie als Drogenschmugglerin missbraucht wurde. »Ich hab das Pulver weggeworfen und die Jacke losgeschickt. Nie wieder hab ich von denen gehört. Nicht einmal ein Danke. Das war der Beweis.« Heute kann meine Mutter darüber lachen. Adriageschichten sind Abenteuergeschichten. Nicht immer gehen sie so glimpflich aus.

Fünfundvierzig Jahre später sitzen meine Frau und ich im Auto, im Kofferraum ein kleines Zelt, Isomatten und Schlafsäcke. Campingstühle und Klapptisch hätten nicht mehr in den Renault Clio Baujahr 1997 gepasst. Ohnehin sitze ich lieber im Café und schaue aufs Meer als auf einem Klappstuhl Auto und Zelt zu bewachen.

Damals an der Adria hatten wir alles dabei. Das Zelt war unser Haus, Campingbesteck (nummeriert), Kocher (Spiritus) und Spülschüssel (Emaille) ersetzten die Küche, wobei meine Mutter keinen Zweifel daran ließ, dass der Abwasch im Urlaub Männersache war. Die Urlaubsreise als Schule der Emanzipation – zumindest da hat es geklappt. Auch sonst waren wir eine typische Wirtschaftswunderfamilie. Mein Vater verdiente als kaufmännischer Angestellter das Urlaubsgeld, meine Mutter besorgte den Haushalt. So ging das 49 Wochen im Jahr – bis auf jene drei, in denen wir ans Meer fuhren.

Je weiter wir in den Süden kommen – A9 Berlin-München, dann die A8 Richtung Salzburg – desto mehr Details gibt die Erinnerung preis: Die Reiserouten, die der ADAC aus München schickte, ein auf Kartonpapier gedrucktes Navi der sechziger Jahre; das Autoradio mit dem Schlagergedudel, bis heute kann ich Conny Froboess’ Zwei kleine Italiener auswendig. Wird es am Strand von Caorle immer noch Coco bello geben, die Kokosnussschnitten, die ich in Deutschland noch nie entdeckt habe, obwohl es inzwischen doch auch Orangina gibt im Prenzlauer Berg? Hinter Salzburg der Vorgeschmack des Südens auf einem Wegweiser: Rechts geht es zur Brennerautobahn, geradeaus zum Tauernpass. Wir nehmen die Route über Villach, wie vor fünfundvierzig Jahren meine Eltern.

Seltsames Meer, seltsame Adria, da sie noch immer diesen Klang hervorruft. Die Ostsee bleibt auch nach ausführlichem Besuch ein graues Meer, das Wellenrauschen ist ihr Markenzeichen und der Wind, der an ihr bläst. Auch das Mittelmeer bringt in mir nichts zum Schwingen, bleibt ohne Geschmack auf der Zunge. Es ist mehr die Summe seiner Einzelmeere, als dass es dort ein Caorle gäbe, ein kleiner Ort, stellvertretend fürs Ganze. Der große Historiker Fernand Braudel hat die Adria in seinem Werk über das Mittelmeer einmal das Meer genannt, das von allen Meeren des Südens am ehesten eine Einheit bilde. Natürlich hatte Braudel die Adria der Venezianer vor Augen, die Herrlichkeit der Serenissima, deren Handels- und Kriegsschiffe die Flotten der Griechen, Römer und Byzantiner abgelöst hatten. Die venezianische Adria war im 16. Jahrhundert, von dem Braudels Mittelmeerbuch handelt, der stato da mar, der Meeresstaat schlechthin. Den Zerfall Jugoslawiens und das Schlachten der Völker in den neunziger Jahren hat der französische Historiker nicht mehr erlebt.

Tunnel, Viadukt, Tunnel, Viadukt. Ich weiß nicht, wie es meinem Vater ergangen war. Ich habe vor sechs Kilometer langen Tunneln wie dem Tauerntunnel Respekt. Doch das Ziel kommt mit jedem Tunnel und jedem Viadukt näher. Bald werden wir in Villach sein, jener Stadt in Kärnten, für die es auch einen slowenischen Namen – Beljak – gibt, und in der die wichtigste Straße Italienerstraße heißt. Villach, das ist schon nicht mehr Österreich, das ist schon Süden. Wie auf einer Rutsche wird es von da an bergab gehen, bis nach zwei Stunden endlich die Lagune auftaucht. Dann werden wir da sein, Adria.

Eigentlich liegt Villach am Schwarzen Meer. Die Drau, die im Pustertal in Südtirol entspringt und – als Gebirgsfluss mit der unverwechselbar milchig grünen Farbe – durch Villach strömt, verbindet Kärntens zweitgrößte Stadt mit der Donau. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, sie ist an der Oder geboren, hat einmal vorgeschlagen, Europa nach den Einzugsgebieten der Flüsse zu ordnen. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eines. Wer einmal eine Karte der europäischen Flussregionen, zum Beispiel die Hydrographia Germaniae von 1712, neben eine politische Karte aus derselben Zeit gehängt hat, wird ihr recht geben. Übersichtlicher ist Europa da, und um seine Kleinstaaterei gebracht. Es gäbe in Mitteleuropa nur noch das Rheinland, das Elb- und Oderland oder das mächtige Donauland. Kriege würden, wenn überhaupt, zwischen Rheinländern und Donauländern, Elbländern und Oderländern geführt werden. Würde es dann noch Kriege geben? Flussfragen. Kinderfragen. Letzte Fragen.

Ob sie sich in Villach wirklich zu den Donauländern zählen? An den Laternenmasten auf der Brücke über die Drau flattern, schön in Reih und Glied, Plakate im Maiwind. »Ans Meer!« verkünden sie ihre Botschaft in blau und weiß. Die Schiffsreise auf der Drau zum Schwarzen Meer ist nicht gemeint. Villachs Meer ist und bleibt die Adria – und »Ans Meer!« ist der Titel einer Ausstellung über die Geschichte des Adriaurlaubes der Österreicher. Werner Koroschitz, der Ausstellungsmacher, hat die Villacher nach ihren Urlaubserlebnissen in den fünfziger und sechziger Jahren befragt – und Erstaunliches zusammengetragen. An der Adria, das haben ihm Hunderte von persönlichen Schilderungen und Fotos zu erkennen gegeben, begegneten das österreichische, wie auch das deutsche Wirtschaftswunder zum ersten Mal dem Dolce Vita in Italien.

Es war eine Begegnung mit Folgen bis heute. Aus den Busreisen oder den mühseligen Fahrten mit Moped oder Goggomobil wurden Reisen mit dem Opel Rekord P 2, das Zelt löste bald das Pensionszimmer ab und der Wohnwagen das Zelt. Aus Rimini wurde der Teutonengrill und aus Caorle der »Hausmeisterstrand«. Lange bevor die ersten Flieger in Palma de Mallorca landeten, war die Adria – im Gegensatz zum Mittelmeer und seinem Jet-Set in Cannes, Monte-Carlo und Santa Margherita – zum Inbegriff des Massentourismus geworden. Und mittendrin: meine Eltern und ich. Nicht nur in Caorle war der Urlaub ein Gedrängel, sondern auch in Poreč. 1974 sind wir zum ersten Mal nach Jugoslawien gefahren. Vom bösen »Ostblock« war zu Hause keine Rede. Mein Vater hatte bis 1951, da hatte Tito gerade den Dinar konvertibel gemacht, in der Tschechoslowakei gelebt, er war mit dem Osten vertraut. Für das Kind aber gab es in Poreč Dinge, die es weder in Caorle noch in Eislingen an der Fils gab. Die Klick-Klack-Kugeln zum Beispiel, die wir damals Kastagnetten nannten. Von Jugoslawien aus haben sie in den siebziger Jahren die deutschen Schulhöfe erobert und wurden, aus Sicherheitsgründen, verboten. Armes Deutschland.

Oder Seeigel, putzige, runde Monster auf dem Meeresboden, die, wie man uns warnte, widerliche Stacheln hätten. Die Badeschuhe zogen wir freiwillig über. Dafür war bei diesem Kommunisten Tito das Wasser nicht so flach wie bei den Kapitalisten in Italien. Oder das geheimnisvolle Klavierspiel in den Bergen. Wer spielte da? Waren es Zigeuner? Bis heute will mir mein Gedächtnis weismachen, dass mein Bruder, der inzwischen geboren war, und ich durch den Wald streiften und irgendwo tatsächlich ein Klavier fanden. Verwaist. Wahrscheinlich hat es wieder angefangen zu spielen, als wir, außer Hörweite, zurück am Zelt waren. Furchteinflößende, faszinierende Fremde.

Ich werde den Verdacht nicht los. Vielleicht hat die Adria nur deshalb einen solchen Klang, weil es das Meer meiner Kindheit war. Ein Meer, das es so nie wieder geben wird.

Die Entdeckung der Adria

»Ich bin mit 19 Jahren das erste Mal an die Adria gefahren. Im August 1965 war ich mit vier Freundinnen in Caorle, eine von ihnen war eine Palmers-Arbeitskollegin von mir. Mit dem Zug sind wir bis Portogruaro gefahren und von dort mit dem Bus weiter. Gewohnt haben wir in einer Pension. Die Luftmatratzen haben wir selber mitgenommen.« So lesen sich die Reiseerinnerungen, die Werner Koroschitz in seiner Ausstellung »Ans Meer!« zusammengetragen hat. Welche eindrucksvollere Quelle gäbe es, von der Entdeckung der Adria zu erzählen, als eine kleine Erinnerung, in der von selber mitgebrachten Luftmatratzen die Rede ist. Und natürlich ist in den Anekdoten der Adriareisenden auch von Amore die Rede, vom roten Wein in bauchigen Bastflaschen und von exotischen Früchten, die in Deutschland noch keiner im Kaufmannsladen gesehen hatte.

Ohne es zu wissen, meint Werner Koroschitz, seien die Adriareisenden der fünfziger und sechziger Jahre dem Italienreisenden Goethe gefolgt, der die Spuren ins Sehnsuchtsland ausgelegt hatte, als er das Land pries, »wo die Zitronen blüh’n«. Dolcefarniente: Noch so ein Wort, für das der Meister auf seiner Italienreise 1786 bereits den Weg bereitet hatte: »Hier ist ein Land, so lustig und heiter. Jedermann lebt in den Tag hinein.«

Zwischen Dichterfürst und Teutonengrill gab es aber noch andere Adriareisende: Die standesbewusste Aristokratie der Donaumonarchie, die sich schon Ende des 19. Jahrhunderts in Abbazia vergnügte, dem Nizza der österreichischen Riviera; das aufstrebende Bürgertum, das ihr folgte und in Grado, an der Grenze zu Italien, das erste österreichische Seebad mit Sandstrand bevölkerte; die deutschen und österreichischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, die an der Adria ihre ersten »Reiseerfahrungen« sammelten und diese in Feldpostkarten zu Tausenden in der Heimat verbreiteten; die verwegenen Pioniere des Automobils, die in der Zwischenkriegszeit aufs Neue vom Süden als dem Gegenbild des Nordens träumten.

Sichtbar ist dieses Gegenbild vor allem auf Fotografien. Nicht nur die österreichische Südbahn, die seit 1857 Wien mit Triest verband, hat zur Verbreitung der Adria als Sehnsuchtsort beigetragen, sondern auch ein Amerikaner. 1888 brachte George Eastman seine erste Kodak auf den Markt. Sein Webeslogan galt bis zur Erfindung der Digitalfotografie: »You press the button, we do the rest«. Zum Rest gehörte dann auch noch der Schlager: »Wer dem Erfolgshit Komm ein bisschen mit nach Italien aus dem Jahre 1957 aufmerksam zuhört«, erzählt Werner Koroschitz, »erfährt innerhalb weniger Minuten vieles über die Sehnsüchte und Träume der damaligen Zeit.« Auch die Adria hatte 1954 ihren Schlager bekommen. Rudi Schuricke, der Caprifischer, forderte darin Grüß mir die blaue Adria. Endgültig erreichte Italien dann im Kino sein Massenpublikum. Nur ein Jahr nach seinem Erscheinen wurde Barbara Noacks Erfolgsroman Italienreise – Liebe inbegriffen verfilmt. Eine amouröse Dreiecksgeschichte, das passte ganz zum Land der Amore. Ebenso wie die FKK-Urlauber auf der anderen Seite des gar nicht so eisernen Vorhangs in Jugoslawien. Mich hatte das alles natürlich nicht interessiert. Meine Lust galt der Sandburg. Ein Sehnsuchtsort ist mir die Adria dennoch geworden.

Udine-Nord. Die Hälfte der Autostrada 23 haben wir schon hinter uns. Bald sind wir da. Im Süden, der in meiner Kindheit fast gleichbedeutend war mit dem Meer. Und mit Italien. Seltsam gefühlte Geografie. Deutsche Geografie. In Frankreich gehört zum Süden nicht nur Afrika, sondern auch die Côte d’Azur. Doch Deutschland hat kein Meer im Süden, es hat nur die Ostsee, die darüber hinaus lange Zeit zum »Ostblock« gehörte. Und dann ist da noch die Nordsee, jenes gewöhnungsbedürftige Stück Wasser, das einem die Gewöhnung nicht gönnen will. Ich habe es gewiss unzählige Male versucht. War geneigt, der Nordsee eine Chance zu geben. Umsonst. Immer, wenn ich mich aufgemacht habe zur Nordsee, über Marsch und Deiche, war sie verschwunden. Ebbe hat noch keine Sehnsuchtsorte geschaffen.

Ist mein Süden auch ein deutscher Süden? Wie viele Klischees habe ich im Gepäck auf dieser Reise an die Adria? Goethes Süden, das immerhin weiß ich, hat mit meinem wenig zu tun. Goethes Süden, das waren Rom, Venedig und Neapel, da latschte er ganz auf den Pfaden der Grand Tour, auf der britische Adlige seit dem frühen 17. Jahrhundert das Italienfieber begründet hatten. Doch die Bilder vom Süden, die damals entstanden, halten sich bis heute. »Der Mensch des Nordens handelt mehr nach Überlegung, der Mensch des Südens mehr aus Antrieb.« So formulierte einst Friedrich de la Motte-Fouqué. Die Realität sucht sich ihre Bilder, die Bilder schaffen Realität. So hat sich der innere Kompass des Nordmenschen langsam »gesüdet«.

Nach Süden, und zwar ohne Umschweife, geht es auch auf der A23, der Autostrada Alpe-Adria. Kurz nach Udine-Süd kommt die Abfahrt Palmanova. Hier müssen wir uns entscheiden. Werden wir die Adria in Richtung des Uhrzeigers umrunden? Abbiegen nach Triest und von dort den Weg über Istrien nehmen, über den Kvarner und Dalmatien nach Dubrovnik? So wie meine Eltern 1960, nur, dass wir an der albanischen Grenze nicht haltmachen würden? Oder fahren wir Richtung Venedig und umrunden die Adria entgegen dem Uhrzeigersinn? Wir entscheiden uns für den Westen – und für Caorle.

Palmanova liegt vor uns, die Planstadt aus dem späten 16. Jahrhundert, und Aquileia, die Römerstadt, mit damals mehr als 100000 Einwohnern eine der größten Städte des Imperiums. Doch die Geschichte kann warten. Nun ist es nur noch ein Katzensprung zum Meer. Welche Farbe wird es haben, welchen Geruch? Über dem Himmel sind Regenwolken aufgezogen, sie tauchen die Fahrt auf dem Damm über die Lagune nach Grado in Schatten von Grau. Der Süden empfängt uns mit schlechtem Wetter. In Villach hatte am Nachmittag noch die Sonne geschienen. Auch durch Caorle waten wir durch Pfützen. Immerhin können wir sofort die deutschen von den italienischen Urlaubern unterscheiden. Die Italiener promenieren unterm Regenschirm, die deutschen haben sich unter Outdoor-Kapuzen versteckt. Nach ethnografischem Spaß ist uns dennoch nicht zumute. Je länger wir die Gassen von Caorle erkunden, die Altstadt, den Dom, den Strand, desto blasser wird die Erinnerung. Nein, ich erkenne das Caorle meiner Kindheit nicht wieder. Ich bin kein Rückkehrer. Ich bin ein Fremder an fremdem Ort. Nur Madonna dell’ Angelo rettet die Visite. So wunderbar am Meer steht die kleine Wallfahrtskirche, dass es von nun an eine neue Erinnerung an Caorle geben wird.

Enttäuschender Süden

Ist es ein Trost, dass die Adria schon immer Enttäuschungen bereithielt? Hatte nicht Goethe nach seiner Italienischen Reise auch die Venezianischen Epigramme geschrieben, in denen es vor Regen nur so prasselte? Von seiner zweiten Reise nach Italien schrieb Goethe am 3. April 1790 nach Weimar: »Übrigens muss ich im Vertrauen gestehen, dass meiner Liebe für Italien durch diese Reise ein tödtlicher Stos versetzt wird.« Am Millstätter See, den meine Eltern einst verließen, um nach Caorle zu fahren, mag Regen dazugehören. In Italien ist er ein Skandal.

Und er hat immer wieder Anlass gegeben für heftige Verrisse. Victor Klemperer etwa, der während des Ersten Weltkriegs als Lektor in Neapel arbeitete, notierte voller Respekt: »Das richtige Frieren lernt man überhaupt nur im Süden.« Zuvor hatte bereits Gustav Nicolai, ein preußischer Assessor aus Berlin, dem Süden den Rücken gekehrt – und das interessierte Deutschland genussvoll daran teilhaben lassen. Nach einer völlig misslungenen Italienreise veröffentlichte er 1834 sein Buch Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen. Das Buch, schreibt Dieter Richter in seiner Abhandlung Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung, »löste bei den Zeitgenossen einen Sturm der Entrüstung aus«. Tatsächlich hatte Nicolai einen Frevel begangen, als er dem Sehnsuchtsland seine eigenen Erfahrungen entgegengesetzt hatte: »Passtorturen an den Grenzen, Schmutz und Unflat auf den Straßen, elende Speisen in den Herbergen, unverschämte Bettler, betrügerische Gastwirte, Ungeziefer in den Betten«.

Ja, es ist ein Trost, zumal der Regen bald aufhörte, nachdem wir Caorle verlassen hatten. Und natürlich sitzt es sich im Auto trockener als in einer Kutsche zu Zeiten Goethes und Nicolais. Aber auch deren Verrisse hatten an der Sehnsucht zahlreicher deutscher Urlaubergenerationen keinen bleibenden Schaden angerichtet. So groß war der Wunsch nach Dolce Vita und Dolcefarniente, dass sogar meine Generation, die Kinder des Wirtschaftswunders, ihren Süden an der Adria suchte.

Das Land der Kindheit ist nun hinter mir – um Bibione, Lignano und Jesolo haben wir einen großen Bogen gemacht. Kaum ist das Lagunenvorland durchquert, beginnt adriatisches Industrieland, verlassene Fabriken, abgebrochene Schornsteine. Caorle, das ist mir nun bewusst, war nur der Auftakt: Land der Kindheit revisited. Sehnsuchtsort abgehakt. Nun habe ich den Blick wieder frei. Nun kann ich mich dem Meer ergeben und auf seine Stimmen hören. Auf die Stimmen aus den Tiefen der Vergangenheit oder die an seiner Oberfläche. Gleich taucht die urbane Hölle von Mestre auf, der Hinterhof Venedigs. Wären wir in Palmonova statt in Richtung Venedig nach Triest gefahren, hätte ich es wohl eher begriffen. Die »Dichotomie von Norden und Süden«, wie Dieter Richter sie nennt, ist das deutsche Bild, das wir von der Adria haben. Deutsch sind auch die Fotos meiner Kindheit, deren Anblick mich vor der Reise an dieses Meer des Südens so fasziniert hat.

Lässt man diese Bilder hinter sich und taucht ein in Geschichte und Gegenwart dieses Meeres, treten ganz andere Dichotomien zutage. Die zwischen Küste und Hinterland zum Beispiel, zwischen der Zivilisation und ihren Feinden, wie man es heute noch in Dubrovnik betont. Und natürlich: Viel mehr als ein Meer des Südens ist die Adria ein Meer gewesen, in dem sich der Westen und der Osten, der Okzident und der Orient begegneten – und noch immer begegnen. Auch das hat Fernand Braudel, der Historiker des Mittelmeers beschrieben: »Die Adria ist nicht nur italienisch. Da sie genau genommen nicht von Norden nach Süden, sondern von Nordwesten nach Südosten verläuft, ist sie die Straße der Levante, die Straße der alten Handelsbeziehungen (…) Im Grunde ist die Zivilisation der Adria gemischt, die Einflüsse des Orients machen sich ebenso bemerkbar wie das Überleben von Byzanz.«

Welche neuen Bilder wird dieses Meer in mir hervorbringen? Welche Adria erleben wir in Apulien und Albanien? Welche in Montenegro und Dalmatien? Gibt es die Gemeinsamkeiten noch, die Fernand Braudel einst so betonte, oder gibt es sie wieder? Und wie wird es heute in Poreč aussehen, einen Zusammenbruch des Kommunismus und einen Krieg später? Adriafragen. Europäische Fragen.

Gute Griechen, böse Römer

WIE DIE ADRIA ZU IHREM NAMEN KAM

Normalerweise kann sich der Canal Bianco in Adria nicht mit dem mondänen Canal Grande in Venedig messen oder mit dem Vena-Kanal in Chioggia, der dieses Venedig en miniature zusammenhält wie eine Gräte den Fisch. Im November 1951 schaffte es der Canal Bianco aber in die Schlagzeilen. Ein Reporter des Nachrichtenmagazins Spiegel war in die Kleinstadt südlich von Chioggia gereist und berichtete erschrocken, dass Adria »mitten in einem über Nacht entstandenen See von der dreifachen Größe des Lago Maggiore« lag. Tatsächlich waren 20000 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen. Mehr als hundert Personen starben. Das Hochwasser des Po, zu dessen Mündungsarmen auch der Canal Bianco in Adria gehört, war das verheerendste, das il fiume grande, der große Strom Italiens, bis dahin hervorgebracht hatte.

Am dramatischsten war die Lage in Rovigo, der Provinzhauptstadt, und in der Stadt Adria. Hier dauerten die Aufräumarbeiten bis weit in den Dezember hinein. Der Canal Bianco floss nun nicht mehr, wie bislang, in den nördlichen der sechs Mündungsarme des Po, den Po di Levante. Er hatte sich ein ganz altes Bett zurückerobert und mündete in den Adige, die Etsch, die zwischen Adria und Chioggia ins Meer strömt.

Die Bilanz des Jahrhunderthochwassers am Po: Tausend Quadratkilometer Land waren überschwemmt. Neben den Hundert Menschen kamen 10000 Rinder, 8000 Schweine, 600 Pferde und 400000 Stück Federvieh zu Tode. Ein Fünftel der jährlichen Zuckererzeugung war vernichtet. Der Po, als Eridanus bei Griechen und Römern einst ein Strom des Lebens, war zum Fluss des Todes geworden.

Unweit des Canal Bianco wartet Fabrizio Boscarato, ein Wissenschaftler am Nationalmuseum von Adria. An die Flut erinnert er sich nicht, er ist später geboren, doch Zeitgeschichte ist ohnehin nicht sein Thema. Boscarato ist Archäologe, also ein Fachmann für den langsamen Fluss der Geschichte. Das Adria, das er in seinen Erzählungen aufleben lässt, ist nicht das Adria der fünfziger Jahre und auch nicht das Adria der Frühen Neuzeit, in der Venedig die Niederungen der Po-Ebene fruchtbar gemacht und die Nebenarme des Po in ein künstliches Bett gezwängt hatte. Boscaratos Adria ist das der Veneter und Etrusker, der Griechen und der Römer. »In der Antike war Adria ein wichtiger Handelsort im Mittelmeerraum«, erzählt er stolz und zitiert den römischen Geschichtsschreiber Livius: Der hatte berichtet, dass die Etrusker zwölf Städte in der Po-Ebene gegründet hatten, darunter auch Adria, das er Atria nannte.

»Doch die Stadt war schon länger besiedelt«, betont Boscarato und zeigt auf die Grabfunde in den Vitrinen des Museums. »Das sind venetische Gräber. Adria existierte schon, bevor die Etrusker in der späten Bronzezeit aus Latium über den Apennin in die Po-Ebene gekommen waren.« Allerdings war die Po-Ebene damals noch weitgehend von Menschenhand unberührt, die Landschaft noch ungegliedert und wild. Doch Adria war nicht in dieser Wildnis, sondern an der Küste gegründet worden. Vor allem mit den Griechen fand an der Mündung des Po ein reger Handel statt: »Die Griechen brachten Wein, Öl und wunderschöne Keramik nach Adria«, erklärt Fabrizio Boscarato. »Aber sie hatten nicht genügend Boden, um Gemüse und Getreide anzubauen. Also mussten sie Getreide importieren. Das war also der Handel: Wein, Öl und Keramik gegen Getreide.«

Auf einer Karte im Museum in der Via Giacomo Badini sind die Stadtstaaten eingezeichnet, die die Griechen im Verlauf ihrer Kolonisierung im Mittelmeerraum und auch an der Adria gegründet hatten. »Epidamnos, das die Römer Dyrrhachium nannten, also das heutige Durrës in Albanien, war die erste griechische Kolonie an der Adria« erklärt Boscarato. »Es war eine Gründung von Korinth und Korfu. Das Gleiche gilt für Apollonia, ebenfalls in Albanien.« Die Stadt Adria ist nicht unter den griechischen Kolonien auf der Karte eingezeichnet. Nicht rot, sondern grau ist es in der Kartenlegende verzeichnet – unter »sonstige Städte«. »Adria war keine griechische Kolonie, sondern eine unabhängige Stadt und ein gleichwertiger Handelspartner. Es war als Wirtschaftsstandort so bedeutend, dass die Griechen schließlich das ganze Meer nach Adria benannten.«

Und noch etwas ist auf der Karte zu sehen. »Adria war eine richtige Hafenstadt, es war sogar der größte Hafen am Adriatischen Meer«, betont Boscarato und zeigt auf eine andere Karte. Sie zeigt nicht nur den Canal Bianco, der einmal Po di Adria hieß, sondern auch die Veränderung der Küstenlinie im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte. »Seit seiner Eindeichung und der Trockenlegung der Niederung hat der Po immer mehr Sedimente abgelagert. So entstand das Delta, das sich immer weiter hinaus aufs Meer schob.« Heute ist Adria keine Hafenstadt mehr. Die Stadt, die dem Meer den Namen gab, liegt 25 Kilometer im Landesinnern.

Vom Ionischen Golf zum Mare Adriaticum

In seinem gelehrigen Buch über das Mittelmeer hat der britische Historiker David Abulafia daran erinnert, das dieses Meer schon immer ein »Meer mit vielen Namen« war: »Für die Römer war es ›unser Meer‹, für die Türken das ›Weiße Meer‹ (Akdeniz), für die Juden das ›Große Meer‹ (Yam gadol), für die Deutschen das ›Mittelmeer‹ und für die alten Ägypter das ›Große Grün‹.« Die italienische Übersetzung des Werkes von Abulafia trägt übrigens den Titel Il mare Grande. Anders als das Mittelmeer ist das Adriatische Meer ein Meer mit nur einem Namen. Von der Adria spricht man in Venedig und im albanischen Vlora, im apulischen Bari und im montenegrinischen Bar. Mare Adriatico oder einfach nur l’Adriatico nennen die Italiener die Adria, Jadransko more oder Jadran die Slowenen, Kroaten, Bosnier und Montenegriner und Deti Adriatik die Albaner. Auch außerhalb des Adriaraums zieht niemand den Namen in Zweifel. Aдриатичеkoe морe heißt es im Russischen, auf Spanisch Mar adriático und auf Türkisch Adryatik Denizi.

Was heute so selbstverständlich klingt, hat sich freilich erst in der Spätantike durchgesetzt. Bevor die Griechen im achten Jahrhundert vor Christus mit der Kolonisierung des Mittelmeers und der Adria begannen und das Magna Graecia genannte Großgriechenland entstand, war das Adriatische Meer unter dem Namen »Ionischer Golf« bekannt. Zu dem zählte neben dem adriatischen Binnenmeer auch das heutige Ionische Meer. So jedenfalls behauptet es der Dramatiker Aischylos (525 – 456 v. Chr.) in seiner Prometheus-Sage. Thukydikes (454 – 399 v. Chr.) spricht davon, dass »Epidamnos eine Stadt ist, die rechterhand liegt, wenn man in den Ionischen Golf segelt«. Auch Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung (490 – 424 v. Chr.), erwähnt den Ionischen Golf. Allerdings berichtet er auch davon, dass das Meer lange vor den Griechen bekannt gewesen sei. Bereits die Phönizier hätten dort mit den Venetern Bernstein gehandelt. Fabrizio Boscarato, unser Cicero im Museum von Adria, hat also recht. Seine Stadt ist vom obersten Geschichtsschreiber des Abendlandes zur Erstgeborenen an der Adria erhoben worden.

Herodot war es auch, der zum ersten Mal den Namen Adria erwähnte. Allerdings, schränkt William Smith, der Londoner Herausgeber der Griechischen und Römischen Geographie, ein, habe er damit noch kein Meer, sondern eine Region beschrieben. Jüngste Forschungen wie die von Simonetta Bonomie bringen sogar einen Fluss namens Adria ins Spiel. Nach diesem Fluss, schreibt der Historiker Hecataeus von Milet (550 – 476 v.Chr.), sei sowohl die Stadt Adria als auch später das Adriatische Meer benannt worden. Allerdings verlandete der Fluss bereits im ersten Jahrhundert vor Christus, so dass heute die noch existierende Stadt Adria als etymologischer Ursprung gilt. Als ich das erfahre, scheint es mir, als wandelte ich in den Hallen des Museums wie auf dem Boden eines alten, eines sehr alten Meeres.

Freilich ließen sich die Griechen, die vom Ruhme der Handelsstadt Adria und des gleichnamigen Meers berichteten, etwas Zeit. Adria, das war zunächst nur der Name des nördlichen Teils des Binnenmeers. Bei Apollonius von Rhodos (295 – 215. v. Chr.) finden wir neben der Adria (Adriatike thalassa oder Adriatikos kolpos) auch das Ionische Meer (Ionios kolpos). Letzteres war nach wie vor das wichtigere, es reichte im dritten vorchristlichen Jahrhundert vom Peloponnes nordwärts bis zur Meeresenge zwischen dem Gargano, den Inseln von Palagruža und den Inseln Vis und Hvar. Erst bei Strabon (63 v. Chr. – 23 n. Chr.) wurde schließlich das ganze Meer zur Adria, und die Straße von Otranto zur Grenze zwischen Adriatischem und Ionischem Meer. Auch geografisch hatte dieser Gelehrte vom Schwarzen Meer die Adria ganz richtig als enges Meer beschrieben, das sich in einer Nordwest-Richtung ausdehne. Selbst die Breite von höchstens 220 Kilometern und die Länge von 820 Kilometern, die er angab, sind korrekt. Strabon ist also der erste Botschafter des Adriatischen Meeres, wie wir es heute kennen und nennen.

»Leider waren die Römer etwas ignoranter als die Griechen«, bedauert Fabrizio Boscarato und führt uns, etwas zögernd, in die römische Abteilung seines Museums. »Die Römer haben sich geweigert, das Meer nach der Stadt Adria zu benennen. Stattdessen haben sie es Mare Superum genannt.« Das »Obere Meer«, das war der Antipode zum »Unteren Meer«, dem Mare Inferum, mit dem Rom das Tyrrhenische Meer bezeichnete. Nicht ganz unschuldig daran war wohl auch Vergil (70 – 19 v. Chr.), der Schöpfer der Aeneis und mit ihr des Gründungsmythos von Rom. Auf seiner Flucht aus Troja habe Aeneas, der Stammvater Roms, bei Butrint das Meer erreicht, berichtet Vergil. Er habe es überquert und sei bei Castro auf den äußersten Zipfel des Stiefelabsatzes der italienischen Halbinsel getroffen. Doch Süditalien war schon von den Griechen besiedelt, also segelte Aeneas weiter, umfuhr Sizilien und landete schließlich auf der noch unbesiedelten Westseite der italienischen Halbinsel. »So gehörte das Tyrrhenische Meer fortan zu Rom, während die Adria das Meer der Griechen war?«, frage ich. Fabrizio Boscarato nickt. Ja, genau so war es.

Der Archäologe im Museum von Adria ist nicht der Einzige, der so denkt. »Die Römer mochten die Adria nicht. Sie haben sie gefürchtet«, schrieb in den fünfziger Jahren der Brite Harry Hodgkinson in seinem Buch The Adriatic Sea. Hodgkinson verwies auf die vergleichsweise raren Hinterlassenschaften der Römer an diesem Meer: die Arena von Pula, ein Triumphbogen in Ancona, die Tiberiusbrücke in Rimini und der Diokletianspalast in Split. »Nie haben die Römer die Adria als das Innere ihres Reiches begriffen. Für sie war das Meer immer eine Grenze zu feindlichen Gebieten.«

»Doch an der Bedeutung der Hafenstadt Adria kamen auch die Römer nicht herum«, freut sich Fabrizio Boscarato. »Je reicher Adria mit dem Handel wurde, desto mehr wurde aus dem Oberen Meer das Adriatische Meer.« Der Archäologe zitiert noch Plinius den Älteren (23 – 79 n. Chr.), der als erster Römer von einem Mare Adriaticum sprach, dann hat er seine Lektion beendet und schließt das Museum ab.

Wer durch die Stadt am Canal Bianco schlendert, kann nicht übersehen, dass die guten alten Zeiten lange vorbei sind. Aus der wichtigsten Hafenstadt an der Adria ist im Verlauf der Jahrhunderte ein Provinznest mit 14000 Einwohnern geworden, das von anderen Städten in der Po-Niederung, Rovigo etwa oder Ferrara, in den Schatten gestellt wird. Es waren, Fabrizio Boscarato hatte es angedeutet, die Römer, die die goldene Zeit von Adria im vierten Jahrhundert vor Christus beendet hatten. Das hatte vor allem militärische Ursachen. Damals war es unruhig geworden in Oberitalien. Von Norden wanderten die Kelten ein und verdrängten die Etrusker, deren Existenz in der Po-Ebene, so vermuten es die Forscher, ohnehin nicht auf Dauer angelegt war. Die neue Macht im Süden dagegen hieß Rom. Als nach den Punischen Kriegen Karthago, der große Konkurrent an der nordafrikanischen Küste des Mittelmeers, ausgeschaltet war, überquerten die Römer den Apennin und expandierten nach Norden. Die Po-Ebene, die sie Padana nannten, hatte sich als Schwachstelle bei der Verteidigung der italienischen Halbinsel herausgestellt. Nun wurde sie militärisch und politisch dem aufstrebenden Stadtstaat als Provinz Gallia Cisalpina, das Gallien diesseits der Alpen, einverleibt. Für die Römer waren die Gallier, wie sie die Kelten nannten, die Titularethnie der neuen Provinz. Sie hatten sich nach ihrer Einwanderung in der Padana festgesetzt.

Entsprechend stiefmütterlich wurde Adria behandelt. »Die alte Stadt Adria wurde in keinem der offiziellen Dokumente der Provinz Gallia Cisalpina erwähnt«, heißt es in einer Schrift des Museums, die mir Boscarato mit auf den Weg gegeben hat. Später wurde sie von den Römern sogar in Atria umbenannt. Nichts sollte mehr an das Zusammenleben der Veneter, Etrusker und Kelten erinnern, die vor der römischen Kolonisation dort gelebt hatten. Den Todesstoß versetzte Adria die Gründung von Aquileia am nordöstlichen Ende der Lagune. 3000 römische Legionäre hatten die Stadt aus dem Boden gestampft, die nach Rom bald zur wichtigsten Stadt des Römischen Reiches wurde. »Mit Aquileia bekam Adria einen mächtigen Konkurrenten«, hatte uns Fabrizio Boscarato erklärt. »Nicht mehr an der Po-Mündung endete nun die Bernsteinroute, die von der Ostsee ans Adriatische Meer führte, sondern im sehr viel nördlicher gelegenen Aquileia. Bald nahm es die Rolle ein, die Adria in der vorrömischen Zeit hatte. Es war Hafenstadt und Handelszentrum. Darüber hinaus war es ein militärischer Vorposten, der die nach Nordosten verschobene Grenze des Reiches sichern sollte.«

Adria hatte also kein Glück mit den Römern. Vielleicht war es ihnen aufgrund des Zusammenlebens von Venetern, Etruskern, Kelten und Griechen zu fremd. Da war eine römische Legionärsstadt eine weitaus sicherere Sache. In der Padana selbst hatte Rom aus der sumpfigen Wildnis durch das Anlegen von Gräben eine »blühende Landschaft« geschaffen. Doch Adria, die Hafenstadt, profitierte nicht davon. Im Gegenteil: Seinen Flusshafen am Po hatte Rom sogar von Adria ins weiter südlich gelegene Spina verlegen lassen. Aus Adria, der Stadt der Veneter und Etrusker, die eng verbunden mit den Wassern der Po-Niederung lebten, wurde eine agrarische Stadt. Denn das war der Plan der Römer mit der Padana: Aus dem Land am Po die Kornkammer Italiens zu machen. Häfen dagegen gab es auch andernorts an ihrem Mare Superum. »Nur eines hat Aquileia nicht geschafft«, hatte sich Boscarato freudig die Hände gerieben. »Der Name Adria ist geblieben. Als das Weströmische Reich unterging und in Ravenna ab 540 die Byzantiner herrschten, hat sich die griechische Bezeichnung des Meeres endgültig durchgesetzt.« Aus dem Mare Superum war nun auch in Italien das Mare Adriaticum geworden.

Der Golf von Venedig

In seinem großen Epos Die Mühle am Po schildert der 1891 in Bologna geborene Schriftsteller Riccardo Bachelli die Geburt der italienischen Nation aus der Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl ist sein Roman auch ein scharfsinniges soziales und wirtschaftliches Porträt der Menschen an der Niederung des fiume grande. Wirtschaftliches Zentrum war im 19. Jahrhundert Ferrara, die Geburtsstadt von Lazzaro Scacerni, dem Helden des Romans. Bis ins späte Alter ist ihm ein Kinderreim erinnerlich, der ging so: »Ferrara, Ferrara, du herrliche Stadt! Dort trinkt man und isst und wird fröhlich und satt.«

Reich wurde Ferrara einst durch den Po di Volano. Über die südlichste der Po-Mündungen war die Stadt mit den Salinen von Comacchio an der Adriaküste verbunden. Bacchellis großer Roman ist ein ausuferndes Porträt dieser Landschaft zwischen Wasser und Land, die nach der Römerzeit, der Völkerwanderung und der Zerstörung der Bewässerungssysteme bis zum Jahr 1000 unbewohnbar war und bis ins zwanzigste Jahrhundert, dem Jahrhundert Bacchelis, ein Inbegriff der Wildnis geblieben war.

Ferrara, das aus der unbewohnbaren Padana wieder eine Kulturlandschaft schuf, ist ebenso wie Venedig eine Gründung des Mittelalters, eine Besonderheit in Italien, wo fast alle Städte römischen Ursprungs sind. Im 15. Jahrhundert, da war der stato da mar längst eine Seemacht, war Ferrara durch den Handel mit Salz so reich geworden, dass Venedig die Konkurrenz am Po di Volano sogar ausschalten wollte. Im Dogenpalast hatte ein politischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Um den Handel am Po mit den großen wirtschaftlichen Zentren Mailand und Florenz abzusichern, wollte die Lagunenstadt auch über die terra ferma, das Festland, herrschen. Ein erster Krieg war erfolgreich. 1381 besiegte Venedig im so genannten Chioggia Krieg den großen Konkurrenten Genua. Als Nächstes sollte Ferrara an der Reihe sein – und mit ihm die Kontrolle über die Salinen von Comacchio. Im Mai 1482 segelte Venedigs mächtige Flotte den Po di Levante und den späteren Canal Bianco stromaufwärts und erreichte bald die Stadt Adria. Das einstige Handelszentrum der Veneter und Etrusker wurde geplündert und anschließend dem Erdboden gleichgemacht. »Adria wurde in einen elenden Sumpf verwandelt«, hieß es in einer italienischen Enzyklopädie aus dem 19. Jahrhundert.

In Stellata, einem Dorf westlich von Ferrara, fand der Vormarsch Venedigs aber ein Ende. Inzwischen hatte sich auch Mailand auf die Seite von Ferrara geschlagen, und das Blatt begann sich zu wenden. So endete der Salzkrieg nicht mit einem weiteren Sieg Venedigs, sondern mit einem Unentschieden. Als 1484 Friede geschlossen wurde, blieb alles wie es war. Zwar herrschte Venedig noch immer über die Adria und weite Teile des Mittelmeers. Der Zugriff auf die Po-Ebene und damit die wichtigsten Handelsrouten nach Nordeuropa blieb ihm aber versagt. Mitten durch die Padana hindurch verlief weiterhin die Grenze zwischen dem Herrschaftsgebiet der Dogen und der Familie Este mit ihrem Herzogtum Ferrara. Adria war zwar zerstört, doch sein Geist lebte weiter im Meer, das nach ihm benannt war.

Es gibt da diese Karte von Vincenzo Maria Coronelli aus dem Jahre 1688. Golfo di Venezia olim Adriaticum lautet ihr Titel, im unteren linken Bereich der Karte ist die Lagune von Venedig abgebildet, rechts oben ein stilisierter Mantel des Dogen. Coronelli war am 16. August 1650 in Venedig als Sohn eines Schneiders geboren worden und absolvierte zunächst eine Tischlerlehre. Im Alter von fünfzehn aber entschied er sich für das Klosterleben und studierte in Rom Theologie, Mathematik und Kosmografie. Nach Anstellungen in Parma und Paris kehrte er 1684 nach Venedig zurück und gründete mit der Accademia cosmografica degli argonauti die erste geografische Gesellschaft der Welt. Zu ihren Mitgliedern gehörte unter anderem der polnische König Jan Sobieski. Es war also kein Unbekannter, der da zwei Jahre später seine populäre Adriakarte anfertigte. Oder besser jene Karte des »Golfes von Venedig, einst Adriatisches Meer«, die bis heute als Reprint in zahllosen Buchhandlungen von Venedig bis Bari und von Triest bis Opatija erhältlich ist. Ich habe die Karte an einem regnerischen Nachmittag in einem Antiquariat in Split erstanden – und mich augenblicklich geärgert. »Olim Adriaticum«, das war nicht weniger als der Versuch, die Namensgeschichte der Adria mit dem Segen des Senats der Markusrepublik zu revidieren. Wenn das Fabrizio Boscarato wüsste.

Allerdings standen die Zeichen auf San Marco damals längst auf Niedergang. Mit der Entdeckung der Neuen Welt waren andere Handelsmächte an die Stelle Venedigs getreten. Außerdem hatte die Reformation einen wirtschaftlichen Schub im Norden bewirkt. Auf dem Balkan waren die Osmanen auf dem Vormarsch. Zypern war schon 1573 aufgegeben worden. 1669, keine zwanzig Jahre bevor Vincenzo Maria Coronelli seine Karte zeichnete, verlor Venedig dann auch noch Kreta, den letzten wichtigsten Handelsstützpunkt im Mittelmeer, an die Türken. Venedig versuchte das Beste daraus zu machen und wandte sich der Kunst zu und einem neuen Lebensstil. 1683 eröffnete in der Stadt das erste Kaffeehaus. Außerdem wurde Venedig nun auch für Touristen interessant. Da passt es natürlich ins Bild, an die frühere Größe der Serenissima zu erinnern – und das Adriatische Meer, an dem sich längst die Türken festgesetzt hatten, als »Venezianischen Golf« zu bezeichnen.

Coronelli starb am 9. Dezember 1718 im Alter von 68 Jahren an seinem Schreibtisch in Venedig. Ein Jahr später erklärte Karl VI. Triest und Fiume zu Freihäfen. Beide Städte blühten auf, Venedig verlor dagegen weiter an Einfluss. Ich konnte also aufatmen. Von wegen »Golfo di Venezia«. Auch Venedig hatte meiner Adria den Namen nicht streitig machen können. Heute hängt der Reprint von Coronelli hübsch eingerahmt in meinem Arbeitszimmer – als historisches Dokument venezianischer Vergeblichkeit.

Strada StataleStrada ProvinzialeParco regionale Veneto del Delta di PoSeptem Mária Museo

Dennoch gilt es in Adria andere Schätze zu heben als nur venetische, etruskische und römische Grabbeigaben. Es ist ein etymologischer Schatz und ein unvergleichlicher obendrein. Wo schon auf der Welt wird ein Meer nach einem einzigen Ort benannt?

Nicht nur das Mittelmeer ist, wie David Abulafia gezeigt hat, ein Meer der vielen Namen. Auch die Ostsee hat uns bis heute ein Palimpsest der Namen hinterlassen. Ostsee nämlich heißt sie nur in Deutschland. Aus der Warte von Lübeck und der Hanse war es das Meer, das in den Osten reichte. In Polen heißt es dagegen morze bałtyckie, hergeleitet vom antiken Mare Baltikum. Die Esten dagegen bezeichnen das Meer, auch das eine Frage der Perspektive, als Westmeer. Schließlich das Schwarze Meer. Wo einst die Argonauten das Goldene Vlies raubten, war unter Venedig und Genua vom Mare Maggiore, dem großen Meer, die Rede. Nach der türkischen Eroberung Anatoliens wurde dieser Begriff ins Türkische übersetzt: kara deniz. Doch kara heißt im Türkischen nicht nur groß, sondern auch trüb und finster. So wurde aus dem Großen Meer das Schwarze Meer, im Gegensatz zum Weißen Meer, Akdeniz, wie die Türken bis heute die Ägäis und das Mittelmeer nennen.

An der Adria dagegen, mit ihren sechs Anrainerstaaten, an deren Küste zwei und in deren Einzugsgebiet 44 Millionen Menschen leben, herrscht noch das griechische Erbe – und mit ihm die Erinnerung an einen multikulturellen Ort, der einst die Adria und ihren Handel geprägt hat. Wo die Vielfalt schon immer zu Hause war, braucht es kein Namenswirrwar. Ganz so meinte es auch Fabrizio Boscarato, der Archäologe, als er betont hat: »Adria war ein Schmelztiegel der Kulturen, ein Symbol für das Zusammenleben verschiedener Völker.«