Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: http://www.keltermedia.de
E-mail: info@kelter.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-644-2
»Du willst, daß wir uns trennen?« Britta Maienhöfer trat einen Schritt zurück, als habe der blonde Mann, der ihr gegenüber stand, sie geschlagen. »Aber warum denn, Wim? Ich dachte, wir heiraten… Wir lieben uns doch… jedenfalls… also, jedenfalls habe ich das geglaubt.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, obwohl sie heftig dagegen ankämpfte. Sie schluckte tapfer, dann fragte sie: »Es ist wegen meines Fußes, nicht? Seit der Operation hinke ich, wenn ich müde bin, das weiß ich. Ist es deswegen? Du schämst dich, eine Frau zu haben, die manchmal hinkt.«
»Natürlich nicht, Britta!« sagte Wim Bohland abwehrend. »Wie kommst du denn auf diese dumme Idee? Damit hat das überhaupt nichts zu tun! Nein, es ist einfach so, daß ich mehr Zeit brauche. Ich bin noch nicht so weit, daß ich heiraten möchte, für mich geht das alles viel zu schnell.«
»Aber wir müssen doch noch gar nicht heiraten«, rief Britta eifrig. »Wir können uns so viel Zeit lassen, wie wir wollen!« Sie machte wieder einen Schritt auf ihn zu. »Bitte, Wim, wir waren doch glücklich miteinander – das kann doch nicht von einem Tag auf den anderen einfach vorbei sein.«
Unwillkürlich war er es dieses Mal, der zurückgewichen war, und sie hatte es gemerkt. Sie wurde noch eine Spur blasser.
»Ich kann nicht, Britta«, sagte er heiser. »Es tut mir wirklich leid, ich dachte nicht, daß du es so schwer nehmen würdest. Aber ich glaube, wir passen einfach nicht zueinander. Ich… ich liebe dich nicht, jedenfalls nicht genug. Ich habe dich sehr gern, aber das reicht nicht für eine Ehe.«
Mit hängenden Armen stand sie vor ihm, das hübsche Gesicht blaß, die dunklen Augen darin riesig. »Und seit wann weißt du, daß du mich nicht richtig liebst?« fragte sie tonlos. »Vor einem Monat haben wir noch überlegt, wann der beste Termin für die Hochzeit wäre – und jetzt auf einmal sagst du mir, daß du mich nicht liebst! Wußtest du das damals schon?«
Er antwortete nicht sofort. Dieses Gespräch verlief sehr viel unangenehmer, als er gedacht hatte. Und es dauerte noch dazu sehr viel länger. Er mußte sich beherrschen, um nicht einen ungeduldigen Blick auf die Uhr zu werfen. Wie sehr sehnte er sich danach, sich umzudrehen und hinauszugehen!
»Ja«, sagte Britta in diesem Moment mit plötzlicher Klarsicht, »du wußtest es damals schon, deshalb warst du so zurückhaltend und wenig begeistert. Und ich habe gedacht, du interessierst dich einfach nicht für Hochzeitsvorbereitungen, das ist ja bei den meisten Männern so.«
Jetzt ging sie ganz von ihm weg, lief zum Fenster, stellte sich mit dem Rücken davor. Das Gespräch fand in ihrer Wohnung statt, sie hatten eigentlich gemeinsam zum Essen gehen wollen. Britta hatte Wim eingeladen, um ihren erst wenige Tage zurückliegenden 25. Geburtstag noch ein wenig nachzufeiern, doch jetzt stand bereits fest, daß aus diesem Essen nichts werden würde. Sie hatten beide keinen Appetit mehr.
»Es tut mir leid«, wiederholte Wim mechanisch. Er war ein sehr gut aussehender Mann von dreißig Jahren – groß, blond, schlank, mit einem klassisch geschnittenen Gesicht, in dem vor allem die grau-grünen Augen auffielen. Er war Bankkaufmann und hatte, da waren sich seine Vorgesetzten einig, eine glänzende Karriere vor sich. Bereits jetzt hatte er es weiter gebracht als die meisten anderen seines Alters. Und er wollte noch höher hinaus, ins Management.
Britta hatte nie daran gezweifelt, daß er es schaffen würde. Wim sah nicht nur gut aus, er war auch klug und charmant und übte auf die meisten Menschen, mit denen er zu tun hatte, eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Es war schwer, sich dieser zu entziehen – und für einen Mann mit solcher Ausstrahlung gab es auch im nüchternen Bankgewerbe immer einen Platz.
Sie selbst studierte an der Kunstakademie, und all ihre Lehrer hatten ihr eine Menge Talent bescheinigt. Noch unterstützten ihre Eltern sie und bezahlten ihr ihre kleine Wohnung, denn Geld verdiente Britta bisher nur, wenn sie hier und da Jobs annahm. Von ihren künstlerischen Arbeiten hatte sie erst wenige verkaufen können, doch sie war fest entschlossen, in Zukunft von ihrer Kunst zu leben.
Zwar wären ihre Eltern, die über ein beträchtliches Vermögen verfügten, gern bereit gewesen, sie viel großzügiger zu unterstützen, aber das hätte Britta nie zugelassen. »Ich habe auch meinen Stolz«, sagte sie regelmäßig, wenn die Sprache wieder einmal auf ihr Kunststudium kam. »Und ich will es aus eigener Kraft schaffen, das müßt ihr doch verstehen. Es ist schon wunderbar, daß ihr mir die Wohnung bezahlt – aber mehr kommt nicht in Frage.« Wohl oder übel hatten sich die Eltern mit dieser Haltung ihrer einzigen Tochter abgefunden – und insgeheim bewunderten sie sie dafür.
Britta malte und fotografierte – am liebsten kombinierte sie beides. Ihre Bilder waren Gratwanderungen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, und am glücklichsten war sie, wenn sie daran arbeiten konnte. Erst in den letzten anderthalb Jahren, mit Wim zusammen, hatte sie auch noch ein anderes Glück kennengelernt: Das Glück der Liebe. Sie war davon überzeugt gewesen, daß dieses sie von nun an ebenso beständig begleiten würde wie ihre Kunst.
Nun schien es, als sei das ein Irrtum gewesen. »Es ist also alles aus zwischen uns?« fragte sie mit einer Stimme, die selbst in ihren eigenen Ohren fremd klang. »Wir waren anderthalb Jahre zusammen – und das war’s jetzt? Wenn dieses Gespräch beendet ist, verläßt du meine Wohnung, und wir sehen uns nie wieder?«
»Meine Güte, Britta, du bist doch sonst nicht so melodramatisch! Natürlich sehen wir uns wieder. Wir haben uns immer gut verstanden, daran ändert sich doch nichts! Wir bleiben Freunde, gehen gelegentlich miteinander aus, erzählen uns, was in unserem Leben los ist…«
Britta unterbrach ihn mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. »Das tun wir ganz bestimmt nicht, Wim«, sagte sie leidenschaftlich. »Geh jetzt, ich habe endlich verstanden, was du mir hast sagen wollen. Wir müssen dieses Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen.«
Ihre Augen waren trocken, ihre Stimme war fest. Noch immer stand sie mit dem Rücken zum Fenster, hochaufgerichtet jetzt, den Kopf erhoben. »Leb wohl, Wim. Ich wünsche dir alles Gute.«
Dieser Umschwung kam so plötzlich, daß Wim unsicher wurde und zögerte, obwohl er nichts lieber getan hätte, als Brittas Aufforderung Folge zu leisten. »Aber ich möchte nicht im Unfrieden mit dir von hier weggehen«, sagte er. »Bitte, Britta, wir hatten eine schöne Zeit miteinander – müssen wir uns denn jetzt wie Fremde voneinander verabschieden?«
Sie ging nicht auf seine Worte ein. »Geh jetzt bitte!« Ihre Stimme klang unnachgiebig, und so drehte er sich um und ging zur Tür.
Dort drehte er sich noch einmal um. »Leb wohl, Britta«, sagte er leise. »Ich möchte immer noch, daß wir Freunde bleiben. Wenn du nicht mehr böse auf mich bist, dann rufe mich an, ich wäre darüber sehr glücklich.«
»Ich bin nicht böse auf dich«, sagte Britta. »Aber ich werde ich nicht anrufen. Leb wohl, Wim.«
Ihm fiel keine passende Erwiderung mehr ein, und so verließ er den Raum und gleich darauf die Wohnung. Er zog die Tür leise hinter sich ins Schloß, dann blieb er noch einige Sekunden stehen und atmete tief durch. Es war geschafft!
Seine Freude und Erleichterung waren so groß, daß er beim Hinunterlaufen immer zwei Stufen auf einmal nahm. Am liebsten hätte er laut gesungen.
Britta aber stand noch lange unbeweglich in ihrem kleinen Wohnzimmer, mit dem Rücken weiterhin zum Fenster. Sie drehte sich nicht um, um Wim nachzusehen. Blicklos starrte sie in den Raum, während sie versuchte, den Tumult in ihrem Inneren zu besänftigen. Weinen konnte sie noch immer nicht. Ihr schien, als könne sie gar nichts tun, außer regungslos stehen zu bleiben, wo sie gerade stand.
So muß es sein, wenn man stirbt, dachte sie. Sie schlang beide Arme um ihren Körper, weil ihr plötzlich entsetzlich kalt war. Als sie hörte, wie Wim den Motor seines Wagens anließ, ging sie vom Fenster weg und legte sich auf ihr Sofa. Dort schloß sie die Augen und wartete vergeblich darauf, daß die Tränen kamen.
*
»Das Bein ist gebrochen, Frau Schoren«, erklärte Dr. Adrian Winter, der die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg leitete, einer Mutter, deren Sohn er gerade untersucht hatte. Der Junge war sehr blaß, biß tapfer die Zähne zusammen und ließ keinen Laut hören. »Und die rechte Hand auch. Wegen des Beins muß er sofort nach oben und operiert werden.«
»Operiert?« fragte die junge Frau entsetzt. »Ich dachte, er bekommt einen Gips, und dann kann ich mit ihm nach Hause fahren…«
»So einfach wird es leider nicht sein. Sehen Sie, es ist ein offener Bruch, und die Knochen müssen gerichtet werden – Sie wollen doch, daß er bald wieder genauso herumläuft wie vor dem Unfall, nicht wahr?«
»Ja, sicher«, stammelte sie. »Ich weiß noch immer nicht genau, wie das überhaupt passieren konnte. Ein elfjähriger Junge fällt doch nicht ohne weiteres von einem Dach – zumal Florian ein guter Kletterer ist. Wir sind im Urlaub jedes Jahr in den Bergen, und er ist ziemlich geschickt.«
Adrian wandte sich an den Jungen. »Du bist nicht einfach gestürzt, nicht wahr, Florian? Du bist von dem Dach gesprungen! War es eine Mutprobe?«
»Ja«, gestand der Junge nach einem zögernden Blick zu seiner Mutter. Frank hat gesagt, wenn ich nicht springe, bin ich ein Feigling und werde aus der Gruppe ausgeschlossen. Er hat behauptet, daß alle anderen gesprungen sind, aber das stimmt gar nicht, glaube ich. Er hat mich angelogen, weil er wußte, daß ich sonst nicht springe.«
»Du bist gesprungen?« Hanna Schorens Stimme überschlug sich fast. »Florian, bist du verrückt geworden? Wie kannst du denn von einem so hohen Dach springen?«
»Ich dachte nicht, daß es so hoch ist«, sagte der Junge kleinlaut. »Tut mir leid, Mama.«
Jetzt hatte die junge Frau Tränen in den Augen. »Ich bin alleinerziehend«, erklärte sie Adrian, »und manchmal denke ich, er macht all diese Dinge nur, weil ihm der Vater fehlt. Wenn ich sage, es ist Wahnsinn, von einem Dach zu springen, dann macht er es gerade, weil er mir beweisen will, daß ich keine Ahnung habe, was einen richtigen Mann ausmacht.«
»Stimmt das, Florian?« fragte Adrian. »Glaubst du wirklich, daß deine Mama – na, sagen wir einmal, nicht genau weiß, was alles dazugehört, wenn man ein mutiger Junge sein will?«
»Na ja«, murmelte Florian, »sie ist schließlich ’ne Frau, oder? Und Frauen sind nun einmal anders.«
»Das stimmt«, gab Adrian zu. »Aber dümmer als Männer sind sie ganz sicher nicht. Und wenn sie sagen, daß es Wahnsinn ist, von einem Dach zu springen, kann man es ihnen ruhig glauben. Vielleicht solltest du mit deiner Mama einmal über die Dinge reden, von denen sie deiner Meinung nach nichts versteht. Und sie sagt dir, wovon du ihrer Meinung nach keine Ahnung hast. Ich wette mit dir, du wirst ein paar Überraschungen erleben – vermutlich hat sie viel mehr Ahnung von vielem, als du denkst. Und du hast viel weniger.«
»Glauben Sie?« Florian hatte seine Schmerzen für einige Augenblicke völlig vergessen. Seine Stimme klang ungläubig.
»Ich bin sogar sicher«, erwiderte Adrian ernsthaft. »Jungen bilden sich gern ein, klüger als ihre Mütter zu sein. Aber ich verrate dir jetzt ein Geheimnis: Sie sind es nicht!«