Andreas Speit
Ch. Links VERLAG
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1., überarbeitete Auflage, November 2021
entspricht der 1., überarbeiteten Druckauflage
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Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag
ISBN 978-3-96289-159-6
eISBN 978-3-86284-525-5
Einleitung
Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality
Die soziale Struktur der Bewegung
Regenbogen- und Reichsfahnen
Mitte der Gesellschaft
Verschwörungnarrative und -mentalitäten
Fake News und antisemitische Muster
Compact und Querdenken
QAnon und Anti-Establishment
Demokratischer Widerstand und Rubikon
Reichsbürger:innen und Querdenker:innen
Emotionale Gemeinschaften
Verklärungen und Verharmlosungen. Impfkritik und Alternativmedizin
Bio-Boheme und neue Spiritualität
Fake News über Impfungen
Impfskeptische Traditionen und völkische Implikationen
Homöopathie und Alternativmedizin
Die Grünen und die Alternativmedizin
Das alternative Selbst und der Abschied vom rationalen Denken
Verunsicherung und Versteinerungen. Ambivalenzen der Anthroposophie
»Geisteswissenschaft« und Praxis
Waldorfschulen und die Ordnung der Gesellschaft
Anthroposophie und Nationalsozialismus
Ressentiments und Debatte
Steiner-Schulen und Extrem-Rechte
Selbstreflexion
Rück- und Einkehr. Anastasia-Bewegung und rechte Esoterik
»Weda Elysia«
Der Siedlungsgedanke
»Goldenes Grabow«
Kritik und Kontroverse
Retten und Richten. Vegan- und Tierrechtsbewegung
Tier- und Menschenrechte
Holocaustvergleiche – und PETA
Anstrengende Menschenrechtsfragen – Anonymous for the Voiceless
Der Mensch als Schädling – Sea Shepherd
Ziviler Ungehorsam und Endzeitstimmung – Extinction Rebellion
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Dank
Der Autor
Der Schuss fiel nicht im Affekt oder aus einem spontanen Impuls heraus. Knapp zwei Stunden lang hatte der 49-jährige Mario N. am 18. September 2021 in seinem Haus in Idar-Oberstein die eigene Wut gegen Alexander W. geschürt, seit Jahren schon pflegte er seinen Hass gegen die moderne Welt und zuletzt gegen die staatlichen Maßnahmen wegen der Covid-19-Pandemie. An jenem Samstagabend erschoss N. in einer Aral-Tankstelle den 20-jährigen W., der dort als Kassierer jobbte und sich weigerte, ihm Bier zu verkaufen, so lange er nicht der Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nachkam. Die Radikalisierung der »Querdenken«- und Corona-Leugnungs-Bewegung hatte das erste Todesopfer gefordert.
Der Applaus in den Sozialen Medien dieser hoch emotionalisierten Bewegung wird womöglich zu weiteren Taten anspornen. Worte sind eben nicht bloß Worte. Der Verlauf der Tat in der rheinland-pfälzischen Stadt offenbart die tödliche Gefahr. Einzelne Personen und Netzwerke haben sich von einer Verschwörungserzählung zur nächsten immer weiter radikalisiert.
Um 19:40 Uhr war N. erstmals in die Tankstelle gekommen, berichtete Staatsanwalt Kai Fuhrmann auf einer Pressekonferenz. Ohne Mundschutz sei N. in den Verkaufsraum gelaufen und habe zwei Sechserträger Bier auf den Tresen gestellt. W. wies ihn auf die Maskenpflicht hin und verkaufte das Bier nicht. N. soll wütend geworden sein, die Bierpackungen weggestoßen haben und mit der linken Faust drohend zu seinem Wagen gegangen sein. Gegen 21:30 Uhr sei er von seinem etwa zehn Minuten entfernten Einfamilienhaus zurückgekommen, diesmal mit Maske. An der Kasse habe er sie jedoch abgenommen, um zu provozieren. Als W. ihn erneut ermahnte, zog N. einen Revolver und schoss. W. war sofort tot. In der nachfolgenden Vernehmung sagte N., er habe ein Zeichen setzen wollen. Er war gekommen, um zu töten.
Schon 2020 hatte das Bundeskriminalamt vor Anschlägen aus dem Milieu der »Querdenken«- und Corona-Leugnungs-Bewegung auf Personen und Institutionen gewarnt. Tatsächlich wurden bislang schon Attacken auf das Robert-Koch-Institut in Berlin, das Rathaus im niedersächsischen Delmenhorst und das Impfzentrum im sächsischen Treuen verübt. In Gastronomie, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Lebensmittelgeschäften müssen sich Mitarbeiter:innen gegen teils äußerst aggressive Maskenverweiger:innen erwehren. Und nicht nur einzelne Sachverständige und Politiker:innen bedürfen des Polizeischutzes, wenn sie Maßnahmen zur Abwehr von Covid 19 empfehlen oder verantworten. Im niedersächsischen Wallenhorst steht ein Hausarzt unter Polizeischutz, da er zum Schutz seine Mitarbeiter:innen die Behandlung von Menschen ablehnt, die sich ohne medizinischen Grund nicht impfen lassen.
Die Debatten darüber, ob Geimpfte im Alltag mehr Freiheiten genießen sollten als Ungeimpfte, heizt die Stimmung in der Bewegung weiter an. Wurde der Mund-Nasen-Schutz polemisch als »Maulkorb« bezeichnet, wird nun das Impfen als Angriff auf die körperliche Unversehrtheit dargestellt. Nach dieser Logik lassen sich Angriffe als Verteidigung legitimieren, schließlich geht es um Selbstschutz. Mit diesem Tenor dröhnt es durch die Sozialen Medien der Bewegung. Die Netzwerke der »Querdenkenden« haben in der Tankstelle von Idar-Oberstein mit geschossen.
Bis zum Oktober 2019 verwendete W., der sich selbst der Polizei stellte, von den Sozialen Medien vor allem Twitter. Wie sein Feed dort zeigt, bewegte sich W. in rechtspopulistischen bis rechtsextremen Online-Kreisen. Seine Kommentare fügen sich zu einem Weltbild zwischen antidemokratisch und antimodern zusammen. Bei der Debatte um die Hintergründe von W.s Tat wird bisweilen auf den Selbstmord seines Vater mit einer Schusswaffe hingewiesen. Dieser Faktor ist sicher zu berücksichtigen, er sollte aber nicht dazu führen, dass eine im Kern politische Tat durch die Pathologisierung des Täters entpolitisiert wird. Mit dem Hinweis auf persönliche Probleme der Akteure wurden Reichsideologiebewegte in Politik, Sicherheitskreisen und Medien lange verharmlost – heute stellen sie eine große Fraktion innerhalb der Bewegung.
Am Samstag, den 17. April 2021, waren die selbsternannten Freiheitskämpfer:innen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg trotz Verbot wieder auf der Straße. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte zwei Tage zuvor zwei geplante Demonstrationen gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen untersagt. Das Bundesverfassungsgericht wies noch am Samstag die eingereichten Eilanträge zur Aufhebung der Verbote ab. In der Innenstadt zogen dennoch an die 1000 Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen durch Straßen und Fußgängerzonen. Sie skandierten Parolen wie »Freiheit«, trugen Regenschirme mit dem Aufdruck »FREISEINmitHerz«, schlugen auf Trommeln und schwenkten Regenbogenfahnen. Mitten unter ihnen: Michael Ballweg, der Initiator von »Querdenken 711«. Sie alle führten vor, was sie von staatlichen Maßnahmen und juristischen Auflagen hielten: nichts. Mehr als 700 Demonstrant:innen nahm die Polizei kurzzeitig fest – auch Ballweg. Platzverweise wurden erteilt und mehr als 1000 Verstöße gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Maske geahndet.
Das »Freiheitsvirus« der Corona-Leugner:innen war erneut in der Stadt ausgebrochen, wo die Querdenken-Bewegung begonnen hatte. Die Verbote dämmten den »Ausbruch« aber ein. Zwei Wochen zuvor, am Karsamstag, hatten an einer genehmigten Demonstration von Querdenken mehr als 10 000 Menschen teilgenommen. Die Missachtung von Masken und Mindestabstand gehörte an diesem 3. April schon längst zum festen Ritual der kollektiven Staatsverachtung. Eine Verachtung aus der Mitte der Gesellschaft mit alternativem Habitus.
Nicht bloß in Stuttgart sind seit 2020 Menschen mit bürgerlichen Werten und alternativen Lebenshaltungen auf der Straße -manche von ihnen finanziell abgesichert, andere ökonomisch prekär lebend. Im Protest verschärft sich die anhaltende Entkultivierung von Teilen des Bürgertums weiter. Rücksicht auf seine Mitmenschen, Einschränkungen ertragen, Regeln ernst nehmen -perdu. Der vermeintliche Protest für die Freiheitsrechte aller ist letztlich ein Protest für das eigene Recht, sich zu verhalten, wie man gerade will. Die Demonstrant:innen denken nicht quer, sie denken egoman. Eine Form der »rohen Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), die mit der Ignoranz gegenüber den Toten und ihren Angehörigen und Freund:innen einhergeht.
An 11. Oktober 2021 musste das Robert Koch-Institut (RKI) vermelden, dass an oder im Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus alleine in der Bundesrepublik 94209 Menschen verstorben sind. Weltweit waren bis zu diesem Tag nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) mehr als 4,8 Millionen Menschen gestorben. Zahlen, hinter denen sich individuelle Schicksale verbergen; Zahlen, die das Leid der Angehörigen nicht erfassen können; Zahlen, die auch das anhaltende Leiden von Überlebenden mit Long-Covid-Erkrankungen nicht abbilden. Dennoch sind es Fakten, und sie werden im postfaktischen Zeitalter schnell als Fake News relativiert.
Im Februar 2021 belegte eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW in Mannheim und der Humboldt-Universität Berlin, dass nach den Querdenken-Kundgebungen am 7. und am 18. November 2020 in Leipzig die Infektionszahlen in den Landkreisen stiegen, in denen Busunternehmer:innen Fahrten zu den Großdemonstrationen angeboten hatten. Dort wuchs die Sieben-Tage-Inzidenz – die Zahl der Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen einer Woche – auffällig stärker an als in Kreisen, in denen die Busunternehmen keine Reisen angeboten hatten. Die Studie legt nahe, dass zwischen 16000 und 21000 neue Corona-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn die Kundgebungen abgesagt worden wären. Martin Lange, der Studienverfasser vom ZEW, kam zu dem Fazit: »Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, kann so ein erhebliches Risiko für andere Personen darstellen.« Damit benannte er den Konflikt zwischen Freiheits- und Demonstrationsrecht einerseits und dem Recht auf Unversehrtheit und Infektionsschutz andererseits. Das individuelle Verhalten hat große Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Am 17. April 2021 ging die Polizei in Stuttgart gegen die Verstöße der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung vor. Am 3. April hatte sie die Bewegung gewähren lassen. In vielen Städten schritt die Polizei bei Demonstrationen nicht ein, wenn weder Abstand gehalten noch Masken getragen wurden. Eine Zurückhaltung, die nicht erwidert wurde. Nicht bloß bei den Demonstrationen in Leipzig oder Kassel schlug die latente Aggressivität der neuen Bewegung bereits in offene Gewalt gegen Gegendemonstrant:innen, Journalist:innen und Polizist:innen um.
Im Alltag führt die Nichtdurchsetzung der Auflagen und Regeln zu einer leisen Erosion der Bereitschaft bei Nicht-Corona-Leugner:innen, sich selbst an Maßnahmen und Verordnungen zu halten. Wer am Abend im Fernsehen sieht, wie Tausende Pandemie-Maßnahmen-Gegener:innen sich ohne Schutzmaßnahmen versammeln, ohne dass dies rechtliche Folgen hätte, während tags darauf das Treffen von Kleingruppen im Park geahndet wird, könnte auf die Idee kommen, Kindergeburtstage einfach als Demonstration anzumelden. Allein die Vernunft hält einen davon ab. Doch als vernünftig sehen sich gerade jene, die wider die Vernunft handeln. Sie halten sich für berechtigt, Widerstand gegen eine angebliche Hygiene-Diktatur oder einen heraufziehenden faschistischen Staat zu leisten.
In gut einen Jahr der Pandemie hat sich eine äußerst heterogene Bewegung etabliert, die in Groß- und Kleinstädten Demonstrationen ausrichtet oder bei Schulleitungen und Verwaltungen wegen der Maskenpflicht protestiert. Getragen ist der Protest von Menschen, die nicht glauben, dass Covid-19 gefährlich ist und eine Pandemie besteht, von Unternehmer:innen und Selbstständigen, deren Geschäft oder Existenz bedroht ist, und von Personen, die lediglich die Maßnahmen und Verordnungen für unangebracht halten. »Querdenken 711« um Michael Ballweg in Stuttgart waren nicht die Ersten, die die Proteste organisierten, aber ihr Label wurde das erfolgreichste.
Schon die Proteste gegen Stuttgart 21 haben das Klischee von den gemütlichen und biederen Baden-Württemberger:innen widerlegt. Das Demonstrieren in dem Bundesland sei »etwas Neues« gewesen, sagt der Politologe Erik Flügge. Die Aktionen gegen den Bahnhofsneubau sieht er als einen Faktor, warum gerade im gutsituierten Ländle die Querdenker:innen so große Resonanz erfahren. Gegenüber dem Südwestrundfunk (SWR) wies er am 28. Oktober 2010 auch auf weitere Faktoren hin. Zwar sei das Demonstrieren hier untypisch gewesen, nicht jedoch eine »Skepsis gegenüber etablierten Strukturen«. Diese sei schon in der Reformation angelegt worden; auch die Bauernproteste hätten schließlich im Südwesten begonnen. In der Gegenwart zeige sich diese Haltung in den vielen Freien Kirchen in der Region, aber auch am kommunalen Erfolg der Freien Wähler. Nicht zuletzt begründet diese Skepsis auch eine Wissenschaftsskepsis, die hin zur Spiritualität führen kann. Die Landeshauptstadt wird gern als Hochburg der Anthroposophie betitelt. In Stuttgart konnte deren Begründer Rudolf Steiner 1919 die erste Waldorfschule eröffnen.
Die Professionalität des organisierten Protestes von Querdenken machte die Bewegung über Stadt- und Landesgrenzen hinweg populär. Ein Instrument: die sozialen Medien. Wesentlichen Anteil an den Online-Aktivitäten der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung hat ein Mann, der selten auf der Bühne steht: Frank Schreibmüller, ein ehemaliger Gastronom aus Zeitzgrund in Thüringen. Durch die Analyse eines IT-Spezialisten für das ARD-Magazin Kontraste und t-online.de von rund 300000 Telegram-Profilen aus etwa 500 öffentlich zugänglichen Telegram-Gruppen im deutschsprachigen Raum wurde die Relevanz von Schreibmüller sichtbar. Er ist an bis zu 4000 »Projekten« beteiligt. Ballweg will er nach eigenen Angaben Telegram erklärt haben. »Telegram war ein Schlüssel für das Aufkommen von Querdenken«, zitiert t-online.de Ballweg am 15. April. Bereits 2018 will Frank Schreibmüller, der sich selbst »Frank der Reisende« nennt, ein Telegram-Netzwerk aufgebaut haben.
Der Nachrichtendienst Telegram ist für User:innen so interessant, da anders als bei WhatsApp kaum Einschränkungen und mehr Optionen bestehen. Über Telegram kommunizieren viele Strukturen und einzelne Personen aus der Bewegung: Bodo Schiffmann, Samuel Eckert, Klagepaten oder Ärzte für Aufklärung. Frank Schreibmüller in München verkörpert eine weitere Personengruppe, die die Proteste mitträgt: Menschen aus dem extrem rechten Spektrum. Denn »der Reisende« wirkt zwar im Hintergrund, ist aber kein Unbekannter. Er machte nicht bloß bei »Honk for Hope« (Hupen für Hoffnung) mit, der querdenkenden Initiative für die Reisebusbranche um Alexander Ehrlich. Vor der Namenswahl »Frank der Reisende« hatte er eine kleine Namensergänzung zu Schreibmüller gewählt: A. d. F. Das Kürzel für »Aus der Familie« verwenden Reichsbürger:innen, um zu erklären, dass sie sich nicht als Staatsbürger:innen der verhassten Bundesrepublik betrachten.
2019 drang Schreibmüller mit Anhängern von »Wodans Erben Germanien« in eine Flüchtlingsunterkunft ein. Die Ermittlungen dazu sind noch nicht abgeschlossen. Der Anführer der rechtsextremen Gruppe, Frank H., muss sich seit dem 13. April 2021 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart mit der »Gruppe S.« wegen des Vorwurfs der Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten, die Anschläge auf grüne Politiker:innen und Moscheen geplant haben soll. Außerdem bewarb »Frank der Reisende« einen Fackelmarsch der rechtsextremen Kleinstpartei »Der III. Weg« unter dem Motto »Multikulti tötet« und lief mit. Dass das eine Partei ist, will er nicht gewusst haben. Er sieht sich als Aussteiger aus dem Alltagstrott. Angestellt zu sein, Dinge gegen seinen Willen zu machen, das sei vorbei. Er habe eine »Befreiung vom Angstmodus« gefunden, isst kein Fleisch und möchte nur Hilfe anbieten: »Wer von Herzen gibt, darf auch in voller Liebe empfangen. Damit kann man durchaus leben.« Seine Rolle bei Querdenken spielt er herunter.
In einer Telegram-Gruppe schrieb »Frank der Reisende«, er habe bei Querdenken-Veranstaltungen hinter den Bühnen »Koffer mit Scheinen gesehen«, »davon träumt jeder Unternehmer«. Es seien vor allem Scheine von 20 Euro aufwärts gewesen, »und die Koffer in Reisekoffer-Größe gingen kaum noch zu«, zitiert ihn t-online.de. Im vergangenen Jahr berichteten verschiedene Medien über Streit um »Markenrechte der ›Querdenker‹-Bewegung« (zeit.de), »fragwürdige Spenden-Tricks« (netzpolitik.org) und »dubiose Geldflüsse« (t-online.de). Das Geschäft mit der Angst boomt. Die Profiteur:innen kosten solche negativen Schlagzeilen wenig. Kommen sie doch von der ausgemachten Mainstream-Presse.
Ängste und Sorgen schüren allerdings die Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen selbst mit ihren Erlösungs- und Heilsversprechen. Alles würde gut, wenn alles anders liefe, ist das Credo und Mantra. »Die legitimen Gründe der Verzweiflung« schürt »der Agitator«, schreibt Leo Löwenthal in Falsche Propheten (1948), bis zur »nihilistischen Erwartung der totalen Vernichtung«, mit »grotesken Motiven«. Die Rettung liegt in der Abkehr von »den Eliten« und der Hinwendung zu den neuen Heilsbringer:innen.
In Zeiten von Krisen ist die Hoffnung auf ein Ende und die Suche nach Erklärungen eine Form, mit der Situation umzugehen. Die Pandemie dürfte in Deutschland zu den weitreichendsten Lebenseinschnitten nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben. Die Nachrichten in der Pandemie über die Zahl der Todesfälle, Inzidenzen oder Impfquoten im Radio – haben sich so Berichte von Siegen, von Truppenbewegungen, vom Rückzug im Volksempfänger angehört, angefühlt? Die Pandemie ist Alltag, die Lockdowns gegenwärtig. Wird es mich treffen, wie soll der nächste Tag, die kommende Woche geplant werden, werden die finanziellen Mittel reichen oder nicht, wen kann ich treffen, wen nicht, was schließt, was bleibt offen? In unserer abgesicherten bundesdeutschen Warenwelt ist anscheinend nichts mehr sicher. Die Pandemie verschärft die Mängel des Gesundheitswesens, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik über Jahrzehnte mit herbeigeführt hat.
Das Virus erfasst aber auch die parlamentarische Demokratie und das föderale System. Die Corona-Pandemie sei die Hochzeit von Verschwörungsnarrativen, sagt Michael Butter, Autor des Standardwerkes »Nichts ist, wie es scheint« – Über Verschwörungstheorien, im Interview mit Zeit Online am 23. Januar 2021. »In unsicheren Zeiten wie der jetzigen gaukeln Verschwörungstheorien Stabilität und Ordnung vor. Es gibt Gut und Böse, alles ist eindeutig erklärbar.« Allerdings habe Corona »keine neuen Verschwörungstheorien hervorgebracht«. Denn »alle, die jetzt in der Pandemie hervorgezogen werden gab es vorher schon: über die Weltgesundheitsorganisation, über Bill Gates, über 5G, über das Impfen«, sagt der Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Diese verschwörerischen Erzählungen sind »grotesk«, sie entspringen aber auch einem kritischen Denken.
Diese Kritik geht mit einem neuen Reflexivwerden der Moderne einher. In den vergangenen Jahren ist im öffentlichen Diskurs – wie zuvor lange nicht – intensiv über die Lebens- und Produktionsweise der westlichen Industriestaaten diskutiert worden. Ein »Weiter so« in der Waren- und Finanzwelt, wo Besitz und Dinge das Ich ausmachen, wird vor allem seit der Finanzkrise hinterfragt. Das ewige Wachstum sehen selbst Ökonom:innen am Ende ankommen, die dem Kapitalismus wohlwollend gegenüberstehen. »Der Markt« wird den Klimawandel nicht stoppen, brachte es die Ökonomin Ann Pettifor auf den Punkt. Gerade der menschengemachte Klimawandel mit seinen schon länger erfolgenden Veränderungen ist es, der die Menschen zur Umkehr treibt. Dass die Klimakrise »eine reale Bedrohung für die menschliche Zivilisation« ist, sagt längst nicht mehr nur Fridays for Future. Und auch nicht, dass »die Bewältigung der Klimakrise (…) die Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts« ist.
In der Bundesrepublik ist eine neue Lebensreformbewegung entstanden, es ist die dritte. Sie sucht nach alternativen Wegen und geht sie auch: Nachhaltigkeit, recyceln, aufarbeiten und sharen sind im Trend. Rad statt Auto, vegan statt Fleisch, Öko-Bekleidung statt Billigware, handgemacht statt industriell, regional und saisonal statt global und permanent, Ökostrom statt Atomstrom. Die neuen Lebensreformer:innen stellen ihr eigenes Leben um, fordern aber auch von den politischen Verantwortlichen Maßnahmen: Post-Wachstum, Degrowth, die Verringerung von Konsum und Produktion, lauten die Losungen. Eine Umkehr für alle, die es sich leisten können. Das Privileg der Bio-Boheme.
Der Klimawandel sorgt für ein Gefühl der Dringlichkeit und eine Endzeithaltung, die die Bewegung antreiben. Darüber hinaus scheint die neue industrielle Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die immer schnellere Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt, erneut eine Sehnsucht nach Entschleunigung und Einfachheit aufkommen zu lassen. Die Pandemie schließlich dürfte das Mensch-Natur-Verhältnis verstärkt in die gesellschaftliche Diskussion gebracht haben. Wie eng dieses Verhältnis ist, wurde in den westlichen Industriestaaten möglicherweise weitgehend ignoriert. Das Virus offenbart, dass die Natur den Menschen beherrschen kann.
Die Stimmung spiegelte im April 2021 die Aufstellung von Annalena Baerbock als erste Kanzlerin-Kandidatin von Bündnis 90/ Die Grünen in der Parteigeschichte. Mit der unmittelbaren Folge, dass die Grünen bei Umfragen vor der krisengeschüttelten CDU lagen – und weit vor allen anderen Parteien im Bundestag. Die neue Lebensreformbewegung ist wie ihre historischen Vorgänger:innen eine Gegen- und Suchbewegung. Sie ist gegen eine Welt, in der die Moderne vor allem in der Wirtschaft weiter vorangetrieben wird, und sucht nach Alternativen.
Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die erste Lebensreformbewegung aus Sorge vor der Industrialisierung, dem Materialismus und der Urbanisierung. Die »Entzauberung der Welt« (Max Weber) durch Ratio und Logos wurde beklagt, durch die unterschiedlichsten Projekte eine Wiederverzauberung versucht: von alternativen Siedlungen und ökologischer Landwirtschaft über vegetarische Ernährung und ganzheitliche Medizin bis hin zu spirituellen Praktiken. Mit dem gesellschaftlichen Wandel durch die industrielle Revolution, die alles und jedes erfasste, sah diese heterogene Bewegung, dass der Mensch von sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Natur entfremdet werde. Der Rationalismus war mehr als fragwürdig geworden.
Ein damaliger Vordenker und -lebender: Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913). Der Maler und Sozialreformer, als »Urvater der Alternativbewegung« geachtet und als »Kohlrabi-Apostel« belächelt, propagierte das Leben im Einklang mit der Natur, das auch Freikörperkultur und Veganismus erfordere. Zeitweise lebte er in einer kleinen Kommune bei Höllriegelskreuth im Isartal. In dieser Bewegung zurück zur Natur kam es aber auch zu einer Hinwendung zu den vermeintlich ureigenen Göttern und arteigenen Lebensweisen. Ein rechter Antimodernismus, der nicht bloß den Materialismus abwehren wollte, sondern auch gleich Liberalismus und Humanität.
Diese Sehnsucht nach Verwurzelung im Eigenen erfasste einen Kommunarden Diefenbachs: den Maler Hugo Höppner (1868–1948). Diefenbach gab seinem Jünger jenen Namen, unter dem er bekannt wurde: Fidus. Nicht nur in dem Bild »Lichtgebet« (1911) verdichtete Fidus, der in deutsch-religiösen Gruppen engagiert war, völkisch-nationale Aspekte visuell, sondern auch in seiner »ausgiebigen Runensymbolik«, schreibt Stefanie von Schnürbein in ihrer 1992 veröffentlichten Dissertation Religion als Kulturkritik – Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert. Georg L. Mosse sah in Die völkische Revolution (1991) ein mögliches Hingleiten zu völkischen Positionen bereits in der Romantik angelegt, und zwar durch »die Tendenz zum Irrationalen und Emotionalen«. Alternativ, vegan, spirituell – und rechts.
Diese Ambivalenzen finden sich auch in der zweiten Lebensreformbewegung des 20. Jahrhunderts wieder. Sie entstand in den 1960er Jahren durch Krisen wie den Vietnamkrieg, Rassendiskriminierung, Kolonialismus, den Kalten Krieg, das Ende des Nachkriegsbooms in der Wirtschaft oder die unterbliebene Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die alternative Bewegung von Hippies, Friedens- und Umweltschutzgruppen bis hin zur Student:innenbewegung hatte bei allem »Love and Peace«, Antiautoritärem und Emanzipatorischem nach rechts offene Motive. Die ersten Jahre der Grünen als parteipolitischer Formation der alternativen Bewegung belegen diese Ambivalenz. Die Verwunderung darüber, wer sich bei den Querdenker:innen und Coronaleugner: :innen einreiht, könnte so auch eine Verdrängung offenbaren. Wir sind schließlich »die Guten«.
»Die Guten« werden seit Jahren von konservativen Feuilletons und extrem-rechten Parteien als »Gutmenschen« angefeindet: zu rigoros, zu politisch korrekt, zu grün. Wenn dieses Buch gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus reflektiert, dann will es sich damit keinesfalls dem »Gutmenschen«-Bashing anschließen, indem es ihm eine weitere Facette hinzufügt. Es will jedoch aufzeigen, dass bei der Kritik an den staatlichen Pandemie-Maßnahmen, dem Suchen nach individuellen Lebenskonzepten, der Hinwendung zur alternativen Medizin oder Spiritualität, dem Eintreten für Tierrechte und dem Schutz der Natur antihumanistische Argumentationen und antiemanzipatorische Ressentiments virulent sind. In der zweiten und dritten Lebensreformbewegung taucht, so die These, Verschüttetes der ersten Lebensreformbewegung wieder auf, von Antisemitismus bis Antifeminismus. In Zeiten der Krise scheinen sie eine verstärkte Relevanz zu bekommen.
In der Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste, eine der ersten Untersuchungen zur Bewegung, stellten Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei von der Universität Basel im Dezember 2020 fest, dass die Beteiligten eher von links kämen, aber nach rechts gingen. Durch eine Befragung bei den Protesten auf der Straße und eine weitere Befragung in Internetforen und Messengergruppen stellten sie fest, dass 23 Prozent der Befragten bei der Bundestagswahl 2017 Bündnis 90/Die Grünen gewählt hätten und 18 Prozent Die Linke. 15 Prozent wählten AfD. Bei der nächsten Bundestagswahl wollten allerdings rund 27 Prozent die AfD auf dem Wahlzettel ankreuzen.
In der Studie Alles Covidioten? Politische Potentiale des Corona-Protests in Deutschland gehen Edgar Grande, Swen Hutter, Sophia Hunger und Eylem Kanol vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung den »Protestverstehern« nach, »die viel oder sehr viel Verständnis für die Anliegen« haben. Das Mobilisierungspotenzial sehen sie im März 2021 »in der politischen Mitte verortet«. Den Zuspruch von Grünen- und Linke-Wähler:innen sehen sie derweil niedriger als ihre Kolleg:innen – im Durchschnitt lägen die Grünen bei 8,29 und Die Linke bei 6,13 Prozent. Allerdings befragten Grande u. a. nicht wie Nachtwey u. a. die Protestierenden, sondern repräsentativ mehr als 5000 Personen. Beide Studien warnen vor einem erheblichen Potenzial für eine weitere Radikalisierung.
Die dritten Lebensreformbewegung im 21. Jahrhundert tragen vor allem Frauen aus Sorge vor dem Impfen, ist Nadine Frei und Ulrike Nack aufgefallen. Frei und Nack schreiben, dass insbesondere Frauen die Maßnahmen gegen die Pandemie als »leidvolle Erfahrung und Einschränkung ihrer Sorge um Angehörige« wahrnähmen. In Frauen und Corona-Protest betonen sie, dass es sich bei den Frauen »um bürgerliche Frauen mit höherem Bildungsabschluss« handele, die offen für »esoterisches Denken« seien. Sie nehmen an, dass diese Frauen die ihnen seit der Romantik zugewiesene Sphäre in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die damit verbundene Rolle »erfüllen und verteidigen«.
Die Romantik idealisierte nicht nur die Natur, sondern auch die Mütterlichkeit. »Die natürliche und umsorgende Weiblichkeit«, so Frei und Nack, sei zu einem »Ideal« geworden, und sie folgern, dass durch das Impfen die angenommene Rolle durch den Staat angegriffen werde. Der Protest der Frauen könnte als ein »Aufbegehren gegen den Entzug ihres Hoheitsgebietes« – des Schutzes der Familien – verstanden werden. Die Frauen können nicht mehr allein entscheiden, mit wem sich ihre Kinder treffen, oder die Kontakte zu Angehörigen in Heimen pflegen. »Überspitzt« formuliert, führen sie aus, dass die »Frauen, die ihr Selbstwertgefühl primär auf diese Rolle der Sich-um-andere-sorgenden Frau aufgebaut haben und die sich durch staatliche Maßnahmen in ihrer Rollenausübung gehindert sehen, aus ihrer Sicht allen Grund« hätten, »gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren: Sie bedrohen ihre gesellschaftliche Existenz.«
Frei und Nack betonen die Affinität vieler Anhänger:innen der Protestbewegung zur Esoterik. Tatsächlich lässt sich im alternativen Milieu insgesamt immer wieder eine latente Sehnsucht nach Spiritualität beobachten. Immer häufiger vermengen sie sich mit Verschwörungsnarrativen, die dadurch Glaubenscharakter bekommen, wofür das Kofferwort conspirituality (aus conspiracy und spirituality) kreiert wurde. »Die Kritik der Religion« ist denn auch »die Voraussetzung aller Kritik«, wie Karl Max in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1834) schreibt. Das Hinterfragen alles vermeintlich religiös Begründeten und/oder angeblich natürlich Bestimmten ist in Zeiten der Pandemie mehr als geboten. Verschwörung und Wahn, Irrationalismus und Panik haben verschiedenen Spektren der alternativen Mitte erfasst. In anderen Milieus wurden auch schon vor Covid-19 fragwürdige Ressentiments oder gefährliche Positionen vorangetrieben.
Diese Weltbilder in den Szenen sind aber auch Bemühungen, sich die Welt vermeintlich zu erklären, zu verstehen, Marx weist darauf hin, dass »der Mensch« die Religion »macht«, und »das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. (… ) Sie ist das Opium des Volkes.« Das Bedürfnis nach Religion – Spiritualität und Transzendenz – ist nachvollziehbar. Die Frage, so Erich Fromm, sollte denn nicht sein: Religion oder nicht? Die Frage sollte vielmehr lauten: Welche Religion? In Psychoanalyse und Religion schlägt der Psychoanalytiker aus der Kritischen Theorie bereits 1950 vor, zwischen einer »autoritären Religion« und einer »humanistischen Religion« zu differenzieren.
Der Mord an Alexander W. offenbart, dass sich die Querdenker:innen und Coronaleugner:innen in einem Prozess der Selbstradikalisierung befinden. Sie sind keine Rechtsextremen, marschieren aber mit Rechtsextremen auf. Akzeptanzen, die zu Aktionen führen. Der Popstar Xavier Naidoo, der schon früh dem »Querdenken« nahe stand, singt jetzt mit dem Rechtsrocksänger Hannes Ostendorf im Duett »Deutschland krempelt die Ärmel hoch« gegen das Impfen. Und zusammen fragen sie: »Die starken Männer, wo sind sie bloß?«. Im Video marschiert die rechtsextreme Hooligan-Fanbase von Ostendorf auf. In der Bewegung kursieren längst gefälschte Atteste und Impfpässe. Keine Kleinigkeiten, sondern Gefährdungen anderer. Im April 2021 verkündete Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), dass die Bewegung nun bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet werde – unter dem neuen Phänomenbereich »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Schon 2019 erklärte die WHO Impfgegner:innen zur globalen Bedrohung bei der medizinischen Versorgung mit Impfungen. Diese Warnung weist auf die Begrenztheit der geheimdienstlichen Beobachtung hin. Die gefährlichen Weltbilder legen nicht minder nahe, dass eine zivilgesellschaftliche Debatte über die Grenzen des Tolerierbaren geboten ist. Bei der Grenzziehung könnte die Zeile von Tocotronic – lange vor der Pandemie vertont – »pure Vernunft darf niemals siegen« mit gedacht werden. Kein Plädoyer fürs Gegenteil: Purer Irrsinn darf ebenso niemals siegen.