Cover

OCTAVIA E. BUTLER

 

 

 

DIE PARABEL VOM SÄMANN

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe
PARABEL OF THE SOWER
Aus dem Amerikanischen von Kurt Bracharz
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1993 by Octavia E. Butler
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-17956-4
V002
www.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Kalifornien im Jahre 2025: Die Regierung ist handlungsunfähig, der Bundesstaat leidet unter Wasserarmut. Wer es sich leisten kann, lebt hinter dicken Mauern zum Schutz vor den kriminellen Banden, die ohne Gnade rauben, vergewaltigen und morden. In dieser Welt wächst die fünfzehnjährige Lauren Olamina als Tochter eines Baptistenpriesters auf. Sie ist hyperempathisch – sie fühlt die Schmerzen anderer am eigenen Leib. Als ihre kleine Gemeinde angegriffen und zerstört wird, macht sie sich auf eine gefährliche Reise nach Norden, um ihren Platz in dieser Welt zu finden …

 

 

 

Der Autor

Octavia Estelle Butler (22. Juni 1947–24. Februar 2006) kam in Pasadena, Kalifornien zur Welt. Ihr Vater starb, als sie noch ein Baby war, und sie wurde von ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem unruhigen Stadtviertel, in dem sowohl Weiße als auch Schwarze lebten, aufgezogen. Obwohl bei ihr als Kind Dyslexie festgestellt wurde, machte sie einen Abschluss am Pasadena City College und schrieb sich an der California State University in Los Angeles ein. Schon mit 12 Jahren verfasste sie erste Science-Fiction-Kurzgeschichten, und 1969/70 besuchte sie zwei Autoren-Workshops, bei denen sie unter anderem mit Harlan Ellison in Kontakt kam, der ihr half, 1976 ihren ersten Roman bei einem Verlag unterzubringen. In ihrem mehrfach mit dem Hugo- und dem Nebula-Award ausgezeichneten Werk geht es immer wieder um Gender-Fragen und kulturelle Identität. Sie lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod in Seattle, Washington.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

2024

 

 

 

Das Wunder ist in seinem Wesen

Anpassungsfähigkeit und anhaltende positive

Besessenheit. Ohne Beständigkeit bleibt

nur eine augenblickliche Begeisterung übrig.

Ohne Anpassungsfähigkeit kann das, was bleibt,

in einen destruktiven Fanatismus münden. Ohne

positive Besessenheit gibt es überhaupt nichts.

Erdensaat: Die Bücher der Lebenden

von LAUREN OYA OLAMINA

Kapitel 1

 

Alles, was du berührst,

veränderst du.

 

Alles, was du änderst,

verändert dich.

 

Die einzige ewige Wahrheit

ist der Wandel.

 

Gott

ist Wandel.

Erdensaat: Die Bücher der Lebenden

 

 

Samstag, 20. Juli 2024

Vergangene Nacht hatte ich meinen wiederkehrenden Traum. Ich glaube, ich hätte ihn erwarten sollen. Er kommt zu mir, wenn ich kämpfe – wenn ich mich an meinem ganz persönlichen Haken winde und so tue, als ob nichts Ungewöhnliches geschähe. Er kommt zu mir, wenn ich meines Vaters Tochter zu sein versuche.

Heute ist unser Geburtstag – der fünfzehnte bei mir, der fünfundfünfzigste bei meinem Vater. Morgen werde ich versuchen, ihm zu gefallen – ihm und der Gemeinde und Gott. Deshalb träumte ich in dieser Nacht etwas, das mich daran erinnern sollte, dass alles eine Lüge ist. Ich glaube, ich sollte über diesen Traum schreiben, weil mich diese Lüge so sehr bedrückt.

 

Ich lerne fliegen, mich in die Luft zu erheben. Niemand bringt mir das bei. Ich lerne es ganz von selbst, in kleinen Schritten, Traumlektion nach Traumlektion. Keine sehr scharfsinnige Metapher, aber eine beharrliche. Ich hatte viele Lektionen und fliege jetzt besser als je zuvor. Ich vertraue dieser Fähigkeit nun mehr, aber ich habe immer noch Angst. Ich kann meine Richtung noch nicht gut kontrollieren.

Ich lehne mich vorwärts, zum Türrahmen hin. Es ist ein Türrahmen wie der von meinem Zimmer zum Gang. Er scheint weit von mir entfernt zu sein, aber ich lehne an ihm. Indem ich meinen Körper steif und angespannt halte, lasse ich alles los, was ich bis dahin umklammert habe, was mich bis dahin vom Fliegen oder Fallen abgehalten hat. Und dann lehne ich in der Luft, biege und strecke mich nach oben, bewege mich nicht wirklich aufwärts, falle aber auch nicht hin. Dann beginnt die Bewegung, als glitte ich etwa einen Meter über dem Boden dahin, in einer Mischung aus Angst und Freude.

Ich drifte zur Tür. Kühles, bleiches Licht kommt herein. Dann gleite ich ein bisschen nach rechts; und noch ein bisschen. Ich erkenne, dass ich die Tür verfehlen und neben ihr an die Wand prallen werde, aber ich kann nicht anhalten oder umdrehen. Ich treibe von der Tür weg, weg vom diesem kühlen Glühen in ein anderes Licht.

Vor mir brennt die Wand. Das Feuer ist aus dem Nichts gekommen, hat sich durch die Wand gefressen, beginnt nach mir zu greifen, erreicht mich. Das Feuer breitet sich aus. Ich gleite hinein. Es flammt um mich herum. Ich schlage um mich und kämpfe und versuche, herauszuschwimmen, fasse Händevoll Luft und Feuer, schlage mit den Beinen aus, brenne! Dunkelheit.

Vielleicht erwache ich ein bisschen. Das geschieht manchmal, wenn mich das Feuer verschluckt. Das ist schlimm. Wenn ich völlig erwache, kann ich nicht mehr einschlafen. Ich versuche es, aber es gelingt mir nie.

Diesmal wache ich nicht völlig auf. Ich gleite hinüber in den zweiten Teil des Traums – den gewöhnlichen, realen Teil, den Teil, der sich vor Jahren ereignete, als ich ein kleines Mädchen war, wobei das Geschehnis damals nicht bedeutsam schien.

Dunkelheit.

Dunkelheit, die heller wird.

Sterne.

Sterne verbreiten ihr kaltes, bleiches, glitzerndes Licht.

»Als ich klein war, konnten wir nicht so viele Sterne sehen«, sagt meine Stiefmutter zu mir. Sie spricht Spanisch, ihre Muttersprache. Da steht sie, klein und ruhig, und blickt hinauf zu dem breiten Band der Milchstraße. Sie und ich, wir beide sind im Dunkeln hinausgegangen, um die Wäsche von der Leine zu nehmen. Der Tag war wie üblich heiß gewesen, und wir mögen beide die kühle Dunkelheit der jungen Nacht. Der Mond scheint nicht, aber wir können gut sehen. Der Himmel ist voller Sterne.

Die Mauer der Nachbarschaft ist ein massiver, dräuender Schatten in der Nähe. Mir kommt sie vor wie ein geducktes Tier, das sich vielleicht zum Sprung vorbereitet, eher eine Bedrohung als ein Schutz. Aber meine Stiefmutter ist bei mir, und sie hat keine Angst. Ich halte mich nahe bei ihr. Ich bin sieben Jahre alt.

Ich schaue hinauf zu den Sternen und zum tintenschwarzen Himmel. »Wieso konntest du die Sterne nicht sehen?«, frage ich sie. »Jeder kann sie sehen.« Ich spreche auch Spanisch, wie sie es mir beigebracht hat. Es schafft Vertrautheit.

»Die Lichter der Städte«, sagt sie. »Elektrische Beleuchtung, Fortschritt, Wachstum, all das, wozu wir heute zu aufgeregt und zu arm sind.« Sie schweigt einen Moment. »Als ich in deinem Alter war, sagte mir meine Mutter, dass die Sterne – die paar, die wir sehen konnten – Fenster zum Himmel seien. Fenster für Gott, der hindurchblickte, um auf uns aufzupassen. Ich habe es ihr fast ein Jahr lang geglaubt.« Meine Stiefmutter gibt mir eine Armvoll Windeln von meinem jüngsten Bruder. Ich nehme sie und gehe damit zurück zum Haus, wo sie ihren großen geflochtenen Wäschekorb stehen gelassen hat, und staple die Windeln auf die anderen Kleider. Der Korb ist voll. Ich schaue, ob meine Stiefmutter mich nicht beobachtet, und lasse mich dann rückwärts auf den weichen Berg steifer, sauberer Wäsche fallen. Einen Augenblick lang ist das Fallen wie Schweben.

Ich liege dort und blicke zu den Sternen hinauf. Ich suche ein paar Sternbilder heraus und sage mir die Namen der Sterne, die sie bilden, vor. Ich habe sie aus einem Astronomiebuch gelernt, das der Mutter meines Vaters gehörte.

Ich sehe den plötzlichen Lichtstreifen einer Sternschnuppe im Westen über den Himmel ziehen. Ich starre ihr nach, in der Hoffnung, eine zweite zu sehen. Dann ruft mich meine Stiefmutter, und ich gehe zurück zu ihr.

»Es gibt auch jetzt elektrische Beleuchtung«, sage ich. »Sie macht die Sterne nicht unsichtbar.«

Sie schüttelt den Kopf. »Es sind nirgendwo mehr so viele wie früher in der Nähe. Die Kinder heutzutage haben keine Ahnung, was für einen Glanz die Städte früher hatten – und das ist noch nicht so lange her.«

»Mir sind die Sterne lieber«, sage ich.

»Das Sternenlicht ist umsonst.« Sie zuckt die Achseln. »Ich hätte lieber die Lichter der Städte zurück, je schneller, desto besser. Aber die Sterne können wir uns leisten.«

Kapitel 2

 

Ein Gottesgeschenk

wird unvorbereitete Finger versengen.

Erdensaat: Die Bücher der Lebenden

 

 

Sonntag, 21. Juli 2024

Es ist mindestens drei Jahre her, dass der Gott meines Vaters aufhörte, mein Gott zu sein. Seine Kirche war nicht mehr meine Kirche. Aber weil ich ein Feigling bin, lasse ich mich heute in seine Kirche einführen. Ich lasse mich von meinem Vater in allen drei Namen eines Gottes taufen, der nicht mehr der meine ist.

Mein Gott trägt einen anderen Namen.

Wir sind heute morgen früh aufgestanden, weil wir zur Kirche durch die ganze Stadt zu gehen hatten. An den meisten Sonntagen hält Vater in unseren vorderen Räumen Gottesdienste ab. Er ist ein Baptistenpfarrer, und wenn auch nicht alle Leute, die innerhalb der Mauern unserer Nachbarschaft wohnen, Baptisten sind, so sind doch jene, die überhaupt in eine Kirche gehen wollen, froh, wenn sie zu uns kommen können. Auf diese Weise müssen sie nicht riskieren, hinauszugehen, wo alles verrückt und gefährlich geworden ist. Es ist schlimm genug, dass manche Menschen – unter anderen mein Vater – mindestens einmal pro Woche draußen zur Arbeit müssen. Zur Schule geht von uns niemand mehr. Die Erwachsenen werden nervös, wenn Kinder hinaus wollen.

Aber heute war ein besonderer Tag. Mein Vater hatte ein Arrangement mit einem anderen Priester getroffen – einem seiner Freunde, der noch ein richtiges Kirchengebäude mit einem richtigen Taufbecken besitzt.

Dad hatte früher eine Kirche, die nur ein paar Blocks von unserer Mauer entfernt lag. Er hatte dort angefangen, bevor es so viele Mauern gab. Aber später hatten Obdachlose darin geschlafen, dann hatte es viele Male Raubüberfälle und Vandalenakte gegeben, und schließlich goss jemand in der Kirche und rundum Benzin aus und brannte sie nieder. Sieben Obdachlose, die darin die Nacht verbracht hatten, verbrannten mit.

Aber Vaters Freund Reverend Robinson hatte es irgendwie geschafft, die Zerstörung seiner Kirche zu verhindern. Wir radelten an diesem Morgen hin – ich, zwei von meinen Brüdern, vier Kinder aus der Nachbarschaft, die alt genug waren, um getauft zu werden, mein Vater und ein paar Erwachsene aus der Nachbarschaft, die Gewehre bei sich trugen. Alle Erwachsenen waren bewaffnet. Das ist die Regel. Geh nur im Rudel aus, und geh bewaffnet.

Die Alternative wäre die Taufe in der Badewanne daheim gewesen. Das wäre billiger und sicherer und mir recht gewesen. Ich hatte es auch gesagt, aber niemand hatte auf mich geachtet. Für die Erwachsenen war der Ausflug zu einer richtigen Kirche wie eine Erinnerung an die gute alte Zeit, als es überall Kirchen gab und viele Lichter und genügend Benzin für Fahrzeuge statt bloß für Fackeln. Deshalb lassen sie keine Gelegenheit verstreichen, sich an die gute alte Zeit zu erinnern, oder den Kindern zu sagen, wie großartig es werden wird, wenn das Land sich wieder auf seine Hinterbeine erhebt und die guten Zeiten zurückkommen.

Ja, ja, ja.

Für uns Kinder – für die meisten jedenfalls – war der Ausflug nur ein Abenteuer, ein Vorwand, jenseits der Mauer zu sein. Wir würden pflichtgemäß oder als eine Art Versicherung getauft werden, aber die meisten hatten mit Religion nicht viel am Hut. Ich schon, aber ich habe eine andere Religion.

»Warum eine Chance vergeben«, hatte Silvia Dunn vor ein paar Tagen zu mir gesagt. »Vielleicht ist was dran an all diesem Religionszeugs.« Ihre Eltern glaubten genau das, deshalb war sie jetzt mit von der Partie.

Mein Bruder Keith, der ebenfalls dabei war, teilt keine meiner Überzeugungen. Es interessiert ihn überhaupt nicht. Vater wollte, dass er getauft wurde – also, warum nicht. Es gibt nicht viel, worüber sich Keith Gedanken macht. Er hängt gern mit seinen Freunden herum und tut so, als sei er erwachsen, indem er sich vor Arbeit, Schule und Kirche drückt. Dabei ist er erst zwölf, der älteste von meinen drei Brüdern. Ich mag ihn nicht besonders, aber er ist der Liebling meiner Stiefmutter. Drei kluge Söhne und ein dummer, und den Dummen mag sie am liebsten.

Keith schaute mehr in der Gegend herum als jeder andere, während wir radelten. Seine Ambitionen, wenn man das so nennen kann, waren es, die Nachbarschaft zu verlassen und nach Los Angeles zu ziehen. Er äußert sich nie so richtig klar, was er dort vorhat. Er will einfach in die große Stadt und dort das große Geld machen. Nach Ansicht meines Vaters ist die große Stadt ein Kadaver voller Maden. Zu viele Maden. Ich nehme an, er hat recht, obwohl nicht alle Maden in Los Angeles sind. Hier gibt es ebenfalls welche.

Aber Maden sind üblicherweise keine Frühaufsteher. Wir fuhren an Menschen vorüber, die ausgestreckt auf den Gehsteigen schliefen, aber die wenigen, die gerade aufwachten, beachteten uns nicht. Ich sah mindestens drei, die nicht aufwachen würden, niemals wieder. Einem fehlte der Kopf. Ich ertappte mich dabei, nach dem Kopf Ausschau zu halten. Danach versuchte ich, überhaupt nicht mehr umherzuschauen.

Eine Frau, jung, nackt, schmutzig, stolperte neben uns dahin. Ich erhaschte einen Blick in ihr leeres Gesicht und erkannte, dass sie benommen oder betrunken oder sonst was war.

Vielleicht war sie so oft vergewaltigt worden, dass sie verrückt geworden war. Ich hatte Erzählungen von solchen Geschehnissen gehört. Vielleicht war sie auch nur völlig high von Drogen. Die Jungen in unserer Gruppe fielen fast von ihren Rädern, so sehr mussten sie glotzen. Was für wundervoll religiöse Gedanken würden sie jetzt eine Weile lang haben!

Die nackte Frau beachtete uns nicht. Ich drehte mich nach ihr um, als wir vorbei waren, und sah, dass sie sich ins Gras vor einer Nachbarschaftsmauer hatte fallen lassen.

Der größte Teil unserer Fahrt führte an einer Nachbarschaftsmauer nach der anderen entlang; manche waren einen Block lang, andere zwei, manche fünf … Oben in den Hügeln gab es ummauerte Anwesen – große Häuser mit einer Anzahl kleiner wackliger Gebäude rundum, wo die Dienerschaft wohnte. An so etwas kamen wir heute nicht vorbei. Tatsächlich passierten wir stattdessen ein paar Nachbarschaften, die so arm waren, dass ihre Mauern aus mörtellos aufeinandergeschichteten Felsbrocken, Betontrümmern und Abfällen bestanden. Und dann gab es noch die jämmerlichen Wohnbezirke ohne Mauern. Die meisten Häuser waren völlig verkommen – abgebrannt, von Vandalen verwüstet, von Betrunkenen oder Rauschgiftsüchtigen benützt oder von obdachlosen Familien mit ihren schmutzigen, hohlwangigen, halbnackten Kindern besetzt. Diese Kinder waren hellwach an diesem Morgen und beobachteten uns. Die kleinen taten mir leid, aber die in meinem Alter oder älter machten mich nervös. Wir fahren in der Mitte der holprigen Straße, und die Kinder kommen aus den Häusern, stehen am Rinnstein und starren uns an. Sie stehen einfach da und starren. Ich glaube, wenn wir nur zwei oder drei wären, oder wenn sie unsere Waffen nicht sehen könnten, dann würden sie uns niederreißen und unsere Räder stehlen, unsere Kleider, unsere Schuhe, alles. Und dann? Vergewaltigung? Mord? Wir könnten enden wie diese nackte Frau, herumirrend, halb betäubt, vielleicht verletzt, gefährliche Aufmerksamkeit auf sich ziehend, bis sie sich etwas zum Anziehen stehlen konnte. Ich wünschte, wir hätten ihr etwas geben können.

Meine Stiefmutter erzählte mir, dass sie und mein Vater einmal anhielten, um einer verletzten Frau zu helfen, worauf die Burschen, die die Frau verletzt hatten, hinter einer Wand hervorsprangen und sie beinahe umgebracht hätten.

Wir sind in Robledo – 20 Meilen von Los Angeles entfernt und, laut Vater, einst eine reiche, grüne, nicht ummauerte kleine Gemeinde, die er als junger Mann unbedingt hatte verlassen wollen. Wie jetzt Keith hatte er damals der Langeweile von Robledo zugunsten der Aufregungen einer großen Stadt entfliehen wollen. Damals war Los Angeles besser – weniger tödlich. Er lebte 21 Jahre dort. Dann, im Jahr 2010, wurden seine Eltern ermordet, und er erbte ihr Haus. Wer auch immer es gewesen war, der sie umgebracht hatte, er raubte das Haus aus und zertrümmerte das Mobiliar, zündete aber nichts an. Damals gab es noch keine Nachbarschaftsmauer.

Ein verrückter Gedanke, ohne eine schützende Mauer zu wohnen. Selbst in Robledo sind die meisten auf den Straßen lebenden Armen – Hausbesetzer, Säufer, Junkies, Obdachlose – gefährlich. Sie sind verzweifelt oder verrückt oder beides. Das genügt, um jemanden gefährlich zu machen.

Schlimmer noch, sie haben miteinander Probleme. Sie verwunden einander an Ohren, Armen, Beinen … sie haben unbehandelte Krankheiten und schwärende Wunden. Sie können kein Geld ausgeben für Waschwasser, und so haben auch die Unverletzten offene Stellen. Sie haben nicht genug zu essen, so dass sie unterernährt sind – oder sie essen schlechte Nahrungsmittel und vergiften sich damit. Während ich radelte, versuchte ich, sie nicht zu sehen, aber es nützte nichts, ich konnte nicht vermeiden, dass ich einiges von ihrem umfassenden Elend mitkriegte.

Ich kann eine Menge Schmerz aushalten, ohne durchzudrehen. Ich hatte das lernen müssen. Aber heute fiel es mir schwer, in die Pedale zu treten und mit den anderen Schritt zu halten, wenn beinahe jeder, den ich sah, mich schlechter und schlechter fühlen ließ.

Mein Vater drehte sich hin und wieder nach mir um. Er sagt immer: »Du kannst damit fertig werden. Du darfst einfach nicht nachgeben.« Er tut immer so, oder glaubt es vielleicht wirklich, dass mein Hypereinfühlungssyndrom etwas sei, das ich abschütteln und vergessen könnte. Diese Teilnahme ist schließlich nichts Reales. Es ist keine Magie oder Außersinnliche Wahrnehmung, was es mir ermöglicht, an Schmerz oder Freude anderer Menschen teilzunehmen. Es ist eine Illusion. Sogar ich gebe das zu. Mein Bruder Keith spielte oft den Verletzten, nur um zu sehen, wie ich an seinem angeblichen Schmerz teilhatte. Einmal benützte er rote Tinte zur Vortäuschung von Blut, um mich zum Bluten zu bringen. Damals war ich elf, und mir trat Blut durch die Haut aus, wenn ich jemanden bluten sah. Ich konnte nichts dagegen tun, und ich machte mir immer Sorgen, dass es mich an Menschen außerhalb meiner Familie ausliefern würde.

Ich habe niemals mehr wegen jemand anderem geblutet, seit ich zwölf wurde und meine erste Periode hatte. War das eine Erleichterung! Ich wünschte nur, alles andere hätte sich damit auch verflüchtigt. Keith brachte mich mit diesem Trick nur einmal zum Bluten, und ich prügelte ihn dafür windelweich. Ich prügelte mich nicht oft, als ich klein war, weil es mir selbst so weh tat. Ich fühlte jeden Schlag, den ich austeilte, als empfinge ich ihn selbst. Wenn ich mich aber zum Kämpfen entschlossen hatte, wollte ich andere Kinder schlimmer verletzen, als es unter Kindern üblich ist. Ich brach Michael Talcott den Arm und Rubin Quintanilla die Nase. Silvia Dunn schlug ich vier Zähne aus. Sie hatten alle drei- oder viermal verdient, was ich ihnen verpasste. Ich wurde dann jedes Mal gezüchtigt, und ich nahm das übel. Es war schließlich eine doppelte Züchtigung, und mein Vater und meine Stiefmutter wussten es. Aber dieses Wissen hielt sie nicht ab. Ich nehme an, sie taten es, um die Eltern der anderen Kinder zufriedenzustellen. Auch als ich Keith schlug, wusste ich, dass Cory oder Vater oder beide mich dafür züchtigen würden – schließlich war er mein armer kleiner Bruder. Deshalb musste ich schauen, dass mein armer kleiner Bruder im Voraus bekam, was ihm zustand. Was ich ihm antat, musste der Mühe wert sein, trotz allem, was sie mir antun würden.

Das war es auch.

Wir bekamen es beide später von Vater – ich für das Prügeln eines jüngeren Kindes und Keith dafür, dass er es wagte, ›Familienangelegenheiten‹ in die Öffentlichkeit zu bringen. Vater legt großen Wert auf Privatheit und auf ›Familienangelegenheiten‹. Es gibt eine ganze Anzahl von Dingen, auf die wir niemals außerhalb der Familie auch nur einen Hinweis fallen lassen dürfen. Dazu gehören in erster Linie alles über meine Mutter, meine Hypereinfühlung, und wie beides zusammenhängt. Mein Vater schämt sich für all das. Er ist Prediger, Professor und Dekan. Eine erste Ehefrau, die drogenabhängig war und eine Tochter, die davon einen Schaden davongetragen hat, sind nichts, worauf er stolz sein kann. Das ist ein Glück für mich. Die verletzlichste Person zu sein, die ich kenne, ist ganz sicher nichts, worauf ich stolz bin.

Ich kann gar nichts tun ohne meine Hyperempfindlichkeit, ganz gleich, was Vater darüber denkt oder will oder wünscht. Ich fühle, was ich andere fühlen sehe oder was ich glaube, dass sie fühlen. Diese Hyperempathie, wie es die Ärzte nennen, ist für sie ein ›organisch bedingtes Wahnsyndrom‹. Große Scheiße! Es tut weh, das ist alles, was ich weiß. Dank Paracetco, der Weisheitspille, dem Einsteinpulver, der ganz besonderen Droge, die meine Mutter zu missbrauchen beschloss, bevor meine Geburt sie umbrachte, bin ich verrückt. Ich habe eine Menge Kummer, der nicht meiner und der nicht einmal real ist. Und der trotzdem weh tut.

Ich sollte Freude und Schmerz teilen, aber es gibt nicht mehr viele Freuden, an denen ich teilnehmen könnte. So ungefähr das einzige Vergnügen, an dem mir die Teilnahme Freude macht, ist Sex. Ich empfange das Vergnügen des Burschen und mein eigenes. Es wäre mir fast lieber, wenn ich es nicht so spürte. Ich lebe in einer winzigen ummauerten Gemeinschaft wie in einem kugelförmigen Aquarium (und auf jeden Fall in einer Sackgasse), und ich bin die Tochter eines Predigers. Es gibt eine deutliche Grenze für das, was ich hinsichtlich Sex tun kann.

Wie auch immer, meine Neurotransmitter sind irgendwie durcheinander und werden das auch bleiben. Aber ich komme über die Runden, solange andere Leute nicht darüber Bescheid wissen. Innerhalb unserer Nachbarschaftsmauer geht es mir okay. Diese Radfahrt war allerdings die Hölle. Ständig kamen und gingen die schlimmsten Empfindungen, die ich je gefühlt hatte – Schatten und Geister, Kniffe und Schläge unerwarteter Schmerzempfindungen.

Wenn ich alte Verletzungen nicht zu lange ansehe, tun sie mir nicht allzu weh. Es gab einen kleinen Jungen, dessen Haut eine Masse großer roter Wunden war; ein Mann mit verschorftem Stumpf, wo seine rechte Hand sein sollte; ein kleines Mädchen, nackt, vielleicht sieben Jahre alt, dem das Blut an den bloßen Schenkeln herablief. Eine Frau mit geschwollenem, blutigem, zerschlagenem Gesicht …

Ich muss sehr nervös gewirkt haben. Ich warf schnelle Blicke um mich wie ein Vogel, ließ meinen Blick nie länger auf jemandem oder etwas ruhen als unbedingt nötig war, um zu sehen, dass sie nicht zu mir herliefen oder mit einem Gegenstand auf mich zielten.

Vater mag aus meiner Miene etwas von dem herausgelesen haben, was ich fühlte. Ich versuche, nichts davon zu zeigen, aber er ist ganz gut darin, von meinem Gesichtsausdruck abzulesen. Die Leute sagen manchmal, ich sähe grimmig oder zornig aus. Besser, sie glauben das, als die Wahrheit zu ahnen. Besser, sie denken irgendetwas, als zu wissen, wie leicht ich zu verletzen bin.

 

Vater hatte auf frischem, sauberem Trinkwasser für die Taufe bestanden. Natürlich konnte er sich das eigentlich nicht leisten. Wer hätte es gekonnt? Das war der andere Grund für die vier Extra-Kinder:

Silvia Dunn, Hector Quintanilla, Curtis Talcott und Drew Balter, zusätzlich zu meinen Brüdern Keith und Marcus. Die Eltern dieser anderen Kinder hatten zur Deckung der Kosten beigetragen. Sie waren der Ansicht, eine richtige Taufe sei wichtig genug, Geld auszugeben und Risiken auf sich zu nehmen. Ich war die Älteste von allen, um ganze zwei Monate. Curtis war der nächste. So sehr ich es hasste, dabei zu sein, noch mehr hasste ich, dass Curtis da war. Ich sorge mich mehr um ihn, als ich möchte. Ich mache mir Gedanken darüber, was er über mich denkt. Ich habe Angst, dass es mir eines Tages in der Öffentlichkeit raushängt, und er es sehen wird. Aber nicht heute.

Als wir bei der befestigten Kirche ankamen, taten mir die Kiefermuskeln vom ständigen Anspannen weh, und ich war auch sonst erschöpft.

Es waren nur fünf oder sechs Dutzend Leute zum Gottesdienst erschienen – das wären genug gewesen, um die vorderen Räume unseres Hauses zu füllen und wie eine große Menge zu wirken. Aber in dieser Kirche mit ihrer Mauer und ihren Sicherheitsschranken, ihrem Stacheldraht, ihrem großen leeren Innenraum und mit bewaffneten Wächtern sahen diese Leute wie ein zusammengewürfelter kleiner Haufen aus. Das war in Ordnung. Das letzte, was ich wollte, war ein großes Publikum, das mir möglicherweise heftigen Schmerz zufügen würde.

Die Taufe verlief wie geplant. Sie schickten uns Kinder in die Toiletten (›Männer‹, ›Frauen‹, ›Bitte werfen Sie keinerlei Papier in die Toiletten‹, ›Wasser zur Reinigung im Kübel links unten‹), um uns zu entkleiden und weiße Überwürfe anzuziehen. Als wir bereit waren, führte uns Curtis' Vater in einen Vorraum, von dem aus wir die Predigt hören konnten – aus dem ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums und aus dem zweiten der Apostelgeschichte – und wo wir auf unseren Auftritt warteten.

Ich kam als letzte dran. Ich nehme an, dass das eine Idee meines Vaters war. Erst die Nachbarskinder, dann meine Brüder, dann ich. Aus Gründen, die mir nicht besonders sinnvoll scheinen, glaubt mein Vater, ich brauchte mehr Demut. Mir scheint meine besondere biologische Demut – oder Demütigung – schon mehr als genug.

Aber was soll's? Jemand muss der letzte sein. Ich wünschte nur, ich hätte genügend Mut aufgebracht, der ganzen Sache einfach zu entfliehen.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes …«

Katholiken bringen das hinter sich, solange sie Babies sind. Ich wünschte, es wäre bei den Baptisten auch so. Ich wünschte mir beinahe, ich könnte glauben, dass es etwas Wichtiges sei, wie anscheinend eine Menge Leute glaubt, und mein Vater auch. Da mir das nicht gelang, wünschte ich, es wäre mir gleichgültig.

Aber das ist es nicht. Die Vorstellung eines Gottes beschäftigt mich in diesen Tagen sehr. Ich schenke dem Beachtung, was andere Leute glauben – ob sie glauben, und wenn ja, an welche Art Gott. Keith sagt, Gott sei nur ein Trick der Erwachsenen, dich einzuschüchtern, damit du tust, was sie wollen. Das sagt er nicht, wenn Vater um uns ist, aber sonst oft genug. Er glaubt nur an das, was er sehen kann, aber er sieht sowieso nicht allzu viel, auch wenn es sich direkt vor ihm befindet. Ich schätzte, Vater würde dasselbe über mich sagen, wenn er wüsste, woran ich glaube. Vielleicht hätte er sogar damit recht. Aber es würde mich nicht davon abhalten, zu sehen, was ich sehe.

Eine Menge Leute scheint an einen Guter-Vater-Gott oder einen Großer-Polizist-Gott oder einen Großer-König-Gott zu glauben. Sie glauben an eine Art Super-Person. Andere glauben, Gott sei ein anderes Wort für die Natur. Und Natur ist alles das, was sie nicht verstehen und kontrollieren können.

Manche sagen, Gott sei ein Geist, eine Kraft, eine höchste Realität. Frag sieben Leute, was damit gemeint ist, und du wirst sieben verschiedene Antworten bekommen. Also, was ist dann Gott? Nur ein anderes Wort für das, was dich dazu bringt, dich für etwas Besonderes und für beschützt zu halten?

Da kam doch dieser große Frühjahrssturm aus dem Golf von Mexiko. Er fegte den Golf entlang und tötete Menschen von Florida bis Texas und tief nach Mexiko hinein. Bis jetzt weiß man von über 700 Toten. Durch einen einzigen Hurrikan. Und wie viele Menschen sind verwundet worden? Wie viele werden wegen der Ernteausfälle verhungern? Das ist die Natur. Ist das Gott? Die meisten Toten gab es unter den auf der Straße lebenden Menschen, die nirgendwohin flüchten konnten und die die Warnungen nicht mitkriegten, bevor es zu spät war, um einen sicheren Platz aufsuchen zu können. Und wo fänden sie überhaupt einen solchen Platz? Ist es eine Sünde, arm zu sein? Wir sind selbst beinahe arm. Es gibt immer weniger Arbeit für uns, je mehr von uns geboren werden, und immer mehr Kinder wachsen ohne jede Zukunft auf. Auf die eine oder andere Art werden wir alle irgendwann arm sein. Die Erwachsenen sagen, es würde besser werden, aber bisher war nichts davon zu bemerken. Wie wird Gott – der Gott meines Vaters – uns behandeln, wenn wir arm sind?

Gibt es überhaupt einen Gott? Wenn ja, kümmert er (sie? es?) sich überhaupt um uns? Deisten wie Benjamin Franklin und Thomas Jefferson glaubten, Gott sei etwas, das uns geschaffen hat, sich aber danach nicht mehr um uns kümmerte.

»Fehlgeleitete«, sagte Vater, als ich ihn nach den Deisten fragte. »Die hätten mehr Glauben an das haben sollen, was ihnen die Bibel sagt.«

Ich frage mich, ob die Menschen an der Golfküste noch einen Glauben haben. Menschen haben früher während schrecklicher Desaster ihren Glauben behalten. Ich habe viel darüber gelesen. Wirklich sehr viel. Mein Lieblingsbuch in der Bibel ist Hiob. Ich glaube, es sagt mehr über den Gott meines Vaters und Gottesvorstellungen im allgemeinen aus als irgendetwas anderes, das ich gelesen habe.

Im Buch Hiob sagt Gott, er habe alles geschaffen und wisse alles, so dass niemand das Recht habe, Fragen zu stellen, was er damit anfängt. Okay. Das haut hin. Dieser alttestamentarische Gott steht nicht in Widerspruch zum heutigen Geschehen. Aber er klingt wie Zeus – ein super-mächtiger Mann, der mit seinem Spielzeug umgeht wie mein jüngster Bruder mit seinen Spielzeugsoldaten. Peng, peng! Sieben Soldaten fallen tot um. Wenn sie dir gehören, machst du die Regeln. Wen interessiert, was das Spielzeug davon hält. Lösch seine ganze Familie aus, und gib ihm eine neue. Spielzeugkinder sind wie Hiobs Kinder austauschbar.

Vielleicht ist Gott ein großes Kind, das mit seinen Sachen spielt. Wenn er das ist, was macht es dann aus, wenn 700 Leute in einem Hurrikan sterben – oder ob sieben Kinder in die Kirche gehen und in einen großen Tank teuren Wassers getaucht werden?

Aber wie, wenn das alles falsch ist? Was, wenn Gott etwas ganz anderes ist?

Kapitel 3

 

Wir verehren Gott nicht.

Wir erkennen und beachten Gott.

Wir lernen von ihm.

Mit Voraussicht und Arbeit

formen wir Gott.

Schließlich bringen wir Gott hervor.

Wir passen uns an und halten durch,

denn wir sind Erdensaat

und Gott ist Wandel.

Erdensaat: Die Bücher der Lebenden

 

 

Dienstag, 30. Juli 2024

Eine Astronautin der Mars-Mission ist tödlich verunglückt. Etwas ging schief mit ihrem Schutzanzug, und die anderen Mitglieder ihres Teams konnten sie nicht rechtzeitig zurück in die Schleuse bringen, um sie zu retten. Die Leute hier in der Nachbarschaft sagen, sie hätte ja auf dem Mars nichts verloren gehabt. All dieses Geld, das für einen weiteren verrückten Mars-Trip verschwendet wird, während so viele Menschen sich weder Wasser noch Essen noch Unterkunft leisten können!

 

Die Wasserkosten sind wieder gestiegen. In den Nachrichten hörte ich heute, dass wieder Wasserhausierer getötet worden sind. Diese Wanderhändler verkaufen Wasser an Hausbesetzer und an die Leute, die auf der Straße leben – und an die Menschen, die noch ihre Heime haben, aber die Rechnungen der Stadtwerke nicht mehr zahlen können. Die Händler wurden mit durchgeschnittenen Kehlen gefunden, ihr Geld und ihre Handwagen sind gestohlen worden. Vater sagt, Wasser koste nun ein Mehrfaches von Benzin. Aber außer den Brandstiftern und den Reichen haben die meisten Leute den Einkauf von Benzin aufgegeben. Ich kenne niemanden, der noch ein benzingetriebenes Auto, einen Laster oder ein Motorrad fährt. Solche Fahrzeuge rosten in Zufahrten vor sich hin und werden wegen ihres Metalls und der Plastikteile kannibalisiert.

Es ist sehr viel schwieriger, das Wasser aufzugeben.

Die Mode hilft. Man sollte jetzt schmutzig sein. Wenn man sauber ist, macht man sich selbst zum Ziel. Die Leute glauben, man wolle angeben, besser sein, als sie es sind. Unter jüngeren Kindern ist Sauberkeit ein Vorwand, eine Schlägerei anzufangen. Cory will uns innerhalb der Nachbarschaft nicht dreckig herumlaufen lassen, aber wir haben alle schmutzige Kleider, um sie außerhalb der Mauer zu tragen. Sogar drinnen beschmieren sich meine Brüder sofort mit Dreck, sobald sie vom Haus wegkommen. Das ist besser, als ständig verprügelt zu werden.

 

Heute fiel das große Mauerfenster-TV in der Nachbarschaft endgültig aus. Wir sahen die tote Astronautin inmitten all des roten Marsgesteins. Wir sahen ein staubtrockenes Reservoir und drei tote Wasserhändler mit ihren schmutzig-blauen Armbändern und halb abgeschnittenen Köpfen. Und wir sahen ganze Blocks mit Brettern vernagelter Gebäude in Los Angeles brennen. Natürlich würde niemand Wasser dafür verschwenden, solche Brände zu löschen.

Dann wurde das Fenster dunkel. Der Ton war schon seit Monaten immer wieder mal ausgefallen, aber das Bild war immer geblieben wie angekündigt – als blicke man durch ein großes, weit offenes Fenster.

Die Familie Yannis hatte ein Geschäft daraus gemacht, Leute durch ihr Fenster sehen zu lassen. Vater sagte, diese Art unlizenzierten Geschäfts sei illegal, aber er ließ uns manchmal schauen gehen, weil er es für ungefährlich hielt und weil es den Yannis half. Eine ganze Anzahl von diesen Geschäftchen sind illegal, auch wenn sie niemanden verletzen und ein paar Haushalte am Leben halten. Das Yannis-Fenster ist ungefähr so alt wie ich. Es nimmt die lange Westwand ihres Wohnzimmers ein. Sie mussten einen Haufen Geld gespart gehabt haben, als sie es anschafften. In den letzten Jahren verlangten sie Eintritt – wobei sie nur Leute aus der Nachbarschaft einließen – und verkauften Früchte, Säfte, Eichelbrot und Walnüsse. Sie fanden Mittel und Wege, jeden Überschuss aus ihrem Garten zu verkaufen. Sie zeigten Filme aus ihrer Videothek und ließen uns die Nachrichten ansehen, und was sonst auch immer im Fernsehen kam. Von dem neuen Multisensory-Zeug konnten sie sich nichts leisten, und ihr altes Fenster hätte sowieso das meiste gar nicht empfangen können.

Sie hatten keine Realitätswesten, keine Berührungsringe und keine Kopf-Sets. Ihre Ausstattung war nur das flache, dünne Fenster.

Alles, was uns jetzt geblieben ist, sind drei kleine, uralte, lausige TV-Geräte in der gesamten Nachbarschaft, ein paar Computer, die zur Arbeit gebraucht werden, und Radios. Jeder Haushalt hat zumindest noch ein funktionsfähiges Radio. Der Hauptteil unserer täglichen Information kommt aus dem Radio.

Ich frage mich, was Mrs. Yannis jetzt tun wird. Ihre beiden Schwestern sind zu ihr gezogen, und weil sie arbeiten, geht vielleicht alles gut. Eine ist Apothekerin, die andere Krankenschwester. Sie verdienen nicht viel, aber das Haus gehört ganz eindeutig Mrs. Yannis. Es war ihr Elternhaus.

Alle drei Schwestern sind Witwen und haben zusammen zwölf Kinder, die alle jünger sind als ich. Vor zwei Jahren wurde Mr. Yannis, ein Zahnarzt, getötet, als er mit seinem Elektrorad von der ummauerten, bewachten Klinik, wo er arbeitete, nach Hause fuhr. Mrs. Yannis sagt, er sei in ein Kreuzfeuer geraten, wurde aus zwei Richtungen getroffen und dann noch von einem Schuss aus kurzer Distanz. Sein Rad wurde gestohlen. Die Polizei startete eine Untersuchung, kassierte ihre Gebühr und fand absolut nichts heraus. Auf diese Art werden ständig Leute umgebracht. Wenn es nicht unmittelbar vor einer Polizeistation passiert, findet man niemals Zeugen.

 

 

Samstag, 3. August 2024

Die tote Astronautin wird zur Erde zurückgebracht werden. Sie wollte auf dem Mars bestattet werden. Das sagte sie, als ihr klar wurde, dass sie im Sterben lag. Sie sagte, der Mars sei das gewesen, was sie ihr ganzes Leben lang hatte haben wollen, und jetzt könnte sie für immer ein Teil davon werden.

Aber der Sekretär für Astronautik sagt nein. Er sagt, ihr Körper könnte eine Kontamination darstellen. Was für ein Idiot!

Kann er so dumm sein zu glauben, dass irgendwelche Mikroorganismen, die auf oder in ihrem Körper leben, in diesem kalten, dünnen, tödlichen Gespenst von Marsatmosphäre überleben und sich fortpflanzen könnten? Vielleicht kann er das. Sekretäre für Astronautik müssen nicht viel über Wissenschaft wissen. Sie müssen sich in der Politik auskennen. Ihr Ressort ist das jüngste im Kabinett, und es kämpft bereits ums Überleben. Christopher Morpeth Donner, einer der heurigen Präsidentschaftskandidaten, hat bereits versprochen, es nach einem Wahlsieg abzuschaffen. Mein Vater stimmt in diesem Punkt mit ihm überein.

»Brot und Spiele«, sagt Vater, wenn Nachrichten über Raumfahrt im Radio kommen. »Politiker und Großkonzerne bekommen das Brot, und wir kriegen die Spiele.«

»Im Raum könnte unsere Zukunft liegen«, sage ich. Ich glaube das. Soweit es mich betrifft, gehören Erkundung und Kolonisierung des Weltraums zu den wenigen aus dem vorigen Jahrhundert übrig gebliebenen Dingen, die uns eher helfen als verletzen könnten. Es fällt natürlich schwer, das zu begreifen, wenn es außerhalb unserer Mauern so viel Leiden gibt.

Vater schaut mich nur an und schüttelt den Kopf. »Du verstehst es nicht«, sagt er. »Du hast keine Ahnung, was für eine kriminelle Verschwendung von Geld und Zeit dieses sogenannte Raumfahrtprogramm darstellt.« Er wird für Donner stimmen. Er ist die einzige mir bekannte Person, die überhaupt wählen geht. Die meisten Leute haben die Politiker abgeschrieben. Schließlich waren es die Politiker, die uns die Rückkehr zu Ruhm, Reichtum und Ordnung wie im zwanzigsten Jahrhundert versprochen haben, solange ich mich erinnern kann. Davon handelt in diesen Tagen das Raumfahrtprogramm, zumindest für die Politiker. He, wir können eine Raumstation betreiben, eine Mondbasis und bald eine Kolonie auf dem Mars. Das zeigt, dass wir immer noch eine große, in die Zukunft blickende Nation sind, oder etwa nicht?

Yeah.

Nun, wir sind überhaupt kaum noch eine Nation, aber ich bin trotzdem froh, dass wir noch im All präsent sind. He, wir müssen irgendwo anders hin als die Toilette hinunter.

Es tut mir leid, dass die Astronautin aus dem von ihr gewählten Himmel zurückkehren muss. Ihr Name war Alicia Catalina Godinez Leal. Sie war Chemikerin. Ich habe die Absicht, sie im Gedächtnis zu behalten. Ich glaube, sie kann eine Art Vorbild für mich sein. Sie gab ihr Leben für den Mars – bereitete sich vor, wurde Astronautin, kam in eine Marsmannschaft, flog zum Mars, begann über das Terraformen des Mars nachzudenken, begann mit der Einrichtung geschützter Orte, an denen Menschen jetzt leben und arbeiten können … Der Mars ist ein Felsbrocken – kalt, leer, beinahe ohne Atmosphäre, tot. Und doch ist er in gewisser Hinsicht der Himmel. Wir können ihn am Nachthimmel sehen, eine vollständige andere Welt, aber zu nahe, zu sehr in Griffweite der Menschen, die die Erde zu einer solchen Hölle gemacht haben.

 

 

Montag, 12. August 2024

Mrs. Sims hat sich heute erschossen – oder besser gesagt, sie hat sich vor ein paar Tagen erschossen, und Cory und Vater haben sie heute gefunden. Cory war deshalb eine Weile lang etwas durchgedreht.

Arme, scheinheilige, alte Mrs. Sims. Sie saß an jedem Sonntag in der Kirche in unseren Vorderräumen, hielt eine Großdruckbibel in den Händen und respondierte laut: »Ja, Herr! Hallelujah! Dank sei dir, o Jesus! Amen!« Den Rest der Woche über nähte sie, flocht Körbe, kümmerte sich um ihren Garten, verkaufte daraus, was nur ging, kümmerte sich um Vorschulkinder und richtete jeden aus, der nicht so heilig war, wie sie selbst zu sein glaubte.

Sie war der einzige mir bekannte Mensch, der völlig allein lebte. Sie hatte ein ganzes großes Haus für sich selbst, weil sie und die Frau ihres einziges Sohnes einander hassten. Ihr Sohn und seine Familie waren arm, aber sie wollten nicht bei ihr wohnen. Zu schade.

Eine ganze Anzahl von Leuten machten ihr auf tiefgehende, harte, hässliche Weise Angst. Sie mochte die Familie Hsu nicht, weil sie chinesisch-hispanisch war, und die ältere chinesische Generation noch buddhistisch ist. Sie wohnte viel längere Zeit, als ich am Leben bin, ein paar Türen von ihnen entfernt, aber für sie stammten die immer noch vom Saturn.

›Götzenanbeter‹ nannte sie sie, wenn sie nicht dabei waren. Wenigstens kümmerte sie sich genügend um Nachbarschaftsbeziehungen, um über sie hinter ihren Rücken zu tratschen. Sie brachten ihr Pfirsiche und Feigen und ein schönes Stück gutes Leinen, als sie letzten Monat beraubt worden war.

Dieser Raubüberfall war Mrs. Sims' erste größere Tragödie. Drei Männer überkletterten die Nachbarschaftsmauer, indem sie den Stacheldraht und den Lazordraht auf ihrem Gipfel durchschnitten. Lazordraht ist ein schreckliches Zeug. Er ist so fein und so scharf, dass er die Flügel oder die Füße von Vögeln zerschneidet, die ihn entweder überhaupt nicht sehen, oder ihn doch sehen können und sich daraufsetzen wollen. Menschen hingegen finden immer einen Weg darüber oder darunter hindurch.

Jeder brachte Mrs. Sims nach dem Raub Sachen, trotz ihrer Art. Essen, Kleider, Geld … Wir sammelten in der Kirche für sie. Die Räuber hatten sie gefesselt zurückgelassen – nachdem einer von ihnen sie vergewaltigt hatte. Eine alte Dame wie sie! Sie nahmen alle ihre Nahrungsmittel, ihren Schmuck, der einst ihrer Mutter gehört hatte, ihr ganzes Bargeld. Wie sich herausstellte, bewahrte sie es – alles, was sie hatte – in einer blauen Mixer-Rührschüssel oben in ihrem Küchenschrank auf. Arme, verrückte alte Frau. Sie kam dann zu meinem Vater, weinte und jammerte wegen des Raubes, weil sie sich jetzt nicht mehr die zusätzlichen Lebensmittel zur Ernte aus ihrem Garten kaufen können würde. Sie würde ihre Stadtwerkerechnungen und die bevorstehende Grundsteuer nicht zahlen können. Sie würde aus ihrem Haus geworfen und auf die Straße gesetzt werden! Sie würde verhungern!

Vater sagte ihr immer und immer wieder, dass die Kirche das nie geschehen lassen würde, aber sie glaubte ihm nicht. Sie jammerte immer weiter, dass sie jetzt eine Bettlerin sein würde, während Vater und Cory sie zu beruhigen versuchten. Das Komische daran war, dass sie auch uns nicht mochte, weil Vater hingegangen war und ›diese Mexikanerin Cory-a-zan‹ geheiratet hatte. Es ist nicht so besonders schwierig, ›Corazon‹ zu sagen, wenn man das will. Die meisten nannten sie Cory oder Mrs. Olamina.

Cory ließ sich nie anmerken, dass sie verletzt war. Sie und Mrs. Sims waren zuckersüß zueinander. Noch ein bisschen mehr Heuchelei um des lieben Friedens willen.

Vorige Woche starben Mrs. Sims' Sohn, seine fünf Kinder, seine Frau, deren Bruder und dessen drei kleine Kinder in einem brennenden Haus – auf Grund von Brandstiftung. Das Haus des Sohnes war in einem nicht ummauerten Gebiet nordöstlich von unserem gelegen, näher an den Vorbergen. Es war keine üble Gegend, aber arm. Nackt. Eines Nachts zündete jemand das Haus an. Vielleicht war es ein Rachefeuer von einem Feind eines Familienmitglieds, oder vielleicht hat es auch nur ein Verrückter aus Spaß gelegt. Ich habe davon gehört, dass es eine neue illegale Droge gibt, die die Leute zum Feuerlegen veranlasst.

Wie auch immer, niemand weiß, wer es den Sims-Boyer-Familien angetan hat. Selbstverständlich hat auch niemand etwas gesehen.

Und niemandem ist gelungen, das Haus zu verlassen. Das ist merkwürdig. Elf Menschen, und keiner hat es geschafft.

Mrs. Sims hat sich vor ungefähr drei Tagen erschossen. Vater sagte, er habe von den Cops gehört, dass es etwa drei Tage her sein muss. Das wäre also etwa zwei Tage gewesen, nachdem sie vom Tod ihres Sohnes erfahren hat. Vater suchte sie heute morgen auf, weil sie gestern nicht in der Kirche gewesen war. Cory zwang sich zum Mitkommen, weil sie das für notwendig hielt. Ich wünschte, sie hätte das nicht getan. Für mich sind Leichen schrecklich. Sie stinken, und wenn sie alt genug sind, sind Maden darin. Aber was soll's? Sie sind ja tot. Sie leiden nicht, und wenn man sie lebend schon nicht mochte, warum sollte man sich dann über ihren Tod aufregen? Cory hat sich sehr aufgeregt. Sie sagt mir, ich solle nicht den Schmerz mit den Lebenden teilen, aber sie versuchte dasselbe mit den Toten.

Ich habe über diese Mrs. Sims zu schreiben begonnen, weil sie sich selbst getötet hat. Das ist es, was mich aufregt. Wie Vater glaubte sie, dass man in der Hölle im ewigen Feuer brennt, wenn man sich selbst tötet. Sie glaubte wörtlich an alles, was in der Bibel steht. Und doch, als ihr alles zuviel wurde, entschied sie sich dafür, die gegenwärtige Pein hier gegen die ewige im Jenseits einzutauschen.

Wie konnte sie das nur tun?

Hat sie überhaupt an etwas geglaubt? Oder war alles nur Heuchelei?

Aber vielleicht wurde sie auch nur verrückt, weil ihr Gott zuviel von ihr verlangte. Sie war nicht Hiob. Wie viele Leute sind das im wirklichen Leben?

 

 

Samstag, 17. August 2024

Ich bringe Mrs. Sims nicht aus dem Kopf. Irgendwie haben sie und ihr Selbstmord sich mit der Astronautin, deren Tod und ihrer Vertreibung aus dem Himmel verknüpft. Ich muss über das schreiben, was ich glaube. Ich muss damit beginnen, dass ich die verstreuten Verse, die ich über Gott geschrieben habe, seit ich zwölf Jahre alt war, zusammensetze. Das meiste davon ist nicht sehr gut. Sie sagen, was ich sagen musste, aber sie sagen es nicht sehr gut. Ein paar sind so, wie sie sein sollten. Sie bedrücken mich genauso wie die beiden Todesfälle. Ich versuche, mich hinter all der Arbeit zu verstecken, die hier für den Haushalt zu tun ist, für Vaters Kirche und für die Schule, in der Cory die Nachbarschaftskinder zu unterrichten versucht. Die Wahrheit ist, dass ich mir nicht sehr um all das Gedanken mache, aber es hält mich beschäftigt und macht mich müde, und deshalb schlafe ich die meiste Zeit traumlos. Und Vater strahlt über das ganze Gesicht, wenn die Leute ihm sagen, wie klug und fleißig ich bin.

Ich liebe ihn. Er ist der beste Mensch, den ich kenne, und es bedeutet mir viel, was er denkt. Es wäre mir lieber, wenn es nicht so wäre, aber es ist nun einmal so.

Was auch immer es wert sein mag – ich sage jetzt, was ich glaube. Ich habe viel Zeit gebraucht, um es zu verstehen, dann noch mehr Zeit mit Wörterbuch und Lexikon, um es richtig auszudrücken – genau so, wie es sein muss. Letztes Jahr habe ich es fünfundzwanzig oder dreißig Mal überarbeitet, in mäßigen, unzusammenhängenden Versionen. Dies hier ist die richtige, die wahre. Dies ist die eine, auf die ich immer zurückkomme:

 

Gott ist Macht –

Unendlich,

Unwiderstehlich,

Unerforschlich,

Indifferent.

Und doch, Gott ist erreichbar –

Trickster,

Lehrer,

Chaos,

Lehm.

Gott existiert, um geformt zu werden.

Gott ist der Wandel.

 

Das ist die buchstäbliche Wahrheit.