Informationen zum Buch

»Jutta Voigt ist eine Meisterin der Übergänge, eine Virtuosin der Verdichtung.« Der Tagesspiegel.

In ihren brillanten Gerichtsreportagen richtet Jutta Voigt den Blick weniger auf die großen und kleinen Verbrechen, die vor dem Richter verhandelt werden, als vielmehr auf die Menschen und die Schicksale hinter den Fällen. Ihre Stärke ist, dass sie nie objektiv bleibt, sondern Mitgefühl mit den »Gefallenen« zeigt, denn ihr geht es vor allem um die Frage: Gerechtigkeit, was ist das?

In den Gerichtssälen formiert sich ein grotesker Reigen der Typen, Charaktere und Milieus. Ein Reigen, dessen Protagonisten aus der Reihe tanzten und stürzten, der Reigen der Rechtsbrecher, bizarr, komisch, zerstörerisch. Ein Panorama der sieben Todsünden und ihrer Abarten. Wie auf der allegorischen Tafel des Pieter Breughel, wo lauter Einzelne lauter sinnlosen Beschäftigungen nachgehen und sich der Sinn des Lebens in geschäftiger Gleichgültigkeit verliert. Der Reigen im Gerichtssaal stellt sich aus der Abfolge der Verhandlungstermine her, dem Auftritt der Angeklagten und ihrer Delikte. Der Unterschied zwischen Mord und Ladendiebstahl, Mord und Körperverletzung: Das eine ist groß, das andere klein, das eine lächerlich, das andere tragisch. Mörder sind besser dran als Ladendiebe. Der Mörder wird vor Gericht als ganzer Mensch wahrgenommen, als Individuum mit Schicksal und Vergangenheit. Vor dem Amtsgericht, wo die kleinen Vergehen geahndet werden, zählt allein das Delikt, der Beschuldigte ist in der Regel nicht von Belang. Keiner hier will wissen, wie der Angeklagte denkt und welch traumatisches Erlebnis sein Handeln beeinflusst haben könnte. Gerichtsreporter tauchen in diese Welten ein und bleiben objektiv. Jutta Voigt ist nicht objektiv geblieben. Opfer oder Täter nahe gekommen zu sein, bedeutet, im Reigen der Rechtsbrecher ein paar Schritte mitgetanzt zu haben. Bedeutet Mitgefühl. Mitleid mit den Gefallenen.

Jutta Voigt

Verzweiflung und Verbrechen

Menschen vor Gericht

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Einleitung

Der Reigen

Ehe tut weh

Direkt aus der Hölle

Sperlings Frauen

Nestwärme

Das letzte Lächeln

Auf Station

Die kleine Diebin

Der Tiger

Polizisten brauchen Liebe

Abgestürzt

Fiszmans letzter Sommer

Der Boxer

Eine blutige Pointe

Stimmt so

Kalte Welt

Intermezzo 1

Der alte Amtsrichter

Wiebke, warum weinst du?

Unser täglich Brot

Borten annähen!

Der Verrückte

Der Albtraum

Genickschuss, aus, Schluss

Der zaghafte Dieb

Die Einladung

Asphaltkönig

Eine Insel aus Träumen geboren

Seufzer im Saal

Intermezzo 2

Mode in Moabit

Armer Mann, reicher Mann

Kinderseele in Not

Der gestohlene Engel

Liebesbriefe an die Bank

Der Kauknochen

Eigener Herd

Intermezzo 3

Ich klaue jeden Tag außer Freitags

Flirtline

Bunkes Baby

Schöne Dinge

Horch und guck!

Am Abgrund

Herr im Haus

Der Beschützer

Messer im Wasser

Morgenluft

Mutterliebe

Die Fremde

Die gewöhnliche Wut

Intermezzo 4

Die Entschuldigung

Der Spieler

Das stille Paar

Tod einer Mieterin

Frau am Fenster

Vollgemüllt

Das bestellte Feuer

Vaterfrei

Familienfinsternis

Die Futschifamilie

Rosenkrieg

Romantik kaputt

Das Wohnzimmersofa

Ein Frauentyp

Sommerjustiz

Schmutzige Liebe

Nachsatz

Unschuldig immer

Über Jutta Voigt

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Für Dschi und Jim

Einleitung

Der Reigen

Herr Somma hat einen Plan: Heute haue ich jemand auf die Fresse. Das sagt er am Morgen und findet keinen anderen als die eigene Frau, die er am Abend krankenhausreif schlägt. Der Langzeitarbeitslose Prix entwendet bei Kaufhof ein Herrenparfüm, weil er Angst hat, nach Schweiß zu riechen bei seinem Bewerbungsgespräch. Der todkranke Herr Möllner bestellt unter falschem Namen einen Gipsengel und lässt ihn unbezahlt über seinem Bett schweben. Frau Schifrik wartet auf den Zug, der ihr Leben beenden soll, und sie randaliert, als die Polizei sie an ihrem Vorhaben hindert.

In den Gerichtssälen formiert sich ein Reigen, dessen Protagonisten aus der Reihe tanzten und stürzten, der Reigen der Rechtsbrecher, bizarr, komisch, zerstörerisch. Ein Panorama der sieben Todsünden und ihrer Abarten. Wie auf der allegorischen Tafel des Pieter Breughel, wo lauter Einzelne lauter sinnlosen Beschäftigungen nachgehen und sich der Sinn des Lebens in Gleichgültigkeit verliert. Der Reigen im Gerichtssaal stellt sich aus der Abfolge der Verhandlungstermine her, aus dem Auftritt der Angeklagten und ihrer Delikte.

Ich sage Ihnen, da gehen Sie zugrunde!, prophezeit die Richterin einem alkoholkranken Künstler, ihm droht Gefängnis; er warf im Rausch aus einem Fenster seiner Wohnung ein volles Wasserglas auf einen Müllmann, der ihm zu laut war. Die Richterin hat was übrig für Künstler, Herr Beiler kommt wieder einmal mit Bewährung davon und muss noch nicht zugrunde gehen. Die Inhaftierte Sick dagegen schätzt das Gefängnis. Sie hat ihre Strafe abgesessen, will aber nicht raus, sie wird mit voller Absicht erneut straffällig, denn sie möchte den Arbeitsplatz als Köchin in der Gefängnisküche behalten. Jens L. klickt zitternd die blutverschmierte Tastatur seines Computers und teilt der Internetcommunity mit, dass er eben seine Frau erstochen hat; der erste Mord des Internetzeitalters. Das kriminelle Mosaik, das den Alltag der Gesellschaft von den Ausnahmen her erzählt, ist ein Ornament aus Verzweiflung und Verbrechen.

Der Unterschied zwischen Mord und Ladendiebstahl, Mord und Körperverletzung: Das eine ist groß, das andere klein, das eine lächerlich, das andere tragisch. Das eine nennt sich Kleinkriminalität, das andere Kapitalverbrechen. Es gibt Grenzen, die sich unverhofft auflösen. Einer schlägt seine Frau zusammen, ein anderer schlägt seine Frau tot. Der eine stiehlt im Supermarkt ein Päckchen gekochten Schinken, der andere überfällt einen Juwelierladen und erschießt dabei den Besitzer, was er nicht geplant hatte.

Mörder sind besser dran als Ladendiebe. Der Mörder wird vor Gericht als ganzer Mensch wahrgenommen, als Individuum mit Schicksal und Vergangenheit. Man lässt sich Zeit mit ihm, forscht seine Kindheit aus, erkundigt sich einfühlsam nach Lebensumständen und seelischem Befinden. Der Mörder ist als Mensch ein Gegenstand von Interesse, er bedeutet etwas, weil seine Tat von Bedeutung ist. Vor dem Amtsgericht, wo die kleinen Vergehen geahndet werden, zählt allein das Delikt, der Beschuldigte ist in der Regel nicht von Belang. Man erfragt seine Personalien und wie viel Euro ihm monatlich zur Verfügung stehen, damit man in etwa einen Rahmen hat für die Höhe der Geldstrafe. Keiner hier will wissen, wie der Angeklagte denkt und welch traumatisches Erlebnis sein Handeln beeinflusst haben könnte. Es gibt einfach zu viele Diebe, Dealer, Säufer, Schläger, Schwarzfahrer und Betrüger, als dass man jeden Einzelnen in seinem menschlichen Reichtum erfassen könnte.

Der Mann im Rollstuhl bestellt in einer Trattoria einen Teller Spaghetti, ein Glas Chianti und ein Tiramisu. Als der Kellner die Rechnung bringt, sagt der Gast, dass er nicht bezahlen kann. Er hat kein Geld und keine Arbeit. Früher tolerierte man so was als Mundraub, heute landet der Hungrige vor Gericht, wegen zwanzig Euro. Die Bedeutung der Delikte ergibt sich aus der Größe des Begehrens. Ein Immobilienspekulant möchte schöne alte Häuser in altem Glanz wiedererstehen lassen, das kostet. Ich hatte kein eigenes Geld, also musste ich mir welches beschaffen, sagt er. Am Ende hat er Milliarden Schulden bei den Banken, auch er kommt vor Gericht. Zwischen zwanzig Euro und drei Milliarden Euro aber liegen Welten.

Gerichtsreporter tauchen in diese Welten ein und bleiben objektiv. Ich bin nicht objektiv geblieben. Es gab Fälle, da kannte ich die Opfer. Da war Jakub Fiszman, mit dem ich in einer Regennacht an einer Bar auf Mallorca einen Mojito getrunken hatte. Ein Jahr danach erschlug ihn ein Malermeister im Wald, aus Habgier. Da war der Ökonomiestudent Werner Teske, in der DDR hingerichtet »mit einem unverhofften Schuss in das Hinterhaupt«. Ich habe im selben Hörsaal gesessen wie er. Und es war da Marlen, die stolze Ladendiebin, die mir freimütig von ihren Tricks und Triumphen erzählte.

Opfer oder Täter nahegekommen zu sein, bedeutet, im Reigen der Rechtsbrecher ein paar Schritte mitgetanzt zu haben. Bedeutet Mitgefühl. Mitleid mit den Gefallenen. Mit der Frau, die auf dem Sozialamt Geld für Kinderkleidung rausschlagen will und gesagt kriegt, sie solle Borten an die Hosen und Jacken ihrer Kinder nähen, das habe man nach dem Krieg auch so gemacht. Mit dem verrückten Idealisten, der aus Enttäuschung über den Verlust der Ideale seine Wohnung in Brand setzt. Mitleid mit Wiebke. Die junge Mutter war schon wieder ohne Ticket gefahren und ist nun angeklagt wegen Erschleichung von Beförderungsleistungen. Wiebke, warum weinst du?, ruft ihr vierjähriger Sohn seiner Mama im Gerichtssaal zu. Die Schwarzfahrerin ist verzweifelt über ihren tiefen Fall, wer kein Geld hat, fällt schnell.

Verfolgt das kleine Unrecht nicht zu sehr, in Bälde

Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt 

Bertolt Brecht

In der Oberschicht wird mit einem gewissen Glamour gelogen und betrogen. Gigantische Steuerhinterziehung, schamlose Plagiate, verkommene Spendenaffären, unfassbare Bankenskandale. Auftragsmorde auch. Eine Mieterin wollte nicht ausziehen, sie musste sterben, weil sich leere Wohnungen besser verkaufen als bewohnte. Da macht der Profit dem Satan Konkurrenz. In der Unterschicht, jenem Drittel der Gesellschaft, das ausgeschlossen ist vom Wohlleben der anderen zwei Drittel, ist die Kleinkriminalität verbreitet, das hilflose Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Unterschicht – das klingt nach Eisenbahnfahren auf Holzbänken, dritte Klasse, klingt nach »Es war einmal«, meint aber »Es ist einmal«. Aus der Unterschicht kommen sie alle, die kleinen Gesetzesbrecher, die saufen, hauen, klauen, lügen und betrügen, Abschaum auf der Bouillon der Begüterten. Wir, die wir sicher sind, dass uns so etwas nicht passieren kann, sollten bedenken, dass die Grenzen zwischen denen und uns fließend sind. Aus einem Rinnsal wird rasch ein reißender Fluss. Macht des Schicksals heißt das in der Oper.

Die Arroganz des Geldes leitet von Armut weniger Menschsein ab, wer weniger hat, ist weniger wert. Gerechtigkeit – was ist das? Teilhabe. Vor allem aber Teilnahme, politische Gemeinschaften ohne Gerechtigkeit sind nicht besser als Räuberbanden, soll der heilige Augustinus gesagt haben. Der Schrei nach Gerechtigkeit ist allgegenwärtig, ob er Gehör findet, hat nicht zuletzt mit Geld zu tun, Arme haben keine Anwälte. Gerechtigkeit – was ist das? Amtsrichter Rüdiger Warnstädt, der in seinem langen Arbeitsleben Tausende von Kleinkriminellen abgeurteilt hat, sieht als größten Fortschritt bei der Durchsetzung von Gerechtigkeit, dass unter dem Schutz des Gesetzes jeder seine kleine Existenz fristen darf.

Gerecht ist, zu klauen, wenn man sich ausgeschlossen fühlt, glaubt dagegen Marlen, die Ladendiebin, gerecht ist, wenn ich mir von den Meyers und Aldis, von KaDeWe und Cloppenburg, von Douglas und Rossmann, wenn ich mir von deren Gewinn was nehme. Gerechtigkeit ist nicht gerecht.

Nach der Drehtür beginnt die Dämmerung. Auf einer Suchanzeige das rekonstruierte Gesicht eines Toten, den keiner vermisst, auch den Mörder kennt niemand. In den Glaskästen daneben hängen die Termine für die Kleinkriminellen aus, gleichmäßig und unauffällig, es scheinen immer wieder die alten zu sein, Termine für die kleinen Fische, die armen Schweine, die Unverbesserlichen, von denen es viele gibt. Der Ort, wo Schuld mit Lebenszeit bezahlt wird, geht so gleichgültig wie diskret um mit seinen Schuldnern, ein Name, eine Uhrzeit, ein Zeichen, das Delikt ist für Laien nicht erkennbar. Jeden Morgen werden die Verlierer vor die Richtertische geschwemmt. Diebe, Dealer, Säufer, Schläger, Schwarzfahrer und Betrüger.

Vor der Sperre zum Eingang bildet sich jeden Morgen eine Schlange – Angeklagte, Zeugen, Zuschauer. Eilige Anwälte zerren im Gehen den Talar aus dem Rucksack, sie benutzen den Diensteingang. Die anderen warten. Nach Vorzeigen von Personalausweis oder Ladung dürfen sie die Schranke passieren. Auf halber Treppe wird kontrolliert. Uniformierte Angestellte kramen in Taschen und Tüten, tasten die Körper mit Suchgeräten ab.

Gnädiger Halbschatten fällt auf die Gesichter der Sünder, die sich in der Frühe einfinden, um der Vorladung des Richters zu folgen, eingeschüchtert oder durch Gewöhnung unbeeindruckt von den mächtigen allegorischen Figuren, die Respekt vor Recht und Gesetz einfordern. Die bombastische Katakombe Moabit besteht aus Sälen, in die kaum Tageslicht fällt, aus langen Gängen, in denen kranke Grünpflanzen gleichgültig verdämmern. Zwielicht herrscht, irgendwo ein Fenster, durch das keine Helligkeit dringt; jeder Sonnenstrahl wäre ein Sakrileg. In den Verhandlungssälen brennt den ganzen Tag das Licht, die wenigen Fenster sind vergittert, Milchglas dämpft alles Helle. Das Haus, dessen höchste Aufgabe darin besteht, Licht ins Dunkel der Taten von Ladendieben und Frauenmördern zu bringen, führt eine lichtscheue Existenz, möglicherweise hat die Dämmerung Methode. Sie hüllt den Jammer milde ein, dunkle Triebe werden nicht ans Licht gezerrt, das Schicksal entrinnt dem Scheinwerfer. Hier lassen sich ganz schwer Fotos machen, sagt bekümmert ein Fotograf.

Heere von Erniedrigten und Beleidigten erwarten Tag für Tag Bestrafung, fordern Genugtuung. In den kahlen Korridoren des alten Justizpalastes hocken sie auf kalten Plastikbänken und schweigen. Sie sitzen und warten, bis ihre Sache aufgerufen wird. Die Flure des Amtsgerichts gehören zu ihrem Leben wie die Abfertigungsschalter der Arbeitsämter und Sozialhilfestellen. Justizmenschen mit strebsam herausgestreckten Hinterteilen schieben, Aktenergebenheit im Blick, blecherne Wagen voller Papierhaufen durch Gänge, die in labyrinthischer Unausweichlichkeit im Nirgendwo zu enden scheinen; rosa Pappmappen enthalten Schriftstücke, die noch auf der Schreibmaschine getippt wurden, alte Vorgänge, verbüßte Strafen, die Gerechtigkeit nimmt lange Wege.

Wer einmal hier war, kommt öfter. Er landet immer wieder vor demselben Gesetzeshüter, denn die Sünder von Moabit sind geordnet nach den Anfangsbuchstaben ihres Namens. So bearbeitet der eine Amtsrichter die straffälligen Meyers und Mönkebergs, ein anderer die Schulzes und Schönemanns. Im Halbstunden-Rhythmus sprechen Dutzende Amtsrichter in Dutzenden Sälen Urteile für A–Z. So manchem Angeklagten mag das Gesicht des Richters als das eines nicht allzu fernen Verwandten erscheinen.

Moabit schleudert Lebensgeschichten wie Schmutzwäsche durch die Instanzen. Das Gericht dient auch als Justizvollzugsanstalt, vom Urteil zur Zelle ist es nur ein kleiner Schritt. Zuweilen dringt vom Hof dumpfes, männliches Grollen hoch in die Verhandlungssäle mit den vergitterten Fenstern, manchmal ist der Lärm so stark, dass man die Plädoyers nicht verstehen kann – Freistunde der Häftlinge. Die Melodie von Moabit kann sensible Übeltäter das Fürchten lehren.

Ehe tut weh

Im Gerichtssaal erfährt man das schlimme Ende, die schönen Anfänge bleiben in der Regel unbesprochen. So könnte es gewesen sein mit Mirko und Annika, bevor es bergab ging.

Der Blick von Bruce Willis schießt ihr mitten ins Herz. Ganz langsam zieht sie die Grüne Wiese durch den Strohhalm, lächelt hilflos und schiebt sich, weil ihr die Knie weich werden, auf den Barhocker, neben dem sie eben noch gestanden hatte, man soll ihre glitzernden Sandaletten mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen sehen. Der Blick von Bruce Willis bringt sie an die Grenze zur Ohnmacht. Mit ihm könnte sie Carsten vergessen, das Schwein, Carsten, der sie wegen dieser Videothekschlampe verlassen hatte. Sie merkt nicht, dass keine Grüne Wiese mehr durch den Strohhalm kommt, nur noch ihr lautes Sauggeräusch ist zu hören, erschrocken stellt sie das Glas auf dem Tresen ab.

Es ist nicht Bruce Willis, es ist Mirko, der die Muskeln im schwarzen T-Shirt anspannt und sich vor Annika aufbaut wie ein Wolkenkratzer, obwohl er eher die Maße eines Bungalows hat. Er strahlt Sicherheit aus, Diskos sind sein Terrain, hier hat er im Gegensatz zu anderen Schauplätzen des Lebens durchschlagenden Erfolg, hier ist Mirko ein Mann der Tat. Und du, wie heißt du? Annika, sagt sie. Wollen wir tanzen, Annika? Sie zieht ihr Tigerjäckchen über der Rüschenbluse aus und folgt ihm zur Tanzfläche, über der die Lichter flackern wie ein krankes Herz mit Rhythmusstörungen. Beim Tanzen lassen sie einen guten Meter Abstand zwischen sich und präsentieren einander ihre Körper, Annikas Brüste sind zwischen den rosa Rüschen wie zwei Petits Fours auf Konditordeckchen dekoriert, Mirkos Bizeps ist straff. Drei Minuten später zieht er Annika eng an sich heran, denn es ist schon spät. Sie gehen zu ihr, und es ist schön. Sie streicheln sich, das Leben scheint leicht wie ein Luftballon auf dem Weg in den Himmel. Eins dieser Paare, wo mit dem ersten Lächeln, der ersten Berührung der Zenit ihrer Liebe schon erreicht ist. Man tanzt in den Morgen, geht zusammen nach Hause und heiratet.

Er ist so zärtlich, erzählte Annika am Montagmorgen im Salon, während sie Lockenwickler nach Farben sortierte, er hat mir das Frühstück ans Bett gebracht, ihr hättet ihn sehen müssen, er sieht aus wie die Statue, die mir meine Tante aus Italien mitgebracht hat, so ein David. Die Kolleginnen kicherten, ich denke, er guckt wie Bruce Willis, sagte Manuela. Guckt er ja auch, seufzte Annika glücklich.

Obwohl Mirko keine Arbeit hatte und wenig Geld da war, haben sie ein halbes Jahr später geheiratet. Man will doch jemanden zum Kuscheln haben in dieser kalten Welt, man weiß ja noch nicht, dass es irgendwann zu Hause kälter sein wird als draußen. Sie feierten eine weiße Hochzeit, wochenlang hatte Annika Kataloge gewälzt und schließlich ein Brautkleid mit fünf Meter langer Schleppe gefunden, hammergeil, hatte Mirko mit heiserer Stimme geflüstert, hammergeil. Mit der Frisur der Braut waren am Hochzeitstag drei ihrer Kolleginnen beschäftigt, eine Hochsteckkreation mit dreißig winzigen Amor-Pfeil-und-Bogen-Spangen im schwarzen Haar. Sie mieteten die »Palme«, das ganze Lokal, und alle sagten, sie seien ein schönes Paar. Der Mirko tanzt ja wie Patrick Swayze in Dirty Dancing, bemerkte Tante Kerstin mit fachmännischer Anerkennung, und Annikas Mutter weinte heimlich, wie alle Mütter, die inständig hoffen, dass es gut geht, und wissen, dass es nicht gut gehen kann.

Ein paar Mal war Mirko im Jobcenter gewesen, man hatte ihm eine Umschulung zum Gebäudereiniger bewilligt; drei Wochen lang putzte er Fenster, dann wurde ihm schwindlig, und er blieb zu Hause.

Annika arbeitete für zwei, sie sprang ein, wenn Doreens Kind krank war oder Leila Grippe und Katrin Urlaub hatte, sie verdiente das Geld zum Leben. Er ging jeden Tag ins Fitnesscenter, zweimal in der Woche joggte er um den Block. Einmal kam sie nach Hause, da stand er vor dem großen Spiegel im Korridor, spannte die Muskeln an, kopierte Bruce-Willis-Posen und machte Bruce-Willis-Gesichter. Warum er nicht angefangen hat, das Bad zu streichen, fragte ihn Annika, denn Maler und Lackierer hatte er doch mal gelernt. Kein Bock – Mirko setzte sich beleidigt vor den Fernseher. Als die Pizza fertig war, kam er in die Küche, nahm seinen Teller und hockte sich wieder auf das Wohnzimmersofa. So ging das zwei Jahre lang. Es kam vor, dass Annika, wenn sie von der Arbeit kam, eine Welle der Wut überrollte. Sie begann, Mirko zu verachten: Du bist kein Mann, du hast bloß Muskeln, aber wozu, zum Arbeiten jedenfalls nicht. Da hat er sie geohrfeigt.

Ich könnte ihm das Küchenmesser in den Rücken rammen, wenn er so sitzt und glotzt, vertraute sie beim Strähnchenblondieren einer Stammkundin an. Eine Frau aus Kalifornien, erzählte die Stammkundin, das habe sie in der Zeitung gelesen, eine Mrs. Schuster hat ihren Mann, einen arbeitslosen Krankenpfleger, umgebracht, weil er in ihren Augen ein Nichts war, weil sie die Macht hatte, und die Macht hatte sie, weil sie das Geld verdiente. Der Mann schlief mit einer Pistole unterm Kopfkissen, solche Angst hatte er vor seiner Frau. Das Ende der Männer ist nah, sagte die Stammkundin. Da können Sie mal sehen, sagte Annika.

Irgendwann lernte sie René kennen, er war Fachverkäufer bei Mediamarkt, lud sie zum Essen ein und brachte sie zum Lachen. Annika wollte Mirko nicht mehr und reichte die Scheidung ein. Auf dem Weg zum Anwalt schlug er sie zusammen. Er konnte nicht fassen, dass sie ihn wirklich verlässt, wegen eines anderen. Er war verzweifelt und schlug zu, blind vor Wut, die Schläge galten möglicherweise ihm selbst und trafen mit Sicherheit Annika.

Ich dachte, er schlägt mich tot, hatte sie am nächsten Tag in das Surren der Föhne im Salon geschrien, die Kolleginnen hatten Annikas Wunden befühlt und dabei immer wieder »das Schwein« gesagt.

Dass man eine Frau so zusammenschlägt, habe ich noch nicht erlebt, sagt ein Zeuge, die Frau hat gestöhnt vor Schmerz, sie hat geweint und verzweifelt ihr Gesicht mit den Händen verdeckt, der Mann trat noch zu, als sie schon am Boden lag, immer mit den Springerstiefeln auf den Kopf.

Alles gar nicht wahr, ruft Annika in den Gerichtssaal. Sie ist so froh, dass sie ihn bald los ist, dafür bekommt er als Abfindung ihre Solidarität. Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, sagen die Zeugen. Es war die flache Hand, sagt sie. Er trat sie, bis sie zusammenbrach. Nur ein kleiner blauer Fleck, sagt sie. Er beschimpfte sie auf offener Straße. Wir waren beide unter Druck, sagt sie. Sie hätte unter Schock gestanden? Lächerlich. Sie sei durch die Tritte von der Bank gefallen? Lüge. Aus dem malträtierten Opfer wird die wütende Verteidigerin des Täters, ihres Ehemanns.

Der wird vor Gericht zum Kind. Kleinlaut, artig, ängstlich. Heilfroh, dass seine Frau bereit ist, mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Ganz leise spricht er, sein Rücken in der braunen Lederjacke ist krumm wie der eines Hundes, der seine Notdurft verrichtet. Angeklagt ist er wegen gefährlicher Körperverletzung. Ja, es waren Springerstiefel, flüstert er und fügt mit einem gewissen Stolz hinzu: aber ohne Stahlkappen. Es tue ihm leid, dass er seine Frau geschlagen und getreten habe.

Der Richter verhängt eine Freiheitsstrafe von neun Monaten zur Bewährung auf drei Jahre. Und hundert Stunden gemeinnützige Arbeit soll der Angeklagte leisten. Ihre Frau hat versucht, die Sache zu verniedlichen, die Tat aber kann sie nicht ungeschehen machen, belehrt er das Pärchen. Warum schützt die Frau ihren Mann, den schwächlichen Schläger? Im Seelenlabyrinth einer Ehe herrschen Gefühle, nicht Gesetze.

Vor dem Gerichtsgebäude wartet René, er legt seinen Arm um Annikas Schulter. Mirko geht in die andere Richtung. In den Taschen seiner braunen Lederjacke sucht er nach etwas, das er nicht findet.

Direkt aus der Hölle

An einem Freitag im März erstach Pug vom Sternensee seine Frau Gamina. Von den neunzehn Stichen war der in die Brust der tödliche, er öffnete ihr das Herz. Die letzte Gemeinsamkeit ihrer Ehe war die Welt des Internets. Auf der Website des Meridian-Mittelalter-Rollenspiels findet sich folgende Warnung: »Messe dich im Kampf mit starken Monstern oder auch anderen mächtigen Kriegern … Doch sei auf der Hut, der Tod liegt näher am Leben, als du ahnen kannst!«

Als sie tot war, legte Jens, der sich im Internet Pug vom Sternensee nannte, ein Handtuch über Sandra, die in der virtuellen Welt als Gamina auftrat. Er ging an den Computer und sendete eine Nachricht: »Hallo, Volk von Meridian, hiermit möchte ich mich von euch verabschieden. Ich werde meiner Frau im wirklichen Leben auf einer letzten gemeinsamen Reise folgen. Gehabt euch wohl. Frieden und ein langes Leben, Pug vom Sternensee.«

Die Tastatur des Computers war blutverschmiert, als die Polizei eintraf. Es war kein virtuelles Blut, das hier floss, sondern wirkliches: Der zweiunddreißig Jahre alte arbeitslose Feinelektroniker Jens L. hat seine Frau, eine leitende Angestellte beim Arbeitsamt, umgebracht, weil sie ihn verlassen wollte. Er hatte sie an jenem Freitag noch einmal in die gemeinsame Wohnung gebeten, um ihr Post und persönliche Papiere zu übergeben. Es standen zwei Kaffeetassen auf dem Tisch und Kekse, und es lag da das Schreiben seiner Anwältin, aus dem hervorging, dass Sandra L. ihrem Mann anstatt der freiwilligen siebenhundert Mark Unterhalt neunhundert zahlen müsse.

Diesen Brief präsentierte er ihr, vielleicht in der Hoffnung, sie damit zur Rückkehr zu bewegen. Sie reagierte anders: Die neunhundert Mark kriegst du nie. Sie soll gegrinst haben, als sie sagte: Eher gehe ich auf Teilzeit oder lasse mir ein Kind machen. Oder lasse mir ein Kind machen – der halbe Satz traf den Verlassenen an der empfindlichsten Stelle, seiner Zeugungsunfähigkeit. Der introvertierte Mann ging nicht mit Worten, sondern mit Messern auf seine Frau los. Sandra wehrte sich, gegen den Rasenden hatte sie keine Chance. Als das eine Messer abbrach, nahm er das nächste.

Nachdem der Täter die E-Mail gesendet hatte, fuhr er mit vierzig Schmerztabletten, Wein, Whisky, einer Schlinge und einer Gaspistole im Auto nach Königs Wusterhausen bei Berlin, schluckte erst die Tabletten, dann den Wein. Er telefonierte am Handy verzweifelt mit Verwandten und Freunden, wobei er Aufenthaltsort und Suizidabsicht andeutete. Er erbrach sich, wurde gerettet, versuchte die Bluttat als Notwehr darzustellen, gestand aber bald.

Klein und grau sitzt er zwischen seinen Anwälten. Ein blasser Mann mit asketischen Zügen, kurzen dunklen Haaren, Brille. Man könnte ihn für den Angestellten einer Werbeagentur halten, er könnte einem in den Fluren einer Universität begegnen. Jens L., stellt der psychiatrische Sachverständige nicht ohne Respekt fest, hat einen Intelligenzquotienten von 145, solche Höhe erreicht nur ein Prozent der Bevölkerung. Ihm gegenüber auf der Nebenklägerbank sitzt eine schmale Frau mit langem, zum Zopf gebundenem graublondem Haar. Ihr Gesicht ist bleich unter der Sonnenbräune, sie hält die Augen gesenkt. Blickte sie auf, müsste sie in das Gesicht ihres Schwiegersohns sehen, sie, die Mutter der Toten. Doch der Angeklagte sieht nicht auf, sondern starrt schmallippig und verschlossen auf einen imaginären Punkt, irgendwo ganz tief unten, in einen Abgrund, den nur er kennt. Die Hände liegen vor ihm auf dem Tisch, in stundenlanger Starre, als hätten sie sich schon lange von ihm getrennt.

Es gab glückliche Zeiten in der fünf Jahre dauernden Ehe von Sandra und Jens. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Er reparierte im Auftrag von Siemens die Computer im Arbeitsamt und verliebte sich in die Tatkraft und das Selbstbewusstsein der sechs Jahre älteren Frau, sie sich in seinen jungenhaften Charme. Die beiden heirateten schnell, und schnell sollte auch ein Traum in Erfüllung gehen: Kinder. Bald stellte sich heraus, dass er unfruchtbar war; er nahm Hormone ein, sie erlitt einen lebensgefährlichen Zwischenfall bei der künstlichen Befruchtung. Seine Arbeit hatte er mit einem »goldenen Handschlag« gegen eine Abfindung eingetauscht, er blieb fortan arbeitslos, die Bewerbungen, die seine Frau für ihn schrieb, schickte er nicht ab, es mangelte ihm entschieden an Tatkraft und Selbstbewusstsein. Die Ehe erschöpfte sich in gegenseitiger Enttäuschung, die Leidenschaft füreinander löste sich auf in obsessiver Hinwendung zum Internet. So wurden sie Gamina und Pug vom Sternensee.

Bis zu neun Stunden am Tag verließen sie die Gegenwart. Tauchten ab in ein virtuelles Mittelalter, wo sie zwischen Rittern, Hexen und Barden, zwischen Scheiterhaufen und Gelagen ihre Rolle spielten. In der Stellvertreterwelt des Internets konnte der Mann ohne Tatkraft ein Held sein, und sie fand endlich Gesprächspartner, denen sie sagen konnte, was sie bedrückte. Nebeneinander saßen sie und doch weit voneinander entfernt, jeder an seinem Rechner. Sie richteten ihren Alltag nach den Telefongebühren, schliefen am frühen Abend, standen auf, wenn die Tarife niedriger wurden. Während Sandra ein oder zwei Stunden nach Mitternacht aufhörte, weil sie irgendwann zur Arbeit musste, surfte er die ganze Nacht, der Realitätsverlust muss erheblich gewesen sein.

Im Spiel kann man das wirkliche Leben hinter sich lassen, sagt ein Zeuge vor Gericht aus, dort muss man sich nicht verstellen oder gibt sich so, wie man sich gern hätte. Der Freund des Ehepaars wohnte im selben Haus, gleich nebenan, doch Kontakt hatte man nur über das Internet.

Mit anonymen Partnern redeten Jens und Sandra über das, was sie einander nicht zu sagen wagten – die Probleme ihrer Ehe. In der Maske des Mittelalters berichteten sie fremden Freunden von den Qualen des Zusammenlebens einer Frau und eines Mannes am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Cyberspace fand die Frau den Nebenbuhler – Dirk. Während ihr Mann neben ihr saß, öffnete sie lautlos ihr Herz dem anderen. Das Virtuelle wurde wirklich, sie trafen sich in Lanzarote, wo ihre Eltern lebten. Sandra verließ Jens, der durchstach ihr das Herz. Es sei das erste Mal, dass am Berliner Landgericht ein Kapitalverbrechen des Internetzeitalters verhandelt werde, heißt es.

Ich bin die Mutter des Opfers, sagt Frau M. in der Verhandlungspause. Als könne sie mit der sachlichen Einordnung den Schmerz betäuben. Die Familie steht rauchend auf dem langen Flur. Sandras Bruder hält schützend den Arm um seine zierliche Mutter. Meine Tochter war so tüchtig, sagt Frau M. in traurigem Stolz, sie hatte Abitur, ein gutes Gehalt, wollte Karriere machen; er ist ein Egoist, der Angst hatte, dass ihm seine Versorgerin wegfällt, dass er seinen Hobbys nicht mehr nachgehen kann. Die Familie kommt aus Steglitz. Auf die Frage, wo denn der Angeklagte herkomme, antwortet der Bruder der Toten: Direkt aus der Hölle.

Sie haben das letzte Wort!, sagt der Richter vor der Urteilsverkündung. Die Stimme des Angeklagten steht in auffälligem Gegensatz zu seiner Erscheinung; als sei ihre Ausformung in der Pubertät abgebrochen, als habe diese Stimme der intellektuellen Entwicklung ihres Besitzers irgendwann nicht mehr folgen können. Also, ich kann nur sagen, drückt er mit mahlenden Kaumuskeln aus sich heraus, ich kann nur sagen, dass das, was ich getan habe, mir leidtut. Ich kann mir keine Antwort geben, warum ich es getan habe. Es klingt gleichgültig, allein die schwache Röte, die sein Gesicht überzieht, gibt der in sich eingemauerten Gestalt einen Hauch von Bewegung.

Sieben Jahre und sechs Monate wegen Totschlags lautet das Urteil. Strafmildernd sei das Geständnis, die Spontaneität der Tat, und dass der Täter im normalen Leben »absolut nicht aggressiv« gewesen sei. Dass er in einer psychischen Ausnahmesituation gehandelt habe, in einer tief greifenden Bewusstseinsstörung, zu der »eine gewisse Gestimmtheit durch das Internet« beigetragen habe. »Die Welt der Spiele hat eben doch mehr Einfluss auf unser reales Leben, als wir uns eingestehen wollen«, schrieb ein Mitspieler von Meridian bei der Internet-Trauerfeier für Sandra. Der Mimosenbaum, unter dem Sandras Trauerfeier stattfand, war virtuell, ihr Tod wirklich.

Sperlings Frauen

Rechtsanwalt Sperling hat eine Schwäche für leidenschaftliche Frauen, das kann jeder wissen. Das soll sogar jeder wissen, denn dieser Mann der Jurisprudenz scheut die Öffentlichkeit nicht, im Gegenteil, er öffnet ihr Herz und Schlafzimmer, die anwesende Schulklasse weiß es zu schätzen. Rechtsanwalt Sperling hat sein Privatleben vor Gericht gebracht, in einen jener Säle, wo er des Öfteren als Anwalt beschäftigt ist. Er hat die Seite gewechselt und sitzt nun als sein eigener Mandant im Zeugenstand. Warum soll ein Bäcker nicht Brot essen, warum soll ein Jurist nicht seine Freundin verklagen? Sperling hat seine ehemalige Lebensgefährtin angezeigt. Wegen Hausfriedensbruch, Diebstahl und Beleidigung. Das charmante Dauergrinsen des seltsamen Klägers steht in operettenhaftem Einklang mit seiner stark pomadisierten Haartracht, frisiert im Stil der Vierziger des vergangenen Jahrhunderts; das Grinsen verliert sich auch nicht, als er schildert, was seine Exfreundin ihm angetan hat.

Ich musste meine Wut rauslassen, erklärt die Angeklagte, eine blonde Bürofrau in braver Bluse, mit energischem Kinn und auftrumpfenden Lächeln. Die beiden Rosenkrieger haben eine gemeinsame Tochter, die zehn Jahre lang beim Vater gewohnt hatte. Man lebte nicht mehr zusammen, stand aber ständig in Kontakt. Die tüchtige Anja half ihrem weltfremden Freund bei der Einrichtung seiner Wohnung und lud ihn gelegentlich zum Essen ein. Man fuhr sogar gemeinsam in Urlaub, obwohl Anja zwischenzeitlich einen Afrikaner geehelicht hatte. Alles ganz nett, alles ganz locker. Bis Antje kam.

Ich habe endlich meine Traumfrau gefunden, informierte der Anwalt seine eifersüchtige Freundin. Weil ich den Sex nicht auf die Art wollte, wie er ihn wollte, vertraut die Bürofrau dem Gericht an – die Schulklasse staunt. Und dann heiratete er diese Antje, erzählt sie, unsere fünfzehnjährige Tochter litt unter der neuen Ehe, da schob ihr Vater sie ab, sie zog zu mir. Ich habe ihre Sachen aus seiner Wohnung geholt, das ist der so genannte Diebstahl, der so genannte Hausfriedensbruch.