Der deutsche Philosoph und Psychologe Theodor Lipps (1851 – 1914) ist einer der führenden Philosophen seiner Zeit. Lipps ging prinzipiell vom Erleben bzw. der unmittelbaren Erfahrung aus und baute seine Darstellungen darauf auf. 1913 gründete er das Psychologische Institut an der Universität München.
Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, studierte in Stuttgart neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufspraxis in der eigenen Firma widmet er sich nun seinen privaten Forschungsvorhaben und veröffentlicht die Ergebnisse in allgemein verständlicher Form. Darüber hinaus ist er der Herausgeber mehrerer Buchreihen unter anderem der Reihen „Wissenschaftliche Bibliothek“ und „Wissenschaft gemeinverständlich“.
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Was meine ich, wenn ich sage „Ich“? Auf diese Frage lässt sich zunächst eine Antwort mit voller Bestimmtheit geben: Ich meine mit dem fraglichen Wort nicht immer dasselbe. Der Begriff des ich ist mehrdeutig.
„Ich bin staubig“, so sage ich, auch wenn nichts staubig ist als meine Kleider und Schuhe. Hier ist also das „Ich“ das Kleider-Ich.
Ein andermal sage ich: Ich fühle mich gekränkt, heiter gestimmt, einer Sache sicher oder gewiss. Mit diesem gekränkten, heiteren Ich ist zweifellos nicht das Kleider-Ich gemeint. Das Kleider-Ich nehme ich sinnlich wahr. Nicht so das gekränkte oder heitere Ich. Dies fühle ich, ich habe es im Gefühl: Indem ich die Gekränktheit oder Heiterkeit fühle, fühle ich mich, nämlich eben gekränkt oder heiter.
Wiederum ein andermal sage ich: Ich bin hungrig, warm, frisch gewaschen oder schmutzig, müde. Auch hier ist das Ich nicht das Kleider-Ich. Ich will mit solchen Worten sagen: Mein Körper ist frisch gewaschen, müde u. s. w. Dies Ich ist also das Körper-Ich. Dasselbe steht dem Kleider-Ich nahe; oder richtiger: Das Kleider-Ich steht ihm nahe. Es steht ihm so nahe, wie die Kleidung dem Körper steht. Dennoch ist zwischen beiden ein Unterschied.
Noch weniger ist das Körper-Ich jenes in der Heiterkeit, Gekränktheit, Gewissheit gefühlte Ich, oder jenes Gefiihls-Ich. Gewiss kann ich mich auch „müde“ fühlen und dabei dasselbe Ich im Auge haben, das ich meine, wenn ich sage, dass ich mich heiter fühle. Aber dann ist mit der Müdigkeit etwas Anderes gemeint. Ich fühle mich einer Sache „müde“, d. h., ich fühle mich derselben überdrüssig. Die Müdigkeit im ersten Sinn des Wortes ist, wie gesagt, körperliche Müdigkeit. Ich finde sie in den Muskeln, sie wird in den Muskeln, also im Körper, von mir sinnlich wahrgenommen. So ist überhaupt das Körper-Ich, ebenso wie das Kleider-Ich, Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung. Dagegen finde ich die Müdigkeit im zweiten Sinne des Wortes nicht in den Muskeln. Sie wird weder hier noch anderswo von mir sinnlich wahrgenommen. Sie wird nur „gefühlt“. Es leuchtet jedermann ein, die Müdigkeit, d. h. den Überdruss, irgendwo im Körper zu suchen, also dem Körper-Ich als Merkmal zuzuschreiben, das hat ebenso wenig Sinn, als es umgekehrt Sinn hat. Die Muskelmüdigkeit in demjenigen Ich zu suchen, oder als Merkmal desjenigen Ich zu bezeichnen, das ich meine, wenn ich sage, dass ich mich heiter oder gekränkt oder einer Sache gewiss fühle.
Ein anderes Beispiel dieses Gegensatzes: Neben der Wärme des Körpers steht die innerliche Wärme. Ich fühle mich innerlich erwärmt durch eine edle Handlung, eine sympathische Persönlichkeit oder durch den Anblick einer Farbe. Die Farbe bezeichne ich dann auch wohl selbst als warm. Niemand verwechselt hier diese innerliche Wärme, d. h. die Wärme des Gefühls oder der gefühlsmäßigen Anteilnahme mit der Körperwärme. Dann kann auch niemand das Körper-Ich, dem die körperliche Wärme zukommt, verwechseln mit dem Ich, das ich erwärmt, d. h. Anteil nehmend oder sympathisch angemutet fühle. Wieder müssen wir sagen: Es hat ebenso wenig Sinn, die Wärme der Anteilnahme im Körper zu suchen, als es Sinn hat, die Wärme im Sinne eines Temperaturgrades neben die Heiterkeit, die Gekränktheit, die Gewissheit zu stellen, und diese Wärme eben dem Ich als Bestimmung zuzuweisen, das ich als heiter oder gekränkt oder einer Sache gewiss fühle.
Endlich sage ich auch: Ich bin sterblich oder unsterblich; oder: Ich bin musikalisch begabt, dumm, vergesslich etc. Die Heiterkeit fühle ich, die Bestaubtheit sehe ich, die körperliche Ermüdung empfinde ich in den Muskeln unmittelbar. Die Dummheit aber oder die musikalische Begabung fühle ich weder, noch sehe, noch empfinde ich sie. Und so fühle ich weder, noch sehe, noch empfinde ich das Ich, dem diese Eigenschaften zukommen. Die Begabung oder Dummheit, und demnach das begabte oder dumme Ich, ist nicht etwas unmittelbar Erlebtes oder Erlebbares, sondern etwas Erschlossenes, zum unmittelbar Erlebten Hinzugedachtes. Ich kann sehr dumm sein, ohne davon ein Bewusstsein zu haben: Es wäre sogar ein Zeichen von Klugheit, wenn ich dies Bewusstsein hätte. Und musikalische Begabung ist dem Kinde angeboren. Sie ist also da, ehe sie zum Bewusstsein kommt. Freilich weiß ich von der Dummheit oder Begabung nur aufgrund von Bewusstseinserscheinungen: Der musikalisch Begabte verhält sich anders zu Klängen, operiert anders mit ihnen, fühlt sich ihnen gegenüber anders, als der musikalisch Unbegabte. Aber die Begabung besteht darum doch nicht in solchen, bei Gelegenheit auftretenden Bewusstseinserlebnissen, sondern sie ist das immer Vorhandene, das diese Bewusstseinserlebnisse möglich macht oder begründet. Sie ist, an sich betrachtet, die „psychische“ Konstitution, Struktur, Organisiertheit, worauf jene Bewusstseinserlebnisse beruhen.
Damit ist zugleich gesagt, worin das Ich, von dem hier die Rede ist, besteht. Es ist die Psyche, wobei vollständig dahingestellt bleibt, ob die Psyche etwas vom Gehirn Verschiedenes oder damit eine und dieselbe Sache ist. Im letzteren Fall ist das fragliche Ich eben das Gehirn. Ich bin mit diesen oder jenen natürlichen Fähigkeiten ausgerüstet, dies heißt dann: Das Gehirn ist damit ausgerüstet. Unterlassen wir schließlich nicht nur jede nähere Bestimmung, sondern auch jede be- sondere Benennung dieses Ich, so bleibt übrig, dass es das den Bewusstseinserlebnissen zugrunde gelegte, und zwar unmittelbar zugrunde gelegte Reale ist. Dies erkennen wir ausdrücklich an, indem wir es als das reale Ich bezeichnen. Sein Gegensatz zum Gefühls-Ich wird am deutlichsten, wo beide einander sprachlich unmittelbar gegenüberstehen, wie in dem Satz: Ich fühle mich heiter. Hier ist das Ich, das fühlt, d. h. das in dem Gefühl sich betätigt oder sein Dasein kundgibt, das reale, das gefühlte das Gefühls-Ich.
So gewiss nun die bezeichneten „Iche“ voneinander verschieden sind, so gewiss muss dasjenige, was sie zum „Ich“ macht oder ihren Anspruch auf diesen Namen begründet, bei allen dasselbe sein. Ich meine eben doch, wenn ich von „mir“ spreche, nicht Vielerlei, sondern ich meine Eines, und ich meine im letzten Grund immer dasselbe. Es muss also ein einziges primäres oder ursprüngliches Ich geben, ein solches, das zunächst den Sinn des Wortes „Ich“ ausmacht. Und dies muss in allen anderen „Ichen“ irgendwie stecken oder bei ihnen mit hinzugedacht sein, der Art, dass sie um deswillen gleichfalls Ich heißen können.
Damit nun haben wir einen Plan unserer Untersuchung gewonnen. Wir stellen nicht mehr die mehrdeutige Frage: Was ist das „Ich“?, sondern wir fragen: Was ist das ursprüngliche Ich oder der ursprüngliche Inhalt des lchbewusstseins? Daran knüpft sich dann die weitere Frage: Welcher Anteil an diesem ursprünglichen Ich oder welche Beziehung auf dasselbe gibt den übrigen „Ichen“ das Recht auf den gleichen Namen oder gibt uns den Anlass, ihnen den gleichen Namen zuzuerkennen?
Jene erste Frage lässt sich sogleich näher bestimmen. Der Sinn aller unserer Begriffe muss letzten Endes bestehen in einem unmittelbar Erlebten. Was wir auch denken mögen, immer muss das Gedachte irgendwie aus einem unmittelbar Erlebten seinen Inhalt hernehmen. Wo nicht, so hat es keinen Inhalt, ist also kein Gedachtes. Dies gilt auch vom Ichbegriff. Sein ursprünglicher Sinn muss in etwas unmittelbar Erlebtem gegeben sein. Das ursprüngliche Ich muss ein unmittelbar erlebtes Ich sein.
Und noch eine Bemerkung dürfen wir gleich hinzufügen. Das Ichbewusstsein fehlt uns in keinem Moment unseres bewussten Lebens. Was ich auch wahrnehme, vorstelle, denke, immer weiß ich mich als den Wahrnehmenden, Vorstellenden, Denkenden. Alles, wovon ich ein Bewusstsein habe, finde ich irgendwie auf mich bezogen. Nur etwas, das mir immer gegenwärtig ist, kann danach das ursprüngliche Ich und damit den letzten Sinn des lchbegriffes überhaupt ausmachen.
Wir begegnen nun mehreren Antworten auf die Frage nach dem „Ich“, die die Feststellung des ursprünglichen Sinnes des „Ich“ zu beabsichtigen scheinen. Jedenfalls nehmen wir hier an, dass sie so gemeint sind. Eine derselben lautet, das Ich sei nichts Anderes als die Summe oder der Inbegriff oder der Zusammenhang der psychischen Erscheinungen. An die Stelle der „psychischen Erscheinungen“ treten auch wohl die „Bewusstseinserscheinungen“, oder es werden dafür eingesetzt die Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken etc. Bewusstseinserscheinungen, Empfindungen etc. gibt es zweifellos während unseres bewussten Lehens immer. Und sie sind nicht etwas bloß Gedachtes oder Erschlossenes, sondern etwas unmittelbar Erlebtes. Soweit also scheint alles in Ordnung.
Eines nur fehlt, und dies ist das in erster Linie Wichtige: Jene Erklärungen sind bedeutungslos, solange wir nicht wissen, was mit den Worten „psychische Erscheinung“, „Bewusstseinserscheinung“, „Empfindung“ etc. gemeint ist. Vielleicht sind diese Worte mehrdeutig, oder sie haben bei genauerem Zusehen nicht den Sinn, den sie zu haben scheinen. Vor allem könnte in ihnen bereits das, was durch sie definiert werden soll, d. h. das unmittelbare erlebte Ich, mitgedacht sein. Dann gehörte die Definition der Klasse von Definitionen an, die den Psychologen häufiger begegnen, obgleich sie gerade ihnen niemals begegnen dürften, ich meine zu der Klasse von Definitionen, die sich im Kreise drehen.
Beachten wir zuerst die Wendungen, das Ich sei der Zusammenhang der „psychischen Erscheinungen“, oder es sei der Zusammenhang der Bewusstseinserscheinungen. Diese beiden Wendungen müssen hier das Gleiche meinen: Auch unter psychischen Erscheinungen müssen die Bewusstseinserscheinungen verstanden sein, wenn der Zusammenhang der psychischen Erscheinungen das unmittelbar erlebte Ich ausmachen soll. Und statt „Bewusstseinserscheinungen“ darf ich auch „Bewusstseinsinhalte“ sagen. Gemeint ist damit, ohne irgendwelchen Nebengedanken, alles irgendwie im Bewusstsein Gegebene, alles ideell Existierende, alles von mir Vorgefundene.