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Originalausgabe
Juni 2015
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2015 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Fotografie
von Klaus Fischhold, München
Druck und Bindung: printingsolutions.pl
Printed in Europe · ISBN 978-3-86906-746-9
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN EPUB 978-3-86906-771-1
ISBN PDF 978-3-86906-772-8
Franz Josef Strauß was a good friend of Israel.
He helped when we needed help.
Shimon Peres
Für Frieden in Freiheit
in Israel und im Nahen Osten
Äußerer Anlass dieses Buchs ist der 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß am 6. September 2015. Innerer Anlass ist: Ich hatte Zeit und Muße, über meine zehn Jahre mit Franz Josef Strauß – 1978 bis 1988 – nachzudenken, vieles mir selbst wieder in Erinnerung zu bringen, aufzuarbeiten, neu zu verstehen und zu deuten. Deshalb ist auch der Titel dieses Buches »Franz Josef Strauß und sein Jude« bewusst provozierend so gewählt. Vielleicht wird er die gewachsene deutsch-jüdische Nachkriegsruhe stören. Und wenn, dann ist es so gewollt, denn nur Unruhe fördert Entwicklungen. Auch Franz Josef Strauß stand für Unruhe und gab damit Anstöße für zahlreiche Neuerungen.
Diese Zeilen sind sicher kein Nockherberg in Buchform und die eingefleischten »Spiegel«-Leser werden den erhobenen, vorwurfsvollen Zeigefinger vermissen. Ich schreibe über meine zehn Jahre mit Franz Josef Strauß, 25 Jahre nach seinem Tod, als Bayer, Deutscher, Europäer und inzwischen als assimilierter Israeli. Ich bin als Jude in München aufgewachsen und war zehn Jahre Pressesprecher der Christlich-Sozialen Union in Bayern. Im Nachkriegsdeutschland alles nicht gerade eine Normalität. Heute weiß ich, dass es ein Glücksfall war – vielleicht für beide Seiten. Ich war voll integriert, bin in das Wurzelgeflecht der CSU hineingewachsen. Ich kenne einen Franz Josef Strauß, der in den Medien in dieser Form unbekannt, so auch nicht gewollt ist. Strauß war sicher ehrgeizig, zielstrebig, durchsetzungskräftig, aber er war auch bescheiden, gottesfürchtig, zaudernd. Er konnte seine Analysen brillant vor Tausenden von Zuhörern vortragen, die notwendigen Konsequenzen einem Betroffenen aber nicht ins Gesicht sagen. Diese Schwäche ist eine menschliche Stärke. Er wurde verehrt, weil er stark war, aber auch wegen seiner Schwächen. Er war eben ein »Mensch« im bayerischen wie im jüdischen Sinn. Er wusste, dass seine schwierigen Entscheidungen hart treffen konnten und er litt manchmal wie ein Hund darunter. Er wollte die Welt besser machen, wurde aber auch oft ausgenutzt. Das traf wiederum ihn selbst.
Er war jedenfalls ein Gestalter Bayerns, Deutschlands und Europas und ein wichtiger Lehrer in meinem Leben. Die Schilderung meiner Erfahrungen erfolgt in Episoden, Geschichten, die schlaglichtartig die vielen bunten Facetten des Menschen Franz Josef Strauß ans Tageslicht bringen. Ich habe ihn schlicht und ergreifend so erlebt und in Erinnerung behalten.
Godel Rosenberg,
Tel Aviv / München im Mai 2015
Ich schreibe diese Erinnerungen nicht aufgrund stenografischer Aufzeichnungen, wie sie Bundesminister Fritz Zimmermann oder mein Tennispartner in der CSU-Landtagsfraktion, Staatssekretär a. D. Paul Wilhelm – einer der schnellsten Stenografen seiner Zeit in Bayern –, über Jahrzehnte pflegten. Ich bringe die erlebten Dinge zu Papier wie Amos Oz »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis« oder Wolfgang Johannes Bekh »Gustav Mahler oder Die letzten Dinge« geschrieben haben. Ich will mich mit diesen außergewöhnlichen Literaten nicht vergleichen. Aber ich habe besonders von ihnen gelernt, wie man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Bei der wiederholten Lektüre dieser Bücher spürte ich immer wieder das emotionale Gedächtnis, die Liebe zum Sujet, das Gefühl in Worte gekleidet. Amos Oz, für mich der größte lebende Autor Israels, schreibt mit den Augen eines Kindes, der Reife eines Erwachsenen, dem großen Talent der Erzählkunst und der Gabe, Geschichten und Geschichte in Einklang zu bringen. Die Geschichte der Familie Klausner, Amos’ europäischer Familienname, den er später hebräisierte, mit der Geschichte Israels und des Nahen Ostens zu vernetzen. Seine Mutter beging Selbstmord, weil sie die Erde Osteuropas mit dem Sand Israels vor und nach 1948 nicht vermengen konnte. Amos Oz war acht Jahre, als er seinen Vater mit einer fremden Frau in einem Café in Jerusalem sah. Dieses Bild hat sich in seinem emotionalen Gedächtnis eingegraben und ist immer neu gedeutet worden.
Wolfgang Johannes Bekh beschreibt, wie sehr Alma ihren 20 Jahre älteren Mann Gustav Mahler, den musikalischen Brückenbauer zwischen der alten und der neuen Zeit – wie der Dirigent und Harvard-Professor Leonhard Bernstein es formulierte –, liebte. Sie kann ihn nicht verlassen, obwohl sie ihre Erfüllung als Frau bei anderen Männern sucht und findet. Die Innigkeit zu ihrem Mann ist eine andere, spielt auf einer anderen Ebene. Sie weiß genau, welche Musik Gustav, bereits im Todeskampf befindlich, mit den Fingern auf die Bettumrandung taktet. Dafür gibt es keinen Beweis, bedarf es auch nicht, denn es sind pure Emotionen Almas, der Untreuen. Sie hat ein Recht auf ihre Emotionen. Emotionen können einem nicht genommen werden.
Manchmal stellen Tatsachen auch eine Bedrohung für die Wahrheit dar, schreibt Amos Oz und erzählt die Geschichte seiner Großmutter, die an einem heißen Sommertag 1933 von Wilna nach Jerusalem gekommen ist. Sie besuchte den Markt, »sah das Blut, das aus den Hälsen geschächteter Hühner tropfte, sah die Schultern und Arme orientalischer Männer […] und verkündete sogleich ihr endgültiges Urteil: die Levante ist voller Mikroben «. 25 Jahre später starb sie an einem Herzinfarkt. Aber das ist nicht wahr, widerspricht Amos Oz. Sie starb an ihrem Sauberkeitswahn, der sie 25 Jahre lang täglich dreimal zum Zwecke der Reinigung von all den Mikroben der Levante in eine heiße Badewanne steigen ließ. Ihr Arzt warnte sie schon Jahre vor ihrem Tod, mit diesem Unsinn aufzuhören. Es nützte nichts. Sie starb in der Badewanne, weil ihr Herz die heißen Bäder nicht mehr verkraften konnte.
Ich könnte dieses Buch auch auf Jiddisch erzählen, schrieb ich zu Beginn, aber ich schreibe es auf Deutsch, weil es meine Muttersprache ist. Ich muss ergänzen: Jiddisch ist meine eigentliche Muttersprache, weil es die Muttersprache meiner Eltern war. Aber eben nur meiner Eltern. Um uns herum in München verstand niemand Jiddisch. Weder die Nachbarin noch der Hausmeister, noch der nette Mann im Milchladen, noch meine Spielkameraden. Meine ersten Erdbeeren hießen »Trussgavkes«, ein aus dem Polnischen ins Jiddische übernommener Begriff. Wenn ich schlechte Noten von der Schule nach Hause brachte, hieß es: »Er hot no de Piulke in Kopp.« Meine Mutter versuchte, mit dieser Bemerkung meine Leidenschaft für Fußball zu torpedieren. »Piulke« ist ebenfalls ein aus dem polnischen adaptiertes Wort und heißt »Ball«. Je älter wir Kinder wurden, desto gespaltener waren wir. Mein Vater konnte stundenlang sehr farbenreich über das Leben in Warschau erzählen. Von den Büchern Schalom Asch, Leib Perez und den Singer-Brüdern Itzchak und Israel Joschua, den wohlschmeckenden »Bajaderkes«, Käsekuchen, die auf der Zunge zergingen, in den Cafés rund um Saskis-Garten. Sein Gesangstalent für jiddische Lieder wie »Roshinkes mit Mandeln«, »Es wet kummen a Zeit vun eiserne Bahnen«, »Ich här ihre drobne Fiesalech« hat sich tief bei mir eingeprägt. Manchmal sang er urplötzlich los, holte die untergegangene, verbrannte Welt seiner Jugend hervor. Diese Lieder, diese Geschichten gab es aber nur in der Dreieinhalbzimmer-Wohnung in der Münchner Isarvorstadt. Ich konnte diese Welt nicht im Radio hören und später auch nicht im Fernsehen sehen. Es gab sie nur durch die Erinnerung meines Vaters und ich konnte diese Erinnerungen außerhalb unserer Wohnung nicht weitererzählen oder sonst anwenden. In den 50er- und 60er-Jahren gab es noch kein »outen« in München oder Deutschland. Was nicht der Norm entsprach, wurde zu Hause versteckt. Dafür war das Zuhause gewissermaßen da.
Es dauerte über 40 Jahre, bis nach den Tod meines Vaters und den Tod des Nachbarn im gleichen Stockwerk, bis meine Mutter ihre Nachbarin zu uns nach Hause einlud und ihrerseits wieder eingeladen wurde. Worüber hätten die »Nachbarn« auch reden sollen 1950 oder 1955? »Hallo, wie geht's denn so, waren Sie schon mal in Warschau? Da ist meine gesamte Familie kürzlich von Deutschen ermordet worden.« Mit was hätten sie anstoßen sollen? Der Nachbar trank gerne Bier, was wir vom Einkaufen und der Begegnung mit unseren Einkaufsnetzen im Treppenhaus wussten. Mein Vater trank bevorzugt Tee, ein Glas Tee niemals aus der Tasse. Gemeinsam Kochen? Etwa »Lokschen mit Jooch« (Hühnerbrühe mit Nudeln) oder »Varnekes« (Teigware) auf unserer Seite und »Eisbein mit Kraut« oder »Leberkäs« auf der anderen Seite der Zwischenwand auf unserem Stockwerk. Es war nur eine x-cm-Mauer, aber es waren Welten, bis vor Kurzem feindliche Welten, die uns trennten. Bis vor Kurzem? Wer weiß? 40 Jahre lebten wir vor unseren eigenen sichtbaren und unsichtbaren selbstgebastelten und von außen hereingeschobenen Kulissen Tür an Tür. Dort die Ostern-Kulisse, bei der an die Kreuzigung und Auferstehung Christi erinnert wird, hier die Pessach-Kulisse, das Gedenken an den Auszug der Juden aus Ägypten. Dort Ostern-Braten, hier Matzen. Konnte das gutgehen? Wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken. Es gab auch noch nicht die Soziologie, die 1955 oder auch 1960 diese Fragen thematisierte.
Es ist gutgegangen, weil es wirtschaftlich aufwärts ging. Aus den Briketts wurde eine Öl-, später eine Elektroheizung. Neue Tapeten, Teppiche und 1966 zur Fußball-WM in England ein Fernsehgerät. Ein paar Jahre später ein eigenes Auto, ein Opel Rekord. Man nahm Teil am deutschen Wirtschaftswunder. Es ist nicht gut gegangen, weil wir auf unseren 98 Quadratmetern in der Münchner Isarvorstadt, aufgeteilt auf dreieinhalb Zimmer, Küche und Bad wie im jüdischen »Shtetl«, irgendwo in Polen, lebten.
Das Jahr begann in unseren vier Wänden mit Rosh Hashanah, dem jüdischen Neujahrsfest im September, zehn Tage danach Yom Kippur, dem Versöhnungstag der Juden. Im Dezember zündeten wir acht Tage die Chanukka-Kerzen, die daran erinnern, dass wir die Griechen überlebt haben. Draußen vor der Tür weihnachtete es. Alle Kinder redeten davon und zeigten nach dem Fest ihre Geschenke in der Schule oder unten im Hof, nur ich nicht. Warum die schon, aber ich nicht? Die Frage habe ich nie gestellt, weil Mama und Papa Überlebende, Flüchtlinge in einer fremden Welt mit einer fremden Sprache waren.
Mein Deutsch war gut, mein Bairisch unterschied sich nicht vom Bairisch meiner Kameraden und meine Schulhefte wurde wegen meiner schönen Handschrift im Glaskasten der Schule ausgestellt. Ich war klein und lieb, in der Volksschule gut und beim Fußball einer der flinkesten. Der Herr Lehrer Walk und Frau Lehrerin Bergmann mochten mich, aber beim katholischen Religionsunterricht verließ ich das Klassenzimmer, weil ich anders war, einer anderen Religion angehörte, eben jüdisch war. Alles, was ich draußen auf Deutsch und Bairisch erlebt habe, wurde in meinem Kopf automatisch ins Jiddische übertragen, sobald unsere Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel. Ich habe das Übertragen ins Jiddische nie gelernt, das war einfach so. Dafür gab es keinen Lehrer oder gar ein Lehrbuch. Es wurde unbewusst zu meiner zweiten Identität.
Die Oberschule, die Oberrealschule am Kaiser-Ludwig-Platz, war nicht mehr mein Ding. Die Lehrer hießen »Herr Professor«, selbst wurde man mit dem Familiennamen angesprochen, die Schule war außerhalb meines Vorstellungssprengels gelegen, das Gebäude war furchterregend. Es begann ein Leben, das nicht das meine war. Die Leistungen wurden schlecht, meine Eltern verstanden die Welt nicht mehr. Die Kinder der anderen schafften es, nur ich war unfähig. Und irgendwann fiel der Satz meiner Mutter vorwurfsvoll an mich gerichtet: »Dafür habe ich das alles überlebt?« Ich begann zu rebellieren. Es meldete sich auch die Pubertät.
Es muss in der zweiten Klasse Oberrealschule gewesen sein, ich hatte einen Platz am Fenster, es war Sommer. Professor Zach, unser Zeichenlehrer betrat das Klasszimmer, wir sprangen zur Begrüßung wie immer alle aus den Bänken. Professor Zach sagte »setzen« und machte dazu die entsprechende Handbewegung mit ausgestrecktem Arm. Vielleicht hatte das, was jetzt geschah in meinem Unterbewusstsein, mit dem ausgestreckten Arm des Zeichenlehrers zu tun. Er sagte: »Rosenberg, mach’s Fenster zu!« Rosenberg antwortete: »Mach’s selber zu!« Im gleichen Moment sah ich den kleinen Professor Zach auf mich zufliegen und schon hatte ich eine Watschn im Gesicht. Es war meine erste Ohrfeige von einem Erwachsenen außerhalb unserer 98-Quadratmeter-Wohnung.
Ungefähr 25 Jahre später besuchte ich mit Abgeordneten des Bayerischen Landtags die Kunstakademie in München und wer stand urplötzlich mit ausgestreckter Hand vor mir? Professor Zach: »Sind Sie mir noch böse, Herr Rosenberg?« Ich war es natürlich nicht. Ich genoss als CSU-Pressesprecher die Situation, weil ich einen Hauch von Reue und Unterwürfigkeit spürte, er hatte vielleicht auch ein schlechtes Gewissen. Zachs Watschn-Strafe blieb nicht ohne Auswirkung. Ich wurde rebellischer, widersprach immer mehr und gefiel mir in dieser Rolle immer besser. Der Preis war hoch. Ich flog ein ums andere Mal von der Schule, meine Leistungen wurden immer schlechter. Ich lernte am eigenen Leib: Die Mitschüler bewunderten mich, aber die Ordnungsmacht Lehrer, Schuldirektor saß immer am längeren Hebel. Mein Vater wurde jedes Mal in die Schule zitiert, er redete und verteidigte mich und vergaß nicht zu erwähnen, woher die Familie kam, was sie doch alles durchgemacht habe mit den Deutschen. Jetzt sei Godel Ben Yehuda an einer deutschen Schule, im bayerischen Schulsystem und man müsse doch verstehen, dass man ihm entgegenkommen müsse. Mein Vater fand immer ein Schlupfloch im geordneten Aufbau bayerischer Gymnasien, es gab immer wieder eine neue Schule, die mich aufnahm.
Ich rebellierte weiter, gegen die Professoren, gegen die Kälte der Anonymität, gegen den gnadenlosen Leistungsdruck, niemand verstand mich. Ohnehin spielte ich viel lieber Fußball. Warum bestanden alle auf Pünktlichkeit? Acht Uhr ist nun mal acht Uhr, hörte ich immer wieder, aber ich wollte zehn nach acht Uhr oder noch viel lieber neun Uhr als Unterrichtsbeginn. Ich schaffte es einfach nicht früher. Meine Mutter fuhr mich oft im Nachthemd bei Überschreitung aller Geschwindigkeitsregelungen im Münchner Straßenverkehr in die Schule, aber es nützte auf Dauer nichts. Ich protestierte gegen die da oben und ich da unten, ich hatte Reformvorschläge ohne Ende, aber niemand nahm mich ernst. Wie konnten sie auch: Der Schüler Rosenberg war in fast allen Fächern mangelhaft bis ungenügend. Alle Lehrer, Professoren, Schuldirektoren bestätigten meinem Vater, der Schüler Rosenberg sei nicht dumm, aber irgendwie entziehe er sich jeder Beurteilung und das bedeutete im bayerischen Schulsystem: weg mit ihm, er könne ja eine Lehre machen, Abitur sei nur etwas für die Elite der Zukunft. Ich schaffte es trotzdem.
15 Jahre später war ich Pressesprecher der CSU in Bayern, enger Mitarbeiter des CSU-Vorsitzenden und Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und die Elite-Prediger von damals verstanden die Welt nicht mehr. Ein Lehrer schrieb an Strauß einen Brief voller Vorwürfe, wie er, Strauß, nur so einen »Linken« in seiner unmittelbaren Nähe beschäftigen könne und belegte dies mit Zitaten von mir aus meiner Schulzeit, die ich längst vergessen hatte. Strauß las den Brief und fragte mich: »Was haben Sie denn dem angetan?« Ich hatte fast keine Erinnerung an diesen Lehrer, zuckte mit den Schultern und antwortete: »Wissen Sie, da liegen so viele Lehrer links und rechts auf meinem Weg zum Abitur, dass ich mich an diese geschilderten Details nicht erinnern kann.« Strauß grinste, der Brief musste vom damaligen CSU-Landesgeschäftsführer beantwortet werden. Ich habe nie mehr etwas davon gehört.
Ich könnte dieses Buch auf »Boarisch« oder auf Jiddisch erzählen, etwas schwieriger auf Ivrit (Hebräisch), aber ich schreibe auf Deutsch, weil es meine Muttersprache ist. Eine Muttersprache, die meine Mutter mit ihrer Mutter sicher nicht gesprochen hat. Diejenigen, die ab September 1939 in Warschau deutsch gesprochen haben, ermordeten die gesamte Familie meiner Mutter – mit Ausnahme einer Schwester – und die Familie meines Vaters, ausnahmslos. Muttersprache? Deutsch ist schlicht und einfach meine Sprache. Meine Eltern haben mit der Ansiedlung 1946 / 47 in München eine weittragende Entscheidung getroffen. Obwohl Nazi-Deutschland ihre Familien ermordet hatte, haben sie auf ein demokratisches, rechtsstaatliches Deutschland gesetzt und sind nicht enttäuscht worden. Es muss damals eine Entscheidung mit einem hohen Risiko für eine junge jüdische Familie gewesen sein, vielleicht sogar irrational, aber sie sind belohnt worden. Fast 70 Jahre danach gebührt ihnen höchster Respekt und Hochachtung für ihre Entscheidung. Deutschsein ist heute ein Vorbild für Toleranz und Schutz für Minderheiten, Unabhängig von Herkunft, Religion und Hautfarbe. Deutschsein steht für Pressefreiheit und praktiziertes Verständnis für die Meinung des anderen. Der israelische Schriftsteller Amos Elon hat es viele Jahre später so zusammengefasst: »Neben dem antisemitischen Deutschland gibt es ein Deutschland des erleuchteten Liberalismus, des Humanismus, den Rechtsstaat Deutschland, eine gute Staatsführung, soziale Sicherheit und eine blühende sozial ausgerichtete Demokratie.«
Es sind nach Kriegsende nur ein paar 1000 Juden in Deutschland geblieben, verständlicherweise. Die meisten der Überlebenden sind in das damals neu gegründete Israel ausgewandert, in die USA oder sonst wohin. Diejenigen, die geblieben sind, wurden nicht alle glücklich, die wenigsten aber wurden enttäuscht. Mein Vater war ein Kenner der Thora und der jiddischen Literatur, wusste aber nichts über die deutschsprachigen Juden des 19. Jahrhunderts und ihren prägenden Einfluss auf die Entwicklung Deutschlands in allen Bereichen. Er erwähnte den Namen Heinrich Heine, der aber stets mit dem abfälligen Unterton verbunden war: »Er hot sich geschmatt«, was soviel heißt wie: »Er ist zum Christentum übergelaufen.« Damals war die innere und äußere Auseinandersetzung, Jude zu bleiben oder Protestant zu werden, die Männer wie Heinrich Heine, Ludwig Börne, Eduard Gans, Leopold Zunz, Moses Moser oder Frauen wie Rachel Levin oder Henriette Herz durchgemacht hatten, nicht geläufig. Die Juden, die Hitler überlebt hatten, waren in erster Linie Überlebende auf der Suche nach einem neuen Leben, die Erinnerung, Gegenwart und Zukunft überhaupt erst möglich machen. Hätten sie Zeit und Muße gehabt, die Probleme der Juden des 19. Jahrhunderts nach dem Niedergang Napoleons zu lernen, sie hätten viele Parallelen erkannt.
Beispiellos war die Kondition des »Alten«, seine Kraft und seine Fähigkeit, in außergewöhnlichen Situationen Außergewöhnliches zu leisten. Er ließ es sich natürlich nicht nehmen, der Fußballmannschaft des FC Bayern München nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft zu gratulieren. Da »die Bayern« in den 80er-Jahren mehrfach die DFB-Schüssel nach München holten, war der Empfang in der Staatskanzlei im Sommer schon fast Gewohnheit. Nach der Begrüßung, bei der er die Mannschaft als »Wiederholungstäter« bezeichnte, gab es natürlich einen Umtrunk.
Es war im Juni 1985 als nach dem »Bayern«-Empfang um 15 Uhr ein Termin mit dem israelischen Wissenschaftsminister Gideon Patt im Terminkalender stand. Das Gespräch sollte in der Landesleitung in der Nymphenburger Straße stattfinden. Ich fuhr voraus für den Fall, dass sich die Ankunft von Franz Josef Strauß verzögern sollte. Sie sollte sich verzögern. Gegen 14.45 Uhr erreichte mich ein Anruf aus der Staatskanzlei, dass es wohl noch etwas länger dauern würde, die Stimmung sei bestens. Franz Josef Strauß habe schon mit Udo Lattek angestoßen, aber noch nicht mit allen Spielern und deren Frauen beziehungsweise Partnerinnen. Man wisse nicht, wie viel Weinschorle Franz Josef Strauß schon konsumiert habe, aber ich sollte schon mal vorgewarnt sein. Ich bat Gideon Patt in mein Besprechungszimmer, erzählte ihm, dass Strauß noch einen wichtigen Termin habe, der sich etwas hinziehen würde. Wir begannen unser Gespräch, währenddessen ich mehrfach aufstand, um vom Fenster die Ankunft von Strauß mitzubekommen.
Endlich rollte der 7er-BMW durch die Einfahrt, ich beobachtete wie zwei Mitarbeiter bemüht waren, Strauß aus dem Fahrzeug zu helfen. Minuten später erreichte mich ein Anruf von oben – das Zimmer des Parteivorsitzenden lag über meinem Zimmer – ich möchte doch bitte mal raufkommen. Strauß hatte in seinem Ledersessel Platz genommen, nein, er flackte darin, etwas derangiert. Seine persönlichen Referenten und Sekretärinnen murmelten irgendwas von Absage des Gesprächs mit dem Gast aus Israel. Bevor ich mein »Nein, das können wir nicht machen« ausgesprochen hatte, stieß Strauß hervor: »Kaffee und zwar eine Kanne!« Mit unserer Hilfe schleppte er sich ins Badezimmer, aus einem Schrank wurden ein frisches Hemd und eine neue Krawatte herausgeholt. Strauß schloss für 15 Minuten die Augen auf seiner Lederliege, ich war zwischendurch zu unserem Gast gegangen und hatte ihn um Geduld gebeten. Mit gut einer Stunde Verspätung begann das Gespräch – Franz Josef Strauß entschuldigte sich eingangs für die Verzögerung – und es nahm einen Verlauf, als hätte der CSU-Vorsitzende noch nie in seinem Leben eine Weinschorle getrunken. Gideon Patt war von der druckreif vorgetragenen Nahost-Analyse schwer beeindruckt, wie er mir danach mit Hochachtung erzählte. Bleibt noch hinzuzufügen, dass Franz Josef Strauß den israelischen Minister anschließend zum Jahresempfang des Bayerischen Landtags ins Schloss Schleißheim einlud. Niemand, der ihm an diesem späten Nachmittag beziehungsweise Abend begegnete, ahnte, in welchem Zustand sich Strauß wenige Stunden zuvor befunden hatte.
Ich erzähle diese Geschichte nicht, um Vorurteile über den Alkoholkosum des CSU-Vorsitzenden zu bestätigen oder sie genüsslich auszumalen. Franz Josef Strauß konnte in einem Zustand, in dem andere sich drei Tage krankmelden würden, politische Gespräche in einer Präzision führen, wie sie viele hochrangige Politiker nicht nüchtern nach mehrtägiger Vorbereitung leisten konnten. Woher er diese Kraft bezog war uns, die wir uns in seinem Umfeld bewegten, immer wieder ein Rätsel.
Strauß mochte meine Art im Laufe der Zeit immer mehr. Ich lag mit meinen öffentlichen Aussagen zwar nicht immer ganz richtig, aber es stimmte die Richtung. Was niemand für möglich hielt: Ich konnte tun und lassen, kommentieren oder auch nicht, was ich wollte. Es gab keine Vorgaben oder Anweisungen für den Pressesprecher, ich hatte einen Traumjob und das zehn Jahre lang. Außerhalb des Strauß-Kreises war man sich ziemlich sicher, dass es den regelmäßigen Tagesbefehl geben würde, verbale Marschbefehle, wie mit den aktuellen Themen umgegangen werden müsse, und alle »Straußianer« würden im Gleichschritt marschieren, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nichts dergleichen entsprach der Realität. Jeder bearbeitete sein Feld ohne jegliche Vorgaben und es funktionierte, war sogar erfolgreich, wie die Wahlergebnisse der 80er-Jahre in Bund und Land beweisen.
Ich war auch kein CSU-Mitglied. Weder bei den Einstellungsgesprächen 1977 noch irgendwann danach bin ich von Gerold Tandler, Edmund Stoiber, Otto Wiesheu oder Strauß darauf angesprochen worden. Als dieses Thema in einer Runde mit dem Generalsekretär Tandler Anfang der 80er-Jahre aufkam, winkte er gelassen ab. Dies sei jedem selbst überlassen. Loyalität finde nicht ausschließlich Ausdruck in Ausweis und Mitgliedsbeitrag. Oder wie Marianne es einmal formulierte: »Ich bin kein Parteimitglied, ich bin die Frau von Franz Josef Strauß.«
Strauß wollte mich mehrfach feuern, aber immer nur in der Hitze des Gefechts. Wochenlang Gesprächsstoff lieferte ein Flug von ihm nach Bonn Anfang der 80er-Jahre. Damals war der Flughafen München-Riem noch in Betrieb, die Sicherheitsmaßnahmen eher zu vernachlässigen. München-Riem, dort waren wir zu Hause, das heißt, ich konnte im Halteverbot vor der Einfahrt der »FJS-Aviation« (interner Sprachgebrauch) parken. Alle kannten meinen blauen BMW. Wie so oft kam ich in letzter Minute, manchmal noch ein bisschen später. Der »Follow-me«-Fahrer rief mir zu: »Er rollt schon.« Gemeint war damit die Tatsache, dass die Strauß-Cessna höchstens zwei Minuten vor der Startfreigabe war. Ich sprang in den »Follow-me«-Wagen und rief »pack mas«, bevor ich die Tür des Kleinbusses zuschlug. Der Fahrer gab Gas und wir näherten uns schnell der Maschine von Strauß, die langsam zu rollen begann. Der motivierte Fahrer gab Gas, schaltete noch einen Gang schneller, bis wir auf gleicher Höhe mit der Cessna waren und Strauß mich aus dem Cockpit sehen konnte. Er verlangsamte seine Fahrt, blieb stehen, öffnete die Tür mit der automatisch herausklappbaren Treppe. Ich, raus aus dem »Follow-me«-Wagen, sprang mit einem Satz über die Gangway in den Flieger und setzte mich auf den nächsten freien Platz. Strauß blickte kurz nach hinten, ob ich die Aktion schadlos überstanden hatte, schüttelte den Kopf und nuschelte, was ich wegen des Motorenlärms nicht verstehen konnte, aber mir vom Co-Piloten später erzählt wurde: »Der Rosenberg, der Rosenberg, der macht mich noch wahnsinnig!« In der Maschine saßen zwei Mitarbeiter der Staatskanzlei, die beide gleich aussahen, gleich gekleidet waren und gleich blass waren. Sie konnten – können wahrscheinlich bis heute – nicht verstehen, wie ein Mitarbeiter den Bayerischen Ministerpräsidenten dazu veranlassen konnte, auf der Startbahn stehenzubleiben. Sie waren sicher, mir würde noch am gleichen Tag fristlos gekündigt werden.
Am nächsten oder spätestens übernächsten Tag war alles vergessen, Strauß war nie nachtragend. Er wusste, er konnte sich auf mich verlassen, ich war einer der Seinen, das habe ich oft bewiesen. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt und gefühlt, wie er tickte, jeder aus dem inneren Kreis hat »seinen« Franz Josef Strauß, das war das Geheimnis unserer Zusammenarbeit in der CSU-Landesleitung. Ich habe mich oft gefragt, warum Strauß mich zum Pressesprecher der CSU berufen hat. Eine Antwort fand ich keine. Ich habe ihn nie gefragt, das schickte sich auch nicht. Erst viele Jahre später habe ich bei Philip Roth eine Erklärung gefunden, die Strauß vielleicht vorempfunden haben könnte. Dabei bin ich auf einen Zufall – Zufälle gibt es nicht – gestoßen: Strauß und Roth waren 1963 fast zur selben Zeit in Israel. »In jedem einzelnen Juden waren so viele Sprecher. Stopf dem einen das Maul und schon redet der andere. Stopfs ihm, und schon ist da ein dritter, ein vierter, ein fünfter Jude, der immer noch was zu sagen hat«, heißt es bei Philip Roth.