1. Auflage 2016

©opyright 2015 by Autor

Lektorat: Miriam Spies

Coverbild: Liú Quara

Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-95791-053-0

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Dirk Bernemann

Vom Aushalten ausfallender Umarmungen

Vorwort

Liebe Lesende,

hier stehe ich nun und könnte sehr wohl anders, will ich aber nicht. Ich will genau das hier. Schreiben. Manchmal ist dieser Wunsch lächerlich, manchmal alles, was noch übrig geblieben ist.

Manchmal schreibe ich Listen auf. Einfach so. Listen erklären manchmal Leute, Dinge, Umstände und Gefüge.

7 Dinge, die gerade auf dem Schreibtisch stehen:

1) ein Teller Obst mit einer Mango, die unbedingt heute gegessen werden muss, weil sie ansonsten an Substanz verlieren wird

2) ein Aschenbecher, der sich langweilt

3) du nicht

4) 6 Notizbücher, randvoll mit kleinen Szenen und halben Wörtern

5) ein Zettel, auf dem ungefähr 79 potentielle Buchtitel notiert sind, von denen es keiner geworden ist

6) meine Lieblingskaffeetasse, innen Ränder, außen auch

7) ich

Meine Wohnung riecht nach Arbeit, während ich das hier schreibe. Bin unlängst fertig geworden und weiß, dass ich mir eine Umarmung wünsche. Und weil niemand da und alles leise ist, nur ganz dünn Musik herumwabert, muss mich dann Literatur umarmen und ich hoffe ja immer, etwas dergestalt Lebendiges verfasst zu haben, dass es imstande ist aufzustehen, auf mich zuzulaufen und mir für seine Existenz zu danken.

Liebes Buch, ich habe dich unter Schmerzen in die Welt gestemmt, jetzt steh auf und mach was!

2 Dinge, die ich von diesem Buch erwarte:

1) nicht egal sein

2) Leserinnen und Leser gut aussehen lassen in seiner Accessoirehaftigkeit, wenn sie damit reisen

Und damit genug Vorwort in die Welt verwaltet. Ich stelle mich nun wieder ans Fenster und warte darauf, dass dieses Buch endlich erscheinen darf.

Viel Spaß und gute Unterhaltung wünscht Ihnen

Ihr Lieblingsautor,

Dirk Bernemann

Der Friseurbesuch

Es ist ein Vormittag, irgend so ein Vormittag, an dem er sich vorgenommen hat, etwas für sich zu tun. Früh aufgestanden, geduscht, auf Inspira­tion gewartet, die kam nicht vorbei, also begann er mit dem, was Künstler eben so tun, wenn die Inspiration sich verspätet. Warten. Warten. Warten. Dann ein Blick in den Spiegel und hey, man könnte ja mal, aber was sollte man daran beschönigen können und dann: ja, doch, ein Friseurbesuch.

Kalle hat mal diesen Bestseller geschrieben. Schon ein paar Jahre her. So ein Buch, mit dem alle was anfangen konnten. Und wenn er alle sagt, dann meint er nicht alle, sondern alle, die er mag. Auch ein paar, die er nicht mag, haben dieses Buch gelesen und bewertet und sogar ein paar von denen lieben es. Dann kamen ein paar weitere Bücher, fast jedes Jahr eins. Sein Bestseller hieß »Dinge jagen, Menschen retten«, aber seine neuen Bücher kamen nicht mehr an den Erfolg des ersten Buches heran, obwohl sie sich bemühten, diese kleinen, unermüdlichen Bücher.

Kalle weiß 7 Dinge, die er gerne mag:

1) das Gefühl, ein Wort zu finden, das wichtiger als ein Atemzug zu sein scheint

2) nachts im Bett Spaghetti essen

3) aus Fenstern in 13. Stockwerken in Himmel gucken, um mit Blicken Vögeln zu folgen

4) braune Cordanzüge

5) Bücher, die zwar klein sind, aber so schwer, dass man sie kaum allein erträgt

6) wunderbaren Menschen zu sagen, dass sie komplett scheiße sind, einfach nur, um die Gelegenheit zu haben, mit wunderbaren Menschen zu reden

7) Bescheidenheit, die echt ist

Bei allen Friseuren riecht es immer identisch. In der Luft feinkörnige, chemische Haarspraypartikelchen, gemischt mit irrsinnigen Parfümcocktails. Darüber legt sich eine perfide Decke aus Schampooaromastoffen mit einer winzigen Note heißlaufender Fönmotoren. Trotz dieser Kulisse sagt der Ort zu Kalle: »Komm herein und verlasse mich schön. Du hast die Gelegenheit, etwas an dir zu verändern.« Und um Veränderungen geht es doch manchmal, weiß er. Oder einfach nur darum, dass sich einer um einen kümmert.

Madlen, sagt sie, heißt sie und ob er sich schon mal da hinsetzen wolle. Er setzt sich also schon mal da hin und wartet, während Madlen ihm die Haare wäscht. Ab und zu lässt sie eine ihrer wohlgeformten Brüste an seinem Hinterkopf vorbeigleiten, was er mit Wohlwollen zur Kenntnis nimmt. Haare schneiden ist halt ein intimer Akt, etwas wie ein Arztbesuch. Dazu gehört eigentich Vertrauen und zu oft macht man Kompromisse. Wer war denn je in einem Friseursalon, hat sich mit dem oder der Haarschneidebefugten im Vorfeld so lange unterhalten, dass da ein ordentliches Vertrauensverhältnis entstehen konnte, war dann trotzdem enttäuscht von ihrem oder seinem Verhältnis zur Bankenkrise und ist dann lieber in den nächsten Salon gegangen?

Madlen lächelt ein Lächeln, welches voll ist von dem Geheimnis, wie man aus Zwang Vergnügen destilliert. Sie ist eine dieser Schönheiten, die einem sofort ins Auge springen wie Stagediver auf Hardcore-Konzerten und jetzt sitzt Kalle auf diesem Drehstuhl und Madlen schneidet ihm die Haare. Es wirkt wie eine Choreographie, wie sie da so um ihn herumtänzelt, jeden Schritt, jede Handbewegung betont lässig ausführt. Und bislang hatte sie nur einen Kamm und ein Handtuch in ihren Händen. Kalle sitzt nur still da, weil er ihr diese Dienstleistung abgekauft hat. Sie fragt ihn, wie es werden soll, er sagt ihr, wie es werden soll und sie beginnt daran zu arbeiten, wie es werden soll.

Er hat einen hippen Kurzhaarschnitt verlangt und sie denkt, er sei einer dieser Leute, die glauben, dass die Möglichkeit bestünde, sich mit einer Frisur irgendwie vom Rest abzugrenzen. Wahr­scheinlich schneidet sie mehrmals am Tag die Frisur, die er verlangt hat. Sie ist zärtlich zu seinem Haar, allerdings sind ihre Scherenhiebe und Handbewegungen einstudierte, unemotio­nale Roboterbewegungen, an denen man erkennen kann, dass es ihr egal ist, ob sie jemandem die Haare schneidet. Sie könnte ebenso gut ein Dach decken, eine Kuh melken oder einen Autoreifen wechseln.

Und sie redet diese Allerweltsdinge, von denen sie glaubt, dass sie Lockerheit suggerieren. Hier, nimm meine Allerweltsmeinung und lass uns ein wenig unverbindlichen Smalltalk haben. Ich bin nicht an dir interessiert und du nicht an mir, also lass uns einfach die Gesichter öffnen und uns Worte herausfallen lassen, die immer am Eigentlichen vorbeigleiten, weil: Was wäre das denn für ein Friseur­besuch, wenn es hier ums Eigentliche ginge? Kalle hat sich immer schon gefragt, ob es unpassend sei zu sagen: Ich hätte gerne diesen oder jenen Haarschnitt, aber bitte ohne Gespräch. Kalle will keine ersetzbaren Dialoge sprechen. Er hat mal versucht ein Theaterstück voller punchlinehafter Dialoge zu verfassen und ist an seinem eigenen Anspruch gescheitert. Madlen aber scheint jemand zu sein, der ohnehin schlecht Stille aushalten kann.

Sie fragt Kalle, warum er so früh am Tage denn schon hier säße und er antwortet ihr, dass seine Selbstständigkeit ihm das erlaube. Madlen will wissen, in welchem Bereich er denn tätig sei und er antwortet ihr, dass er Kunst mache, woraufhin sie fast gelangweilt meint, dass das ja wohl ein weiter Begriff wäre und Kalle präzisiert, dass er Schriftsteller ist. Ihr entgleitet ein wow, cool!, während sie sein Deckhaar kürzt.

Was genau er schreiben würde, fragt sie, woraufhin er Verschiedenes antwortet. Leicht eupho­risiert fragt sie, ob er berühmt sei, was Kalle bescheiden verneint. Sie sagt ihm dann mit einer seriösen Ernsthaftigkeit in der Stimme, dass sie selbst ja wenig lesen würde, sie habe halt wenig Zeit, die Arbeit und dann noch die Hobbys und der Freund und so und sie fragt, ob er das verstehen könne und er antwortet ihr barsch, dass er es nicht verstehen könne, wenn jemand wenig läse. Man hört Madlen atmen, ein Atmen aber ist das, welches eher wie das Pressen von Luft durch die dafür vorgesehenen Organe klingt. Kalle hat eine Grenze durchbrochen und weiß noch nicht, ob das gut ist.

Schweigen. Kalle sieht im Spiegel das Gesicht von Madlen, welches im Begriff ist, außer Fassung zu geraten. Aber es behält seine Form und seine Gradlinigkeit. Sie lächelt sogar und man erkennt, dass ihr Lächeln eine Lüge ist, weil ihre Augen nicht mitlächeln. Er ergänzt: »Außerdem mag ich nicht, wenn Leute, die sich nicht für einen interessieren, so tun, als ob sie sich für einen interessieren.« Er erkennt, dass Madlen ihm gerne sagen wollen würde, dass das doch ihr Beruf sei, dieses Interesse aufrechtzuerhalten. Ihm danach vielleicht ein bisschen mit der Schere in den Nacken zu pieken, so als Zusatzargument.

Das leicht aggressive Klappern an seinem Hinter­kopf beunruhigt Kalle dann doch ein wenig. Sie ist die mit der Waffe, fällt ihm ein und er sagt lieber was Besänftigendes: »Schönes Wetter heute, als ich am Morgen erstmals an die frische Luft kam, lag darin etwas Wunderbares, ein feinglitzerndes Gefühl von Aufbruch, das Antlitz der Sonne, zum Sterben schön, selbst das zumeist störende Geräusch vorbeifahrender Autos war nicht imstande einen davon abzuhalten, diesem Tagesbeginn nicht hoffnungsvoll ins Gesicht zu lachen.« Madlens Bewegungen werden langsamer. Stagnieren dann ganz. »Als ich heute aufgewacht bin«, sagt sie dann zögerlich, »war ich scheiße einsam, obwohl mein Freund da war, aber das Gefühl, dass da ständig etwas ist, was an einem zerrt, werde ich einfach nicht los.« Ihr Körper wackelt, wie so ein Körper eben wackelt, wenn die innere Unruhe nach außen drängt.

Madlen hat zu weinen angefangen, lässt ihre Schere fallen und beginnt zu zittern. Kalle steht auf und bittet sie, sich auf den Friseurstuhl zu setzen und ohne Zögern tut sie das auch. Er fragt sie, wie es denn sein soll, dieses Leben und ihre Frisur und sie sagt erst ausschließlich ausgefüllt mit schönen Dingen und dann, auf ihren Kopf deutend, kurz. Kalle beginnt damit, ihr eine Kurzhaarfrisur zu schneiden, wie noch nie jemand eine Kurzhaarfrisur gesehen hat. Er ist ein Dilettant an der Schere, aber er macht einfach, was ihm einfällt. »Ich habe Angst vor Zahnärzten und vor der Dunkelheit«, sagt Madlen, während Kalle an ihr seine unglaublich dilettantischen Schneide­experimente vollzieht. »Aha«, brummt Kalle, »und weißt du auch, wo das herkommt, das mit der Angst?« Madlen denkt ein bisschen nach, aber nicht zu lange, die Frage bleibt im Raum hängen, verschwindet nicht. Sie schaut Kalle im Spiegel direkt in die Augen. »Ja«, antwortet sie dann ruhig und zwar so ruhig, dass man denkt, dass diese Antwort schon ewig in ihr schlummert, »es ist die Ausgeliefertheit, der wir alle gegenüberstehen. Die Geschichte jedes Menschen ist doch folgendermaßen zusammenzufassen: Geburt, dann die große Frage, was eigentlich abgeht und dann Tod. Lösungen gibt es nicht, nur Angst und manchmal Mut.« Kalle schneidet weiter. Und nickt in hospitalistischer Beständigkeit. Damit ist alles gesagt.

Madlen ist ein bisschen erleichtert und beginnt über sich zu erzählen. Es sprudelt aus ihr heraus, ganz so, als wollte sich dieser Wortschwall hier und jetzt Bahn brechen, aber keiner ist da, der ihn hören möchte. »Und ja, ich stehe in dieser Bindung rum, dieser Mann, ein guter, ein fleißiger Typ, aber manchmal so abwesend, wenn es um Wesentliches geht. Und ich habe eine Tochter, die ist nicht von ihm. Ich habe ständig Angst, dass ihr was passiert und ich keine gute Mutter bin. Oder sie einfach fallen lasse, weil mein Kopf woanders ist. Und eine Katze. Die ist von ihm und auch unwesentlich. Ich arbeite hier seit einem Jahr und das auch wirklich gern. Manchmal jage ich den Fusseln in meiner Wohnung nach. Ich staubsauge gerne. Ich streiche gerne Wände und ich mag, wie sich Bustüren beim Öffnen anhören. Ich lausche gern dem Klang von Besteck in der Besteckschublade. Wenn ich wirklich mal Zeit habe, komme ich mit den Tieren aus der Nachbarschaft ins Gespräch und habe gleichzeitig Angst, dass diese Tiere, deren Besitzer, mein Freund und meine Tochter mich deswegen für verrückt halten. Ich liebe es nachts im Regen rumzulaufen und pitschnasse Klamotten zu bekommen, aber ich traue mich nicht, nachts einfach nur dafür aufzustehen. Ich mag das Gefühl von kalten Fingern unter warmem Wasser. Immer, wenn ich in unsere Wohnung komme und weiß, dass ich alleine bin, sage ich den Namen meines Exfreundes. Gestern hat mir eine Freundin, die demnächst wegzieht, ihre Gitarre geschenkt und ich weiß, dass ich sie niemals benutzen werde …«

Als Madlen fertig ist mit dem Erzählen, ist auch Kalle fertig mit dem Schneiden und er hält ihr einen Spiegel hinter den Hinterkopf und sie ist zufrieden. »Danke«, sagt sie und er sagt: »Passt schon.« Er föhnt noch etwas an ihr herum und versiegelt die Poren ihres Kopfes ordentlich mit Haarspray. Das stinkt noch mehr, aber dass das Leben kein Prozess ist, der auf Dauer gut riecht, daran haben sich beide bereits gewöhnt.

Madlen steht auf, sieht wirklich seltsam aus, aber interessanter und glücklicher denn je. »Was kostet das?«, fragt sie und sie sieht auf diese seltsame, interessante Art glücklich aus. So wie Menschen glücklich aussehen, denen was vom Herzen gefallen ist, was da ohnehin nicht hingehörte. »20 Euro«, sagt Kalle und sie gibt ihm 35 Euro, sagt ebenfalls: »Passt schon.« Und in einer seltsamen, interessanten und glücklichen Art verlässt Madlen dann ihren Arbeitsplatz, an dem Kalle einfach stehen bleibt. Sie taumelt auf die Straße und wird von einem sehr großen Bus überfahren, Leute schreien, Madlen liegt zerfleddert am Straßen­rand, aber ihre Frisur sieht unglaublich gut aus.

Kalle verlässt unbemerkt mit einer halbfertigen Frisur und einem unendlich schweren Gefühl den Friseursalon. Draußen versuchen Rettungskräfte Sinnloses. Kalle geht nach Hause. Will darüber schreiben, aber die Worte stecken irgendwo fest. So ist das manchmal. Mit den Worten und den Büchern. Den Rest des Tages verbringt er allein mit der Frage, wie man wirklich coole Frisuren macht und was eigentlich das Eigentliche ist. Antworten bleiben aus. Sein Leben ist zur Hälfte vorbei und er hat noch nichts verstanden.