Inhalt



Axel Kruse

Sylvej

 



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Oktober 2018

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild: Lothar Bauer
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-638-6
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-640-9

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich

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Für meinen Sohn Timo

Geleitwort

In bestimmten Situationen hängt viel von einem unscheinbaren Kippschalter ab. Wenn Samuel Kors, Kapitän des Raumschiffs Lahme Ente, ihn umlegt, übersteuert er die Außenkontrolle und hat das Schiff wieder selbst in der Hand. Auch Menschen brauchen bisweilen so einen Kippschalter.

Samuel Kors jedenfalls gerät immer wieder in Situationen, in denen er den Kippschalter im Kopf umlegen muss. Kaum glaubt er sich den Fängen des korrupten, imperialistischen terranischen Reiches entronnen, gerät er in die Klauen der Derolianer, deren Herrschaftssystem nach feudal-absolutistischen Prinzipien funktioniert. Begriffe wie Ehre und Respekt werden hier über alles gestellt und sind letztlich doch nur Kampfmittel in machtpolitischen Auseinandersetzungen.

Ein wenig naiv, wie es sich für den Helden einer Queste gehört, stolpert Samuel Kors von Abenteuer zu Abenteuer, um nicht zu sagen: von einer Bredouille in die nächste. Was er erlebt, scheint den Spruch der Römer, dass der Mensch des Menschen Wolf sei, zu bestätigen. Und das gilt natürlich erst recht Fremdwesen gegenüber, wie etwa den Ureinwohnern des Planeten Sylvej!

Immer wieder erlebt Samuel Kors, dass Menschen, auch seine Weggefährten, den größten Ungeheuerlichkeiten fast emotionslos, ja gleichgültig und kalt gegenüberstehen. Wie bewahrt man, zumal wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, die eigene Menschlichkeit?

Dass die Welten, durch die Samuel Kors notgedrungen reist, fantastisch bunt, überaus vielfältig und voller Überraschungen sind, versteht sich bei Axel Kruse von selbst. Was aber seine aus der Art geschlagene Space Opera vor anderen auszeichnet, ist ihre tiefe humanistische Botschaft.

Karlheinz Steinmüller, Berlin, den 14.1.2018

1. Kapitel
Auf dem derolianischen Trägerschiff

Vier mal fünf Meter, zwanzig Quadratmeter. Zumindest ungefähr. Genau ausrechnen konnte ich es nicht. Aber das waren in etwa die Abmessungen des Quartiers, in das mich die Derolianer gesperrt hatten. Das Quartier, das ich an Bord ihres Basisschiffes bezogen hatte, das auf der Reede vor Sylvej lag, einer der derolianischen Kolonien.

Von diesen knapp zwanzig Quadratmetern ging noch die Grundfläche der kleinen Nasszelle ab, die mir zur Verfügung stand. Der Rest des Zimmers wurde von dem Bett dominiert, das in einer der Ecken stand. Ansonsten verfügte ich noch über einen Kleiderschrank und einen Tisch nebst Stuhl. – Ach ja, in der Wand war auch noch ein Bildschirm eingelassen, über den ein normales Besatzungsmitglied sicherlich irgendwelche Filme zur Unterhaltung hätte abrufen können. Aber ich war kein normales Besatzungsmitglied, für mich galten andere Regeln.

Nach Ansicht des derolianischen Kapitäns war ich der überführte Schmuggler, der nur deshalb eine Vorzugsbehandlung genoss, weil er den derolianischen Prinzen und Thronfolger von Kirkasant hierhergebracht hatte. Bis zur endgültigen Klärung meines Status war ich hier interniert, mittlerweile seit gut anderthalb Tagen. Weder Lys noch Jorge hatten sich seitdem blicken lassen. Sie waren wahrscheinlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Dumm gelaufen.

Vor der Tür meiner Zelle, ich konnte nicht anders, ich musste mein Quartier so nennen, auch wenn die Zellen auf diesem Kriegsschiff sicherlich anders aussahen, standen zwei Soldaten der derolianischen Raummarine Wache. Die beiden lieferten mir dreimal pro Tag eine Mahlzeit und quatschten dann sogar ein wenig mit mir. Ich war mittlerweile fest davon überzeugt, dass die beiden hochbegabt sein mussten – zumindest, wenn man ihrer beider Intelligenzquotient addierte.

Die Decke fiel mir auf den Kopf. Anfangs ging es ja noch, ich konnte nach all der Aufregung ein wenig schlafen, aber dann? Ich hatte nichts hier, nicht mal Kleidung zum Wechseln.

Dann hörte ich dieses Klappern. Dieses charakteristische Klappern, das ich so viele Jahre lang nicht mehr gehört hatte. Ich wusste, wer da den Korridor entlangkam. Ihre Absätze, sie trug hier an Bord wieder Schuhe mit hohen Absätzen, klar … ihre Absätze waren einfach unüberhörbar, wenn sie auf den Boden knallten. Dann öffnete sich die Tür und Lys trat ein.

»Hallo, Sam!«, sagte sie.

»Ihr habt mich lange schmoren lassen«, antwortete ich übergangslos, ohne sie zu begrüßen. »War das Absicht, wolltet ihr mich weichkochen?«

»Du bist nicht der Nabel der Welt«, war ihre Antwort. »Wir hatten wichtigere Dinge zu regeln.«

»Wichtige Dinge?«, höhnte ich.

»Lass jetzt den Unsinn, wir haben nicht viel Zeit.«

»Wieso?«, entgegnete ich. »Hier passiert nicht viel, wir haben alle Zeit der Welt.«

Sie blickte zu der Tür, die sich nach ihrem Eintritt wieder geschlossen hatte, so als hätte sie Angst, dass sie sich öffnen könnte. Und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Die adeligen Derolianer machen eine Genanalyse von jedem Kind, direkt nach der Geburt. In wichtigen Fällen bereits vorher im Mutterleib und …«

»Du fürchtest Krankheiten, eine Behinderung?«, fragte ich und malte mir ihre Besorgnisse aus. Was wusste ich schon von der Praxis in dieser Gesellschaft, was vermeintlich behinderte Kinder anging? Brachte man sie in einem Gnadenakt um, wie unheilbar Kranke auch? Mir fielen Jorges Taten auf Kirkasant wieder ein.

»Quatsch nicht so ein blödes Zeug, Sam! Jorge ist nicht der Vater und …«

Die sich öffnende Tür zu meinem Domizil unterbrach ihren Redefluss. Jorge trat ein und blickte von ihr zu mir. Er musste gemerkt haben, dass Lys ihre Rede schnell unterbrochen hatte.

Mein Gehirn arbeitete rasend schnell, versuchte, die soeben erhaltene Information zu verarbeiten und die Folgen für uns abzuschätzen. Was würde Jorge tun, wenn er die Wahrheit über das Kuckuckskind erfuhr? Welche Strafe drohte Lysange und vor allem: Was würde mir widerfahren? Würde ich in irgendeinem Verlies verrotten, weil der Kronprinz es nicht mehr für notwendig erachtete, sich für mich zu verwenden? – Nicht, dass ich bislang irgendetwas davon gemerkt hätte, dass sich irgendwer um mich geschert hätte.

»Ich habe Sam soeben von unseren Problemen berichtet«, sagte Lys.

Ich sah sie staunend an. Wusste Jorge etwa Bescheid? Was für ein Spiel spielten die zwei hier?

»Und was meinst du dazu?«, fragte mich der Kronprinz.

»Er meint, dass es zu gefährlich ist, mit der Lahmen Ente ohne Geleitschutz nach Derolia weiterzufliegen. Nicht bei der militärischen Präsenz der Terraner in diesem Sektor«, preschte Lys vor. Ich nickte zustimmend.

»Was ist mit einem derolianischen Kriegsschiff?«, griff ich das Thema auf. »Besteht da nicht die Möglichkeit eines Transports? Ich meine, die könnten euch beide, Pardon, euch drei«, fügte ich mit einem Blick auf Lys’ Bauch ein, »doch nach Derolia bringen, während ich mit meinem Schiff meiner Wege gehe. Einmal volltanken, und schon bin ich weg …« Ich bewunderte mich selbst für meinen Kunstgriff, hatte ich ihnen doch eine vermeintliche Lösung präsentiert und gleichzeitig für mich eine unverfängliche Forderung gestellt.

»Du hast Lys nicht richtig verstanden. Wir können hier keine Einheiten abziehen. Würden wir das tun, dann wäre Sylvej schutzlos. Immerhin ist es der Sitz des Vizekönigs. Ich kann nicht einfach so verfügen, dass man uns nach Derolia bringt, und dich können wir auch nicht durch die Blockade bringen, ohne offene Kampfhandlungen auszulösen. Momentan haben wir hier eine Pattsituation. Die Terraner blockieren das System, wir kommen nicht weit genug raus, um die Sprungdistanz zu erreichen.«

Daher wehte der Wind, in den letzten anderthalb Tagen war anscheinend allerhand geschehen.

»Muss dein Schiff wirklich so weit raus?«, fragte er dann. »Ich meine, es ist wesentlich kleiner als ein Kreuzer oder gar ein Trägerschiff. Welche Distanz zur Sonne brauchst du für einen Sprung? Musst du bis zum Asteroidengürtel?«

»Wenn ich auf Nummer sicher gehen will, muss ich sogar noch weiter, viel weiter. Ein Risikosprung wäre sicherlich auf Höhe des Gürtels machbar, aber dann stehen die Chancen drei zu eins gegen uns, dass wir auf der anderen Seite heil wieder rauskommen.«

»Und im Gürtel sitzen die Terraner«, warf Lys ein. »Das ist ein viel größeres Risiko als so ein Sprung.« Damit spielte sie auf die Vielzahl von Sprüngen an, die ich in meinem Leben bereits unter ähnlichen Bedingungen durchgeführt hatte, immer da, wo die Behörden eine etwas andere Vorstellung von Schmuggeltatbeständen hatten als ich. Aber das musste ich Jorge hier ja nicht auf die Nase binden.

»Die Terraner sitzen im Gürtel?«, fragte ich.

Jorge nickte. »Drei Trägerschiffe und fünf Kreuzer. Daneben eine Vielzahl von kleineren Einheiten.«

Ich staunte nicht schlecht. Wo hatten sie die in so kurzer Zeit aufgetrieben? Der Aufmarsch auf Kirkasant musste noch gewaltiger sein, als ich mir vorzustellen wagte. »Was habt ihr dem entgegenzusetzen?«

»Ein altersschwaches Trägerschiff, einen Kreuzer und ein halbes Dutzend kleinere Einheiten. Zur Abschreckung reicht es, zu viel mehr aber nicht.«

Ich sah den Kronprinzen betreten an. Wo waren wir da hineingeraten? Mal ganz davon abgesehen, welche Komplikationen sich aus dem mir durch Lysange übermittelten Faktum ergeben mochten. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so arg aussieht. Habt ihr einen Plan B?«

Betreten sah Jorge mir ins Gesicht. »Ich hatte auf dich gehofft. Lys hat mir da so einige Dinge von dir erzählt … aber das kommt halt nicht infrage. Dann werden wir jetzt den Befehlshaber unserer Flotte hier in diesem System aufsuchen. Er hat mich um eine Unterredung gebeten.«

»Ist es klug, wenn ich dabei bin?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine als inhaftierter Schmuggler …«

Jorge lachte lauthals los. »Du hast mir das Leben gerettet. Wenn nicht du, wer dürfte dann an meiner Seite sein? Kommt, wir sind schon spät dran.«

* * *

Vor meiner Kabine hatten die beiden hochbegabten Marineinfanteristen Habachtstellung eingenommen. Sie zuckten mit keinem Muskel, als wir an ihnen vorbei in den Gang traten. Irgendwie taten sie mir leid. Auch wenn wir in den letzten anderthalb Tagen nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht hatten, würden sie mir fehlen.

Die Gänge des Trägerschiffes waren nur spärlich beleuchtet. Das mochte Absicht sein, ich hatte jedoch eher die Vermutung, dass es aus Energiesparzwängen so war. Damit kannte ich mich schließlich aus. Auch ich hatte an Bord der Lahmen Ente spezielle Schaltungen, die mir erlaubten, jede dritte oder auch nur jede vierte Lampe mit Energie zu versorgen. Ich maßte mir an, solche Handlungen zu erkennen, hatte ich sie doch oft genug selbst angewandt.

Funktionierende Aufzüge schien es ebenfalls nicht zu geben, zumindest nicht auf unserer Route. Mehrfach mussten wir ein Treppenhaus benutzen. Luxuriös, sicherlich, auf anderen Schiffen hatte man anstelle eines solchen Notleitern, aber es blieb immer noch ein Treppenhaus. Wenn man sich nicht einmal die Mühe machte, für den derolianischen Thronfolger einen Aufzug in Gang zu setzen, dann musste es um dieses Trägerschiff mehr als schlecht bestellt sein. Wie hatte Jorge sich noch ausgedrückt? Ach ja, ein altersschwaches Trägerschiff! Nun, das schien es zu treffen. Es würde mich nicht wundern, wenn sich das Ding nicht einmal von der Stelle bewegen könnte.

Aber darauf kam es ja auch nicht wirklich an. Die Schlagkraft eines solchen Schiffes bestand aus den Jägern, die sich in seinem Bauch befanden, und die hatten ja ihre Wirksamkeit überaus deutlich bewiesen, als wir in das System eingetreten waren. Für die Verteidigung von Sylvej war dieses Schiff ganz gewiss ausreichend.

Zwei Decks höher standen wir vor einer Tür, die von fünf Marineinfanteristen bewacht wurde. Vier von ihnen waren, wie auch schon die Wachen vor meiner Tür, mit goldenen Tressen behangen. Der fünfte, augenscheinlich der befehlende Offizier oder Unteroffizier, hatte darüber hinaus auch eine grüne Tresse. Alle fünf standen sofort stocksteif da, als sie Jorge erblickten. Der deutete nur kurz mit dem Finger auf die Tür und trug einen fragenden Gesichtsausdruck zur Schau.

Der Kommandant des Trupps salutierte und öffnete sofort. Jorge trat hindurch, wir folgten in seinem Schlepptau. Er hatte kein Wort mit den Soldaten gewechselt, vermutlich standen sie im Rang so weit unter ihm, dass er ihnen bereits dadurch eine Gnade erwiesen hatte, dass er sie überhaupt beachtet hatte.

Vor uns tat sich ein ovaler Raum auf, der im Gegensatz zu den Gängen, durch die wir gekommen waren, geradezu grell beleuchtet war. Allerdings brannten auch hier nicht alle Lampen, wie ich mit der Zeit bemerkte.

In der Mitte der Brücke befand sich ein großer, ebenfalls ovaler Tisch, auf den eine taktische Karte projiziert war. Sechs Männer und Frauen beugten sich darüber und diskutierten. Einer der darum herumstehenden Adjutanten räusperte sich, die sechs Offiziere blickten hoch, gingen in Habachtstellung und grüßten Jorge, indem sie ihre rechte Hand salutierend zum Kopf führten.

»Willkommen auf der Brücke, Majestät!«, sagte einer von ihnen. Ein Mann, mindestens an die siebzig Standardjahre alt, dessen Uniform über und über mit Orden und Tressen unterschiedlichster Form und Farbe bedeckt war. Ich kam mir wie in einer Operette vor. Fehlte nur noch, dass sie begannen zu singen.

»Ich danke Ihnen, Admiral. Bitte stehen Sie locker«, entgegnete Jorge. »Wie ist die Lage?«

Die Offiziere entspannten sich. »Es wird zusehends angespannter, Majestät. Die Terraner haben weitere Einheiten in unseren Raum verlegt. Wir können fünf vollständige Kampfverbände orten. Sollte es tatsächlich zu einer Auseinandersetzung kommen, sie würden uns vom Himmel fegen.«

»Nicht ohne dass sie selbst empfindliche Verluste hinnehmen müssten«, warf einer der anderen Offiziere ein, eine Frau so um die sechzig Standardjahre alt.

»Das hält sie noch davon ab loszuschlagen«, stimmte der Admiral zu.

»Der Vizekönig hat um Unterstützung auf Derolia nachgefragt«, warf einer der Adjutanten ein.

»Das wird kaum Aussicht auf Erfolg haben. Derolia hat mit ähnlichen Problemen wie wir zu kämpfen, die benötigen die Flotte dort selbst.« Der Admiral sah Jorge betreten an. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Majestät, aber Ihre Frau Mutter hat Prioritäten gesetzt. Das Kernland … Sie verstehen?«

Jorge nickte. Ich merkte ihm an, dass ihm die Wendung, die das Gespräch nahm, Unbehagen verursachte.

»Sie sollten sich hier nicht aufhalten, Majestät«, fügte der alte Mann noch an.

»Nach Derolia können wir derzeit nicht weiterreisen, das haben wir ja bereits diskutiert«, sagte Jorge. »Bleibt nur Sylvej selbst. Bestehen da sicherheitstechnisch Einwände?«

»Keine, Majestät«, antwortete der Admiral. »Allerdings …« Er druckste herum, es war ihm sichtlich unangenehm, das war klar zu erkennen. »… wäre es möglich, dass Sie mit Ihrem Schiff … ich meine, selbstredend würden wir Ihnen eine Eskorte …«

»Das kann ich übernehmen, die Eskorte meine ich«, ließ sich nun die Stimme eines jüngeren Offiziers vernehmen, den ich in den Kreis der Adjutanten eingeordnet hatte.

Der Admiral seufzte hörbar auf. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Kapitän!«, murmelte er.

»Kein Problem, da ich ohnehin auf dem Empfang des Vizekönigs erwartet werde.« Der Mann wandte sich Jorge zu. »Sie gestatten?«, fragte er. »Mein Name ist Piggot, Simon Piggot. Ich bin der Kommandant der freien Söldnerflotte, die ihre Dienste Derolia angeboten hat.«

Piggot, bei dem Namen klingelte etwas bei mir. War das nicht der Freibeuter, der, je nach Gusto, seine Fahne dem jeweils Stärkeren anbot, Beute machte und sich dann schnell wieder verzog? Was führte ihn nach Sylvej und vor allem, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, auf die Verliererseite? Welche Beute versprach er sich auf terranischen Kriegsschiffen machen zu können? Ich besah mir den Mann genauer. Er war eher unscheinbar, von mittlerer Statur, dabei durchaus drahtig gebaut. Seine kurzen, pechschwarzen Haare – waren die gefärbt? – trug er mit einem Seitenscheitel. Seine Uniform war schlicht gehalten, allein daran hätte ich eigentlich erkennen müssen, dass er nicht in den Kreis der Adjutanten gehörte. Er verzichtete auf jegliche Ehrenzeichen. Wer hätte ihm die auch verliehen haben sollen?

»Freie Söldner?«, erwiderte Jorge. »Das ist ein Widerspruch in sich. Haben Sie sich verpflichtet oder nicht?«

Piggot sah Jorge lange an, bevor er antwortete. »Wir waren Kaperfahrer für Terra, das wissen Sie unter Umständen.« Forschend blickte er dem Prinzen in die Augen. »Aber irgendwann im Leben eines jeden Menschen kommt ein Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Wir haben den Kaperbrief gekündigt und bieten unsere Dienste nun denjenigen an, die sich gegen dieses menschenunwürdige Regime stellen. Allerdings erwarten wir tatsächlich eine adäquate Bezahlung und auch eine gewisse moralische Einstellung unseres neuen Arbeitgebers. Finden wir letztere nicht vor, so betrachten wir uns als frei. Reicht das als Erklärung?«

Jorge wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Ich fiel ihm ins Wort, bevor er damit anfangen konnte. »Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, wenn Sie uns bis nach Sylvej Geleitschutz geben. Wann wollen wir starten?«

Piggot grinste mich an. »Sie haben es eilig, von hier wegzukommen?«, fasste er nach.

Ich zuckte mit den Achseln. Das war doch wohl offensichtlich. Hier hatte ich das Gefühl, jede Minute damit rechnen zu müssen, wieder in meine Arrestzelle gesteckt zu werden. Auch wenn es sicherlich schlimmer ging als in diesem Raum, so war ich doch nicht gerade erpicht darauf.

»Sam hat recht«, pflichtete mir Jorge bei. »Ich muss so schnell als möglich mit dem Vizekönig auf Sylvej konferieren. Wie schnell sind Sie startbereit?«

»Meine Schiffe sind immer in Alarmbereitschaft, theoretisch sofort. Ich denke, dass eher Kapitän Kors diese Frage beantworten müsste.«

Den jetzt folgenden Auftritt liebte ich immer besonders.

»Mein Schiff ist ebenfalls in Alarmbereitschaft, wie Sie es so schön ausgedrückt haben. Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte durchaus sein, dass Sie mich da nicht schlagen werden. Schließlich sind wir den Terranern auf Kirkasant auch so entkommen.«

Piggot verzog lediglich eine Augenbraue und sagte dann: »In einer Stunde, Majestät. Wir wollen es nicht übertreiben.«

2. Kapitel
Wieder zurück an Bord

Wir waren wieder auf meinem Schiff, der Lahmen Ente. Die KI hatte mich wie immer begrüßt, Lysange hatte erneut eine Bemerkung ob der Tatsache gemacht, dass ich dem Computer ihre Stimme eingespeist hatte.

Aber was wusste sie schon von meinen Motiven?

Was wusste ich davon?

Warum hatte ich das eigentlich damals getan und nie wieder geändert?

Ich war mir selbst nicht sicher über meine Beweggründe.

Ich wusste einzig, dass alles, was Lysange mir diesbezüglich zu unterstellen versuchte, jeglicher Grundlage entbehrte.

»Das Schiff wurde durchsucht«, entfuhr es mir, nachdem ich mich von der KI hatte updaten lassen.

»Was hast du erwartet, Sam?«, fragte Jorge. »Du giltst als überführter Schmuggler. Sei froh, dass ich mich für dich habe verwenden können. Dein Schiff konnte ich nicht auch noch schützen.«

Ich bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Klar, er hatte sich für mich verwandt. Aber irgendwo blieben da Zweifel in meinem Schädel. Er hatte es erst getan, als er mich wieder brauchte. Hätte er eine andere Passage zur Verfügung gehabt, wer weiß, ob ich dann nicht immer noch in diesem Loch schmoren würde?

»Sie haben Lesseps Leiche mitgenommen«, sagte ich in die Stille hinein.

»Sollten sie sie hierlassen?«, fragte Jorge zurück. »Hattest du noch etwas mit ihr vor?«

»Das ist pietätlos«, fuhr ich ihn an. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«

Jorge zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, Wiederverwertung vermute ich.«

»Wiederverwertung?«, stammelte ich fassungslos.

»Ressourcen dürfen nicht vergeudet werden, schon gar nicht in der Raummarine. Der menschliche Körper besteht zu einem großen Anteil aus Wasser. Dieses zurückzugewinnen und wieder in den Kreislauf des Schiffes einzuspeisen, ist …«

Ich fuhr ihn an: »Ihr habt sie zu Trinkwasser verarbeitet?«

Lys legte ihre Hand auf Jorges Arm und hielt ihn damit zurück, mir gebührend zu antworten. »Sam hätte sie gerne beerdigt, nicht wahr?«

»Was letztendlich nichts anderes ist, als sie dem Kreislauf zurückzugeben«, entgegnete der Prinz. »Wir machen es auf unseren Schiffen lediglich effektiver. Die Terraner übrigens auch«, fügte er noch an.

»Das ist mir scheißegal!«, schrie ich ihn an. »Ich hatte ihr Asyl versprochen, verstehst du? Asyl! Und jetzt kann ich noch nicht mal ihren Körper beerdigen …« Ein Heulkrampf überwältigte mich, die Anspannung der letzten Tage und Wochen brach sich Bahn.

Die Stimme der KI brachte mich wieder zur Besinnung: »Zwei Besucher begehren Einlass. Soll ich die Schleuse öffnen?«

»Lass sie rein«, erwiderte ich. Mir war völlig egal, wer denn da draußen stand. Letztendlich war es auch wirklich und wahrhaftig gleich. Jeder, der hier im Hangar des Trägerschiffes der Derolianer vor meiner Tür stand, hatte mehr Macht als ich und konnte sich somit, wenn nötig, den Zutritt mit Gewalt erzwingen.

»Das ist die Eskorte, die Kapitän Piggot uns abgestellt hat.«

»Eskorte? Ich dachte, er fliegt neben uns her als Eskorte.« Ich schien irgendetwas nicht mitbekommen zu haben.

»Er hat zwei seiner Leute zu uns abgestellt. Den Ersten Offizier und einen Piloten, zu unserer Unterstützung«, erläuterte Lys.

»Ich bin der Kapitän an Bord dieses Schiffes«, stellte ich klar. »Kapitän und Pilot in Personalunion. Da brauche ich keine Unterstützung. Schon gar nicht, um einen kleinen Flug systemeinwärts nach Sylvej hinter mich zu bringen.«

»Hab dich nicht so, die machen dir nichts streitig. Ist doch nur nett gemeint.« Lys sah mich etwas merkwürdig an, so als würde sie an meinem allgemeinen Gemütszustand zweifeln.

Hm … Möglicherweise war das berechtigt.

Die beiden Mitglieder der Mannschaft des Kaperfahrers hatten nun die Brücke erreicht. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Der Mann war ein Hüne. War ich selbst nicht gerade klein, überragte er mich noch um ein gutes Stück. Es geschah nicht oft in meinem Leben, dass ich zu jemandem aufsehen musste, hier war es der Fall. Dabei war er weder schlaksig noch massig gebaut. Die Proportionen stimmten, was beileibe nicht bei vielen wirklich großen Menschen der Fall war. Er machte einen durchtrainierten, vor Kraft strotzenden Eindruck. Ein Mann, mit dem man keinen Ärger haben wollte. Dabei grinste er liebenswert, streckte eine eher an eine Pranke erinnernde Hand in meine Richtung aus und sagte: »Quidar, Ham Quidar ist mein Name. Ich bin Erster Offizier an Bord der Sentenza. Das hier ist meine Kollegin Li Chos, eine unserer besten Pilotinnen.«

Die Frau, auch sie streckte ihre Hand zur Begrüßung aus, war dagegen mehr als zierlich zu nennen. Neben Quidar wirkte sie wie ein Zwerg. Schmal, klein, kein Gramm zu viel auf den Rippen. Eher viel zu wenig, meiner Einschätzung nach. Allerdings machte auch sie einen durchtrainierten Eindruck. Konnte man bei Quidar kaum sagen, aus welcher Region der Erde seine Vorfahren wohl stammen mochten, seine Gesichtszüge wiesen eine undefinierbare Mischung aller möglichen Einflüsse auf, war hier unverkennbar, dass die ihren vom asiatischen Kontinent stammen mussten.

»Wo dürfen wir uns niederlassen, Kapitän?«, fragte die Frau leise.

Die scharfe Erwiderung, die ich eigentlich hatte geben wollen, blieb mir im Hals stecken. Die beiden traten nicht so auf, als ob sie mein Schiff okkupieren wollten. Eher im Gegenteil, sie machten den Eindruck von genügsamen Passagieren, sah man einmal von den Strahlwaffen ab, die sie in den Holstern am Gürtel trugen.

Auch Lysange schien dies aufgefallen zu sein. Mit einem Blick auf die Waffen der beiden sagte sie: »Ist das notwendig? Ich meine, auf wen wollen Sie denn hier damit anlegen? Besteht nicht eher die Gefahr, dass Sie ein Loch in die Hülle des Schiffes brennen? Was wollen Sie denn damit machen, wenn wir von einem anderen Schiff angegriffen werden? Sich in die Luftschleuse stellen und damit auf das andere Schiff werfen?«

Der Mann grinste sie an. »Nichts würden wir damit anstellen, dafür sind sie nicht gedacht. Für den Außenschutz ist die Sentenza zuständig, das schafft sie absolut und fundamental. Wir garantieren Ihren Personenschutz nach der Landung, Madame. Dafür sind die Waffen gedacht und dafür eignen sie sich besonders gut! Außerdem …« Er machte eine Kunstpause. »Außerdem gehen wir nie ohne aus, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er lachte über seinen eigenen Witz, seine Kollegin verdrehte die Augen.

»Die Brücke ist zu klein für uns alle« Diese Bemerkung war eigentlich unnötig, sahen unsere Besucher doch selbst, dass hier lediglich zwei Sitze zur Verfügung standen, die von mir und Lys eingenommen worden waren. Jorge stand hinter Lysanges Platz und hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt, ganz so, als wolle er seinen Besitzanspruch offen darlegen.

»Deshalb die Frage«, entgegnete Li Chos.

Lysange erhob sich. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie das etwas schwerfällig tat. Erst jetzt bemerkte ich die augenfällige Rundung ihres Leibes. Im wievielten Monat war sie schwanger? In so was war ich schon immer schlecht gewesen, wusste ich doch gerade mal, dass eine Schwangerschaft neun, nein eigentlich zehn Monate andauerte. Aber welche Entwicklungsstadien der Fötus im Bauch seiner Mutter durchmachte beziehungsweise wie sich das auf den Körper der Mutter auswirkte, das hatte mich bislang noch nie so richtig interessiert.

»Sie können gerne hier Platz nehmen«, sagte sie. »Jorge und ich gehen nach unten.«

»Ich schließe mich Ihnen an, als Ihre persönliche Leibgarde sozusagen«, meinte der Hüne. »Außerdem vermute ich mal, dass da, wo Sie hingehen, die Möglichkeit besteht, etwas zu trinken zu erhalten?«

»Sie sind Pilotin?«, durchbrach ich die Stille nach ein paar Minuten. Die anderen waren weg, die Frau hatte sich in dem Sitz neben mir niedergelassen.

Sie nickte nur. Hatte sie keine Lust zu reden? Dann aber sagte sie: »Sie haben Ihre Probleme mit den Derolianern, nicht wahr?«

»Hat sich das herumgesprochen?«, fragte ich nach.

»Mein Kapitän hat mich gebeten, mit Ihnen über die Derolianer zu sprechen. Unsere Entscheidung, uns von Terra abzuwenden, war überfällig. Wir haben Derolia als neuen Auftraggeber gewählt, weil das Reich gegen Terra angetreten ist. Gleichwohl wissen wir zu wenig über die Verhältnisse auf Derolia und das wenige, was wir wissen, wirft doch elementare Fragen auf.«

Kaperfahrer mit Gewissen? Konnte das wirklich sein? Ich erinnerte mich an den Wortwechsel zwischen Piggot und Jorge an Bord des derolianischen Trägerschiffes. Freie Söldner hatte der Kapitän seine Leute genannt, tatsächlich ein Widerspruch in sich.

»Meine Vorstellungen von freiem Handel decken sich nicht so ganz mit denen der derolianischen Gesetze und Vorschriften.« Dass sie das auch auf einigen anderen Welten nicht taten, musste ich ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

Sie lachte. Ein glockenhelles Lachen, fast schon zu schrill in meinen Ohren. »Das ist mir klar, Kapitän.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen. »Das geht Ihnen aber sicherlich nicht nur im Derolianischen Reich so. Uns übrigens auch nicht«, fügte sie an. »Ab und an nehmen auch wir außergewöhnliche Frachtaufträge an.«

»Sie befördern Fracht?«, fragte ich. »Das hatte ich jetzt nicht gerade erwartet.«

»Außergewöhnliche durchaus. Eben solche, für deren Verbringung gute, eigentlich sehr gute Preise gezahlt werden.«

»Wie kommt man an solche Aufträge?«, fasste ich nach. War doch die Bezahlung meiner Person durchaus eher als mäßig zu bezeichnen.

»Man besorgt sich ein ausgedientes Kriegsschiff, rüstet es zusätzlich aus und nimmt eine Mannschaft an Bord, die bereit ist, durch dick und dünn zu gehen«, war ihre Antwort. »Aber das führt uns ein wenig weg vom Thema meiner Frage. Wir würden gerne mehr Interna erfahren, bevor wir uns endgültig für die derolianische Seite entscheiden. Nur gegen Terra zu sein, muss nicht unbedingt heißen, dass wir uns hier wohlfühlen.«

SentenzaCarpe Diem

Ja, das mochte nicht abwegig sein, grübelte ich. Peters war auch hier, schoss es mir durch den Kopf. Das nahm sich langsam an, wie das Who’s who der menschlichen Kaperfahrer.

»Automatischer Ruf der Abwehr von Sylvej kommt rein«, informierte mich die KI mit Lysanges Stimme. Irritiert sah Li Chos zu mir herüber, ich ignorierte ihren Blick.

»Was wollen sie?«, fragte ich.

»Überstellung der Kontrollen an den Raumhafen auf Sylvej. Von dort soll die Landung gesteuert werden.«

Ein auf vielen Welten übliches Prozedere. Ich stimmte zu und übergab die Kontrolle an den Raumhafen.

»Sie fühlen sich nicht unwohl bei dem Gedanken, dass jetzt jemand anderes Ihr Schiff fliegt?«, fragte Li Chos.

»Ach wissen Sie«, sagte ich, »im Falle des Falles habe ich hier einen Schalter.« Ich wies auf einen kleinen unscheinbaren Kippschalter, der unterhalb des Armaturenbretts angebracht war. Ein echter Schalter, mit einer mechanischen Komponente. Nicht dieses sich niemals abnutzende, weil nichtmechanische Zeug. »Wenn ich den umlege, dann habe ich die Notsteuerung aktiviert, damit übersteuere ich die Außenkontrolle und habe das Schiff wieder selber in der Hand.«

Erstaunt sah mein Gegenüber zu mir herüber. »Sie sind mit allen Wassern gewaschen, Kapitän. Hätte ich Ihnen und Ihrem Schiff nicht wirklich zugetraut. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, auf einem anderen Schiff anzuheuern?«

»Bieten Sie mir gerade einen Job als Kaperfahrer an? Urlaubsgeld und Sondergratifikation inklusive? – Ich glaube, ich bleibe lieber selbstständig.«

Sie grinste zurück. »Was nicht ist, kann ja noch werden. Denken Sie mal drüber nach.«

»Gibt die Sentenza auch ihre Steuerung auf?«

»Die Sentenza wird nicht landen. Sie könnte das zwar, aber Piggot wird nicht dazu bereit sein, sie hier auf Sylvej am Boden zu haben. Dazu traut er den Derolianern dann doch nicht weit genug über den Weg. Er wird mit einem Shuttle runtergehen. Wir werden ihn am Raumhafen treffen.«