Zwei Tage hatte es ununterbrochen geschneit, aber gerade hat es aufgehört. Vor dem Küchenfenster ist die Welt in Stille versunken, eingebettet in tiefsten Winter. Die Reihenhausgärtchen sind dunkel, doch die Schwärze dringt trotzdem nicht ganz bis zum Haus vor, denn Karin hat kleine Laternen in den Apfelbaum gehängt und Teelichter darin angezündet. Auf den Zaunpfosten brennen kleine Windlichter.
Sie holt die Keramikschüssel mit dem Salat, die im Flur steht, wo es am kühlsten ist, ohne richtig kalt zu sein. Sie hat nichts Besonderes gekocht, einfach nur für einen ganz normalen Sonntagabend. Sie hebt den Deckel an und wirft einen prüfenden Blick auf den Fleischeintopf, der schon seit drei Stunden auf dem Herd steht und vor sich hin köchelt. Ein herrlicher Duft steigt aus dem Topf, und sie rührt einmal leicht um. Hinter der Glasscheibe des Ofens sieht man die Fächerkartoffeln in der Auflaufform. Sie sind an der Oberseite schön goldbraun gebacken und warten darauf, herausgeholt zu werden.
Der Flickenteppich ist faltig zusammengeknautscht vom Toben der Kinder. Karin zieht ihn im Vorübergehen glatt. Sie mag das bisschen Chaos, das sie jedes Mal stiften, wenn sie zu ihr kommen. Im Frühling, wenn es etwas wärmer geworden ist, werden sie wieder in den Skansen gehen, die ganze Familie. Sie werden sich die Bären anschauen, die gerade aus dem Winterschlaf aufgewacht sind, und die Bärenjungen, die noch ganz kleine weiche Pelzknäuel sind. Und danach gibt es Waffeln. Auch dieses Jahr wird wieder so ein Tag kommen.
Aus dem Wohnzimmer hört man die Stimmen der Familie. Karin stellt sich auf die Schwelle und schaut hinein. Hektor und Valdemar lümmeln auf dem Sofa, die Fernbedienung in der Hand, wie hypnotisiert von den kleinen Männchen, die eine Slalompiste hinunterschießen. Fredrika sitzt vor ihnen auf dem Boden. Das blonde Haar hat sie hochgesteckt, so dass ihr schmaler Nacken zu sehen ist. Sie sieht aus wie ein junges Mädchen, nicht wie die dreiunddreißigjährige Mutter zweier Kinder.
»Na, wie läuft’s?«, fragt Karin, einfach, um etwas zu sagen.
»Gut«, antwortet Valdemar, ohne den Blick vom Bildschirm loszureißen.
Ihre Enkel werden langsam groß, sie sind sechs und vier Jahre alt. Hektor ist hochgewachsen und schlaksig, er ist im Sommer einige Zentimeter in die Höhe geschossen. Seit er im Herbst seine Brille bekommen hat, sieht er noch älter aus. Valdemar ist immer noch das moppelige Nesthäkchen, das gerade mal das Kleinkindstadium verlassen hat. Mit einer Spielkonsole kann er trotzdem problemlos umgehen.
Sten sitzt in seinem Sessel, die Hand mit dem Glas ruht auf der Lehne – zu besonderen Anlässen gönnt er sich immer einen Gin Tonic vor dem Essen, aber nie mehr als einen. Christian sitzt auf dem Sofa. Keiner von ihnen macht mit, aber trotzdem verfolgen alle gespannt das Spiel. Sten macht Scherze mit den Kindern, und Christian johlt jedes Mal los, wenn etwas passiert.
»Essen ist gleich fertig«, sagt Karin.
Sten blickt auf und schaut sie an. Er lächelt ruhig, wie immer, wenn er zufrieden im Kreise der Familie sitzt. Er hat Jeans und ein Jeanshemd an, eine von lauter ähnlichen Uniformen, die er seit den Siebzigerjahren trägt. Die Brille ragt aus seiner Brusttasche.
»Das riecht wirklich herrlich«, sagt er, im gleichen Tonfall wie immer.
Karin antwortet mit einem Lächeln, und Sten wendet sich wieder dem Bildschirm zu. Niemand nimmt mehr Notiz von ihr. Sie bleibt noch einen Augenblick wie ein fremder Zuschauer an der Tür stehen, dann verlässt sie das Wohnzimmer.
In der Küche zündet sie Kerzen an, die in einem schweren Messingkerzenständer auf dem Küchentisch stehen. Eine nach der anderen. Dann legt sie die Streichholzschachtel aufs Fensterbrett und genießt einfach einen Moment das weich gedämpfte Licht. Wenn Sten in die Küche kommt, wird er sagen, dass sie doch die Deckenlampe anmachen soll, weil er sonst nicht sieht, was er isst, und er wird sie darauf hinweisen, dass der elektrische Strom längst erfunden ist. Immer wieder dasselbe zu sagen scheint auch so eine Angewohnheit des Alters zu sein. Sie macht das selbst dauernd, und meistens ist ihr dabei vollauf bewusst, dass das auf andere lächerlich und ein bisschen nervig wirken muss. Ihre eigene Mutter war genauso. Aber diese Marotte hatte auch etwas Gemütliches an sich, obwohl sie nicht recht sagen könnte, warum.
Karin lässt den Blick über den Abendbrottisch schweifen. Sten hat schön eingedeckt. Sechs Teller stehen auf den gewebten Tischsets. Drei beziehungsweise zwei Gedecke an den Längsseiten und eines am Kopfende, wo sie selbst sitzen wird, damit sie leichter aufstehen kann, wenn sie noch etwas holen muss.
»Kann ich dir was helfen?«
Fredrika steht an der Küchentür. Ihre Haut sieht im sanften Licht der Kerzen ganz glatt aus, fast puppenhaft.
»Ja, Papa hat die Wasserkaraffe und die Gläser vergessen, kannst du die noch herbringen?«
»Schon die schönen Gläser, oder?«
»Natürlich.«
Fredrika weiß sehr gut, welche Gläser sie beim Sonntagsessen immer benutzen. Karin wirft einen Seitenblick auf ihre Tochter, während sie die Trittleiter hervorzieht, damit sie die Gläser aus dem höchsten Fach in der Küchenvitrine holen kann. Sie wirkt heute Abend ein bisschen abwesend. Vielleicht hat sie im Job viel um die Ohren, das ist oft so. Vielleicht stört es sie auch, dass die Kinder Computer spielen. Fredrikas Einstellung dazu war von Anfang an negativ. Christian hatte das unselige Ding eines Tages aus einem Karton gezaubert, er war in der Stadt gewesen und hatte beim Schlussverkauf spontan zugeschlagen. Die Kinder waren natürlich glücklich, aber Fredrika findet, dass sie sowieso schon viel zu viel Zeit vor irgendwelchen Bildschirmen verbringen. Erst recht, wenn sie ihren Opa und ihre Oma besuchen, außerdem haben sie sowieso Spielzeug bis zum Abwinken.
Fredrika holt die dünnwandigen Gläser heraus, erst drei, dann noch mal drei, und stellt sie neben die Teller. Sie bewegt sich geschmeidig und mit kerzengeradem Rücken, wie eine Balletttänzerin, und deckt den Tisch mit präzisen Bewegungen. Sie holt die Glaskaraffe aus der Küche, im Wasser klirren die Eiswürfel.
»Und Servietten?«, fragt sie.
»Kannst du aus der untersten Schublade nehmen.«
Fredrika weiß selbstverständlich selbst, wo die Servietten liegen, aber sie kommentiert es nicht, tut nur, worum Karin sie bittet. Dann hält sie auf einmal inne, den weißen Serviettenstapel in der einen Hand, Salzstreuer und Pfeffermühle in der anderen. Sie wirkt total abwesend.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Fredrika legt die Servietten auf den Tisch und stellt Salz und Pfeffer in die Mitte. Nebenbei klaubt sie überflüssigerweise ein paar verwelkte Blätter aus einem Blumentopf. Als müsse sie sich dringend beschäftigen.
Karin stellt den Brotkorb auf den Tisch. Die Fächerkartoffeln sind fertig, und sie macht den Backofen auf, um die Form herauszuholen.
»Hier ist es ja stockfinster. Sind wir hier noch im 18. Jahrhundert?«
Lachend stellt Sten sein leeres Glas auf die Spüle. Dann drückt er auf den Lichtschalter, und die Deckenlampe geht an. Sofort verändert sich die ganze Atmosphäre. Er geht zu Karin und tätschelt ihr die Wange. Als er die Hand kurz auf ihrem Gesicht liegen lässt, legt sie ihre darauf. Hält seine Hand ein paar Sekunden fest, bevor sie beide loslassen und sich anlächeln.
»Musst du die Küche immer in einen OP verwandeln?«, fragt Fredrika.
»Es kommt doch nicht auf die Beleuchtung an, oder? Die Gesellschaft macht’s doch.«
Sten versucht, gekränkt dreinzuschauen, aber man sieht die Wärme in seinem Gesicht, als er Fredrika ansieht. Sie antwortet mit einer lustigen Grimasse.
»So, bitte«, sagt Karin. »Setzt euch.«
Sie schaut genau hin, um zu erkennen, ob noch irgendetwas von Fredrikas Nachdenklichkeit zu bemerken ist, die ihr vorhin aufgefallen ist. Schwer zu sagen. Fredrika hat sich abgewandt und ordnet die Tulpen so, dass kein Stängel mehr herunterhängt. Nun sieht sie schon wieder aus wie immer, oder?
Karin hebt den Topfdeckel an. Sie rührt langsam um, fischt mit dem Kochlöffel ein bisschen Soße und ein Stück Fleisch heraus. Das Fleisch ist so mürbe und saftig, dass es fast von selbst zerfällt.
»Kinder! Christian!«, ruft sie. »Essen!«
Christian erscheint an der Tür. Er geht zu Fredrika, doch sie entzieht sich seiner Umarmung, um die Folie von der Schüssel mit den Bohnen zu ziehen, Kristallsalz darüberzustreuen und sie auf den Tisch zu stellen. Nein, ihre bekümmerte Miene ist doch noch nicht verschwunden.
Die beiden Enkel krabbeln aufs Küchensofa. Karin trocknet hastig die Spüle ab – es ist doch immer hübscher, wenn die Küche sauber ist, wenn man sich zum Essen hinsetzt. Sie steckt ein paar gebrauchte Messer und Gabeln in den Korb in der Spülmaschine, mit den spitzen Enden nach unten, wie sie es immer macht.
Sten schaut zu, ohne sich hinzusetzen. Karin verzieht den Mund. Gleich wird er wieder sagen, dass sie das Besteck andersrum einordnen soll, damit es richtig sauber wird.
»Die spitzen Enden nach oben«, sagt er prompt. »Damit sie richtig sauber werden.«
»Ich tu sie aber lieber nach unten, dann kann man sich nicht dran wehtun«, erwidert Karin, wie immer.
Er bleibt noch kurz stehen und deutet mit einem Nicken auf die Spülmaschine, halb im Scherz, halb im Ernst. Karin seufzt leise. Er ist zwar im Unrecht, aber sie dreht das Besteck trotzdem um. Hektor und Valdemar sind ja schon so groß, es ist auch egal. Sten kann seinen Willen haben. Wie immer.
»So, dann wollen wir mal essen«, sagt Sten und wendet sich zum Esstisch. »Wie war denn eure Woche? Also, ich kann euch erzählen …«
Da verstummt er. Im ersten Moment hält Karin es für eine Kunstpause. Doch die Pause dehnt sich zu lang, und sie schaut ihn fragend an.
»Ja?«
Es kommt keine Fortsetzung. Sten ist kreidebleich, seine Augen sind seltsam starr. Er tastet nach Karins Schulter, dann geben die Beine unter ihm nach. Sie versucht, ihn aufzufangen, doch sie ist nicht stark genug, sie kann bloß noch verhindern, dass er mit dem Hinterkopf allzu hart auf den Boden aufkommt, es gibt nur ein dumpfes Geräusch. Dann bleibt er mit offenen Augen auf dem Rücken liegen und blinzelt ein paarmal, ohne etwas zu sagen.
»Sten!«
Karin kniet sich neben ihn und versucht, Augenkontakt mit ihm aufzunehmen, schüttelt ihn leicht an der Schulter. Er antwortet nicht, schließt nur die Augen. Und jetzt sieht sie auch ganz deutlich, dass sein Gesicht auf einer Seite ganz schief und schlaff ist.
Hinter sich und rundherum hört sie Rufe und Schreie, Bewegung überall, Stuhlbeine scharren über den Boden, die anderen stürzen auf sie zu, doch Karin sieht nur ihn. Sie macht ihm den obersten Hemdknopf auf, er ist schwer zu öffnen, und sie muss sich anstrengen, bis er nachgibt, dann tätschelt sie ihm leicht die Wange.
»Sten!«, sagt sie noch einmal, lauter und energischer.
Aber er bleibt einfach leblos auf dem Boden liegen. Karin könnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er eigentlich noch atmet.
»Sten!«
Sie schüttelt ihn noch einmal, aber keine Reaktion. Die Kälte steigt in ihr auf, breitet sich durch alle Glieder aus, und irgendwo in weiter Ferne hört sie Fredrika rufen, dass der Notarzt schon unterwegs ist.