Über dieses Buch
Annas ruhiges Leben ändert sich schlagartig als eine neue Familie in ihr Nachbarhaus zieht. Nur zwei Tage dauert es, bis sie merkt, dass nebenan etwas schiefläuft. Sie hört die fünfjährige Charlie weinen, dann entdeckt sie Verletzungen an dem kleinen Mädchen, die sie nicht ignorieren kann. Anna informiert die Polizei, doch nichts passiert. Eines Tages steht Charlie vor ihrer Tür und bittet sie um Hilfe. Anna findet auf die Schnelle nur eine Lösung: das Mädchen zu packen und so weit wie möglich wegzulaufen. Sie flieht mit ihr in eine abgelegene Hütte in einem Regenwaldtal. Erst später wird ihr klar, dass es sich dabei um Kindesentführung handelt. Doch hatte sie eine Wahl?
Über die Autorin
Sarah Armstrong wurde in Australien geboren und studierte Journalismus. Danach arbeitete sie beim Radio und gewann den renommierten „Walkley Award“. Zusammen mit ihrem Mann, der ebenso Schriftsteller ist, unterrichtet sie Kreatives Schreiben. Die Autorin hat eine kleine Tochter und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Sydney. Nach Nachts schwimmen ist Davonfliegen Sarah Armstrongs zweiter Roman im Diana Verlag.
SARAH
ARMSTRONG
davon
flıegen
ROMAN
Aus dem Englischen
von Ute Brammertz
Von Sarah Armstrong sind im Diana Verlag erschienen:
Nachts schwimmen
Davonfliegen
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Copyright © 2016 by Sarah Armstrong
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Promise
bei Pan Macmillan Australia Pty Ltd, Sydney, New South Wales, Australia
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Anja Freckmann
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv: © Elisabeth Ansley/Trevillion Images und L. Kramer/shutterstock.com
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-20945-2
V001
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Für meine geliebte Mutter,
Marion Armstrong.
All die verlorenen Kinder gleiten wie Sterne
in ein mitternachtschwarzes Meer.
Catherine Bateson, The Vigilant Heart
1
es war nach Mitternacht, als der große weiße Lieferwagen nebenan in die Einfahrt bog. Anna stand in ihrer dunklen Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Scheinwerfer des Lieferwagens erhellten die Einfahrt, und die beiden Männer traten ins Licht. Einer war schlank und rasselte mit einem Schlüsselbund, der andere erinnerte an einen stiernackigen Rugbyspieler und stand breitbeinig da.
Prima, dachte Anna. Meine neuen Nachbarn sind Schlägertypen.
Sie blieb an der Spüle stehen und beobachtete, wie die Männer Stirnlampen aufsetzten und klappernd die Hecktüren des Lieferwagens öffneten. Sie arbeiteten schweigend und effizient, beförderten prall gefüllte Müllsäcke und Pappkartons durch das weit offen stehende Gittertor und den Gartenweg entlang. Der Rugbyspieler trug, den Weg seitwärts entlanglaufend, ganz allein eine große Matratze, sodass nur seine Beine und die wippende Matratze zu sehen waren.
Anna schüttete das restliche Wasser ins Spülbecken und trocknete sich die Hände ab. Eine gute Nachbarin würde hinübergehen und ihre Hilfe anbieten, selbst wenn es verdammt noch mal mitten in der Nacht war. Eine gute Nachbarin wie ihre Mutter würde ein paar Kartons tragen und zeigen, dass sie von der freundlichen, anpackenden Sorte war, jemand, der Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilte.
Das Nachbarhaus hatte zwei Monate lang leer gestanden, und es hatte Anna überrascht, wie beunruhigend sie die Stille gefunden hatte. Jetzt erkannte sie, wie tröstlich die Geräusche der herumwerkelnden Helen gewesen waren. Die beiden Häuser hatten dünne Holzwände und waren erbärmlich isoliert, sodass Anna immer gehört hatte, wie Helen von einem Zimmer ins andere gegangen war. Sie hatte gewusst, dass jemand in der Nähe war und ein geschäftiges, zufriedenes Leben führte, ohne jedoch ständig Umgang mit ihrer Nachbarin pflegen zu müssen. Sie hatten einander über den Zaun zugewinkt und ein paar freundliche Worte gewechselt, und etwa einmal im Monat hatten sie sich bei einer Tasse Tee zusammengesetzt. Anna hätte sich kein besseres nachbarschaftliches Miteinander wünschen können.
Im Dunkeln ging sie um den Küchentisch. Sie war froh, dass nebenan wieder jemand wohnen würde, aber vermutlich hätte sie sich nicht gerade diese beiden Kerle ausgesucht.
Eine Männerstimme drang laut durch das offene Fenster. »Du musst bloß Köder auslegen. Das wird ihnen in ein paar Tagen den Garaus machen.«
Sie sah nach draußen. Wovon redete er? Von Mäusen? Kakerlaken?
Der schlanke Mann durchquerte das Scheinwerferlicht mit einem Getränkekühlschrank auf der Schulter, als handele es sich um eine leere Kiste. Auf halbem Weg zur Haustür drehte er sich zu Annas Haus, sodass der Strahl der Stirnlampe in ihre Richtung leuchtete. Sehen konnte er sie in der dunklen Küche doch nicht, oder?
»Na, wie wär’s denn mit selbst gebackenem Kuchen für die neuen Nachbarn?« Sein Tonfall war eigentlich freundlich, aber er stand da, als warte er auf eine Antwort, sein Körper vom Scheinwerferlicht angestrahlt, das Gesicht im Schatten des Kühlschranks. Mit glühenden Wangen trat sie vom Fenster zurück, und bis sie die Sprache wiedergefunden hatte, war er im Haus verschwunden, und sie vernahm Gelächter und das Schlagen von Türen.
Früher hatte sie angenommen, jeder habe einen gewissen Hang zum Voyeurismus, aber ihr Dad hatte ihr widersprochen. Er sagte, bei ihm sei das nur so, weil er wie alle Polizisten immer die Augen nach möglichem Ärger offen hielt. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Bruder Luke Samstagabend zum Chinesen gingen oder in den Veteranenverein, saß ihr Dad mit dem Rücken zur Wand und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Immer rausfinden, wo die Ausgänge sind«, erklärte er ihnen. »Ihr müsst wissen, wie ihr rauskommt, falls ihr schnell wegmüsst.«
Anna zerbrach sich eigentlich nie sonderlich den Kopf darüber, dass es Ärger geben könnte, und sie fand extra nicht heraus, wo sich die Ausgänge befanden. Aber andere Menschen im Bus oder in einem Café zu beobachten gab ihr das Gefühl, unsichtbar zu sein, eine Weile abzuschalten. Ein bisschen wie Fernsehen. Reality-TV.
Sie ging ins Bett und strampelte mit den Füßen die Decke von sich. Es war erst November, aber die Nächte waren bereits viel zu warm. Sie lauschte den Männern nebenan und dachte an das Abendessen morgen mit Daves Kindern. Eigentlich heute, denn es war nach Mitternacht. Sie war noch nicht bereit, sie kennenzulernen. Es war doch bestimmt noch zu früh. Anna fand die Vorstellung unerträglich, stundenlang seinen Kindern gegenüberzusitzen und Small Talk zu versuchen, während die Kinder Anna ausgiebig musterten, was ihr gutes Recht war. Die prüfenden Blicke von Kindern, besonders von Teenagern, waren ausgesprochen schwer zu ertragen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie als Teenager stillschweigend die Freunde ihres Dads analysiert hatte.
Endlich spürte sie, wie sie der Schlaf überkam, während die Männer nebenan immer noch in dem Lieferwagen herumschepperten.
Als sie aufwachte, war da Babygeschrei, ein dünnes Jammern, das von nebenan herüberwehte. Sie sah auf die Uhr – drei Uhr morgens – und stand auf, um zur Toilette zu gehen. Mit geschlossenen Augen tastete sie sich durch das dunkle Haus. Sich erfolgreich einen Weg um die Möbel zu bahnen war ein kleiner, lächerlicher Triumph, den sie sich gönnte.
Bei ihrer Rückkehr ins Schlafzimmer weinte das Baby immer noch. Wann war es gekommen? Sie stand am Fenster und sah im Schein der Straßenlaterne einen Karton auf dem Gartenweg und einen kaputten Plastikstuhl, der umgekippt vor den Eingangsstufen lag. Der Lieferwagen war verschwunden.
Leise Schritte bewegten sich durch das Nachbarhaus, und in Helens ehemaligem Nähzimmer ging Licht an. Jetzt das Zimmer des Babys, wo die Mutter es wiegte und tätschelte, ein weiches Köpfchen streichelte. Anna erinnerte sich, wie der Mann sie am Fenster bemerkt hatte, und stellte sich vor, ihnen als kleinen, freundlichen Scherz einen Kuchen vorbeizubringen – den Bananenkuchen mit der klebrigen Glasur, den ihre Mutter jeden Sonntag gebacken hatte und der dann die Woche über scheibenweise in ihren Lunchboxen landete. Als junges Mädchen hatte Anna die Beständigkeit ihres Zuhauses niemals infrage gestellt, seine Behaglichkeit und Vertrautheit. Sie war davon ausgegangen, dass es immer auf sie warten würde, dass es mühelos und ganz natürlich um sie vier gewachsen war. Nach dem Tod ihrer Mutter wurde ihr bewusst, dass es ihre Mutter gewesen war, die ihr Zuhause erschaffen hatte, und sie erkannte, wie leicht es zerstört werden konnte.
Sie kletterte ins Bett zurück und rollte sich auf die Seite, ein Ohr ins Kopfkissen gedrückt. Das Kind weinte immer noch.
2
als sie am Morgen aufwachte, war es fast noch dunkel. Sie wollte unbedingt wieder einschlafen, aber nebenan trampelten kleine Füße durch den Flur. Durchs Fenster sah sie, dass der Karton auf dem Gartenweg durchweicht war und sich allmählich auflöste, der Beton auf der Auffahrt war dunkel und nass. Den Regen hatte sie gar nicht gehört. Sie musste tiefer als angenommen geschlafen haben.
In der Küche schob sie die Hintertür auf und bückte sich zu dem Terrakottatopf auf der obersten Stufe. Endlich waren die Schnittlauchsamen aufgegangen. Ein Dutzend grüne Stängel lugte durch die Pflanzenerde, manche etwas gebeugt unter der Last des winzigen schwarzen Samens, der wie ein Hut an ihrer Spitze steckte.
Sie kochte eine Kanne Tee und setzte sich auf die Hintertreppe in die ersten Sonnenstrahlen. Zwei winzige graue Skinke huschten in das Beet zu ihren Füßen. Luke und sie hatten diese Tiere früher oft beobachtet. Eine Zeit lang war sie als Kind auf den Umstand fixiert gewesen, dass sie den Schwanz bei Gefahr abwerfen und sich einfach einen neuen wachsen lassen konnten. Einer der Skinke verharrte in einem Sonnenfleck, und Anna konnte den Puls an seinem Hals schlagen sehen.
Sie wollte wirklich, dass die Sache mit Dave funktionierte, und verstand nicht, warum er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie seine Kinder schon jetzt kennenlernte. Vielleicht um die Kinder zu beruhigen? Oder sich selbst? Doch sie wusste, dass es zu früh war. Dave und sie waren noch nicht lange genug zusammen, um es zu verkraften, falls seine Kinder sie nicht mochten. Ein ungutes Treffen könnte ihre Beziehung leicht zum Scheitern verurteilen.
Sie goss ihre Topfpflanzen – der Regen hatte nur den ersten Zentimeter Erde durchtränkt – und zupfte etwas Unkraut aus. Löwenzahnsamen waren durch den Garten geschwebt und hatten überall gekeimt.
Kurz nach sieben schwang Helens Hintertür krachend auf, und ein Kind – vielleicht vier Jahre alt – schoss die Hintertreppe hinunter, ließ sich auf das hohe Gras fallen und zerrte schreiend an den Beinen seiner grünen Hose. Anna wusste nicht zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.
Eine Frau erschien, jung und spindeldürr, in einem übergroßen weißen T-Shirt. Sie bückte sich langsam und hob ein gewaltiges Stück orangefarbenen Stoff vom Boden auf – vielleicht ein Laken oder ein Bettbezug – und trug es zur Wäscheleine, wo sie es mit Klammern befestigte.
Das Kind warf sich nach hinten ins Gras, und das Geschrei wurde immer lauter. Die Frau achtete nicht auf das Kind, sondern hängte weiter das Laken auf. Anna zwang sich, wegzusehen und ins Haus zu gehen. Sie steckte zwei Scheiben in den Toaster und schnitt eine Avocado auf. Sie würde sich einen Vorhang zulegen müssen oder einfach aufhören, in den Nachbargarten zu schauen. Wenigstens hatte das Kind zu schreien aufgehört.
»Hallo?«, erklang eine Stimme von draußen. Es war die junge Mutter. Sie sah über den Zaun und lächelte zu Anna hoch.
Anna trat nach draußen und war schon auf dem Weg die Treppe hinunter, als sie bemerkte, dass sie immer noch eine Avocadohälfte in der Hand hielt. Sie lächelte. »Hallo.«
Jetzt erkannte Anna, dass die Frau ein hübsches, herzförmiges Gesicht hatte. Doch ihre Haut war aschfahl. Ihre langen, dunklen Haare waren auf einer Seite mit einem Dutzend schief sitzender Haarklammern hochgesteckt.
»Willkommen in der Nachbarschaft«, sagte Anna. Zigarettenrauch stieg über den Zaun nach oben.
»Danke.« Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte zittrig. »Entschuldigen Sie, aber haben Sie vielleicht ein Glas Milch? Ich habe heute Vormittag kein Auto, und sie will unbedingt Milch haben.«
Das Kind saß mit gegrätschten Beinen im Gras und beobachtete die Frauen. Es hatte ungepflegte blonde Haare, die in alle Richtungen abstanden.
»Deshalb der Tobsuchtsanfall.« Die Stimme der Frau war hoch und ein wenig rau.
»Ja, natürlich. Einen Moment.«
Im Haus holte Anna die Milch in der Plastikflasche aus der Innenseite der Kühlschranktür. Sie war mehr als halb voll. Anna goss sich etwas davon für ihren Tee in eine Tasse ab und eilte dann die Treppe hinunter. Während sie die Flasche über den morschen Lattenzaun reichte, bereitete ihr dieser Akt der Hilfsbereitschaft ein wohliges Gefühl, auch wenn sie sich andererseits Sorgen machte, dass die Frau sich nun vielleicht ermuntert fühlen würde, ständig um Dinge zu bitten.
»Danke. So viel brauche ich aber gar nicht.« Die Frau lächelte weiter und zog an ihrer Zigarette. Die Vorstellung, dass in ihrem vogelhaften Körper ein Kind herangewachsen sein sollte, fand Anna unglaublich.
»Behalten Sie den Rest«, sagte Anna. »Ist schon gut.« Sie hörte, wie der Toast im Toaster hochsprang. Ihr blieb genau noch eine halbe Stunde, um sich fertig zu machen und zur Bushaltestelle zu kommen.
»Haben Sie sie gekannt?«, fragte die andere. »Die alte Frau, die gestorben ist?«
»Helen? Ja, habe ich.« Anna sah zu dem Kind, das sie immer noch beobachtete und Gras auszupfte. »Haben Sie auch noch ein Baby?«
Die Frau hustete. »Herrgott, nein.«
»Oh. Ich dachte, ich hätte nachts ein Baby gehört.«
»Nein, das war die da. Wie immer, verdammt noch mal.«
Das Mädchen erschien neben der Mutter und zerrte heftig an ihrem T-Shirt, sodass es der Frau von der mageren Schulter rutschte.
»Ich will fernsehen«, jammerte die Kleine.
»Warte doch!«, fuhr die Frau sie an und zog sich das T-Shirt wieder über die Schulter. Ihre schmalen Fingerspitzen waren bläulich verfärbt, als wäre ihr kalt.
»Hallo«, begrüßte Anna das kleine Mädchen. »Ich heiße Anna.«
Das Kind blickte aus hellen Augen starr empor, die abstehenden Ohren mit giftgrünen Steckern geschmückt. An den kurzen Haaren war unbeholfen herumgeschnippelt worden.
»Wie heißt du?«, erkundigte sich Anna.
Als das Mädchen nichts erwiderte, nahm die Mutter die Zigarette in die Hand, mit der sie die Milch hielt, und gab der Kleinen einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Sei doch nicht schüchtern.«
Die Worte der Mutter schienen nicht bis zu dem Mädchen durchzudringen, und Anna fragte sich schon, ob es ein wenig zurückgeblieben war. Die Stimme und das Weinen in der Nacht hatten sehr babyhaft geklungen. Doch da machte das Mädchen den Mund auf, und seine Stimme war klar.
»Ich heiße Charlie.« Ihr Blick war so direkt, dass Anna das Gefühl hatte, ebenso unverblümt gemustert zu werden, wie sie es selbst bei dem Mädchen und der Mutter getan hatte. Jegliches kindliche Gespräch, das Anna im Sinn gehabt hatte, war wie weggeblasen.
Das Mädchen streckte die Hand aus, um den alten, rauen Lattenzaun zwischen ihnen zu berühren. »Haben Sie einen Hund?«
»Nein. Jetzt nicht mehr. Früher schon, als ich noch klein war.« Anna stellte sich Splitter vor, die sich in weiche Haut bohrten. Fass den Zaun nicht an, wollte sie sagen. »Er hieß Buddy.«
»Was für ein Hund war er?« Die schmalen Schultern des Mädchens waren knallrot von zu viel Sonne und schälten sich.
»Eine Promenadenmischung«, erwiderte Anna. »Weißt du, eine Mischung aus verschiedenen Hunderassen. Er ist weggelaufen, als ich zehn war. Und ich habe ihn schrecklich vermisst.« Zu ihrem Entsetzen spürte sie einen Kloß im Hals. Sie sah kurz zu Boden und blinzelte Tränen zurück. Mist.
»Wir schaffen uns auf keinen Fall einen Hund an«, erklärte die Mutter. »Sie hat keinen blassen Schimmer, wie viel Arbeit die verdammten Drecksviecher machen.« Sie zog an ihrer Zigarette und drehte den Kopf, um den Rauch nach hinten zu blasen. Ihre Hand zitterte ein wenig, und Anna fragte sich, ob sie krank war. War sie deshalb so dünn? Oder konnten es Drogen sein? Was für Leute hatte Oliver da nebenan einquartiert?
Das Mädchen blickte zu Anna auf. »Buddy …«, sagte es, als spürte es, dass Anna mittlerweile ganz anderen Gedanken nachhing.
»Ja. Deine Mum hat recht. Hunde machen viel Arbeit. Ich musste jeden Tag mit Buddy Gassi gehen und seine Wasserschüssel reinigen …«
Das Mädchen blickte weg, in den Garten, und zupfte an der einen Schulter an den sich schälenden Hautfetzen. Anna konnte seine Gedanken erraten: dass Anna eine typische Erwachsene war und Partei für ihre Mutter ergriff.
Die Mutter sah Anna mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Das Mädchen drehte sich wieder zu ihr. »Nella hatte ihren Hund Percy.«
»Oh«, sagte Anna. »Wer ist Nella?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wirst du endlich mit dieser verfluchten Nella aufhören?«
Charlie marschierte zur Wäscheleine und verschwand hinter dem Laken, das ihre Mutter aufgehängt hatte.
»Tja, dann.« Lächelnd trat Anna einen Schritt zurück. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.« Jetzt würde ihr nicht genug Zeit zum Duschen bleiben. Warum um alles in der Welt verbrachte sie den halben Morgen auf der Hintertreppe?
»Was arbeiten Sie?«, fragte die Mutter.
»Ich bin Grafikdesignerin.«
»Oh. Schön. Dann waren Sie in der Schule wohl gut in Kunst?«
»Ja, genau.«
Das Mädchen zog an dem Laken. Eine Wäscheklammer fiel herunter.
»Und Sie gehen jeden Tag in die Arbeit, oder?«, fragte die Mutter.
Warum wollte sie das wissen? »Manchmal arbeite ich von zu Hause.«
»Ich heiße übrigens Gabby. Haben Sie zufälligerweise einen Rasensprenger, Anna?«
»Nein. Ich habe eigentlich keinen Rasen.« In der Mitte von Annas Garten befand sich ein großes Quadrat aus rissigem Beton, und Anna hatte jeden Zentimeter Erde außen herum bepflanzt. »Aber Helen hatte einen Sprenger. Schauen Sie mal beim Wasserhahn nach.« Der gelbe Rasensprenger lugte neben der Schlauchtrommel hervor.
Gabby drehte sich um. »Oh. Richtig. Gut.«
Helen hatte den Sprenger fast nie benutzt. Sie hatte alles per Hand gegossen, einschließlich des Rasens, der seit Helens Tod nicht mehr gemäht worden war.
»Vielen Dank.« Gabby hob die Milchflasche zum Gruß und drehte sich zum Haus um. Das Mädchen ging durch das Gras auf seine Mutter zu, immer einen Fuß direkt vor den anderen setzend, als balanciere es auf einem Seil. Die zu kurze grüne Hose rutschte ihm vom Hintern.
Anna fragte sich, was die beiden den ganzen Tag machen würden. Fernsehen? Auspacken? In Helens Haus herumwandern? Versuchen, sich dort einzuleben, und sich dabei immer wieder die Frage stellen, in welchem Zimmer Helen gestorben war?
Ein paar Blüten von Helens Rosen waren ideal zum Pflücken, ihre großen roten, samtigen Knospen öffneten sich gerade. Die zwei Monate, die das Haus nach Helens Tod leer gestanden hatte, war Anna jeden Abend vorne durchs Gartentor gegangen, um den Garten zu gießen. Es war ein wenig merkwürdig gewesen, uneingeladen auf die andere Seite des Zauns zu treten, aber sie konnte Helens Rosen nicht eingehen lassen.
Anna war auf dem Weg zur Bushaltestelle, Rucksack auf dem Rücken, als Dave anrief.
»Hallo«, sagte sie. »Ich wollte dich anrufen, sobald ich in der Arbeit bin.«
»Ich habe gleich eine Sitzung und bin dann den ganzen Tag lang bei Gericht.« Am Telefon war seine Stimme würdevoller als gewöhnlich. »Ich wollte dir nur kurz sagen, dass die Kinder sich endlich für ein Restaurant für heute Abend entschieden haben.« Er telefonierte im Gehen. »Such das Blue Monkey in Randwick raus. Leider ist es ein Thailänder.«
Ein Flugzeug im Landeanflug donnerte über sie hinweg. Sie wartete, bis es vorüber war.
»Weißt du … eigentlich finde ich, dass es besser wäre, wenn ich nicht käme. Ich halte es für zu früh, sie kennenzulernen.«
Er schwieg. Durch sein Handy erklang ein Ping. Ein Aufzug.
»Es wäre besser, wenn wir erst einmal länger zusammen wären«, sagte sie. »Damit sie spüren, wie fest das mit uns ist.«
Sie bog um die Ecke und lief über die Straße. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie den Bus verpassen.
Er seufzte. »Okay, okay. Also … es hört sich an, als hättest du nicht das Gefühl, dass das mit uns was sonderlich Festes ist.«
»Na ja, es ist so fest, wie es nach sechs oder wie lange ist es … sieben Wochen … eben sein kann …« Sie fragte sich besorgt, ob er sich nicht unrealistische Vorstellungen von ihrer Beziehung machte. Was seltsam war angesichts der Tatsache, dass er den ganzen Tag mit dem Rechtswesen, mit Beweisführung und rationalem Denken zu tun hatte.
In der Ferne sah sie ihren Bus und lief schneller. Dann blieb sie stehen. Sie konnte dieses Gespräch nicht führen, während sie im 310er stadteinwärts fuhr. »Ich bin mir nicht sicher, ob deine Kinder überhaupt so wild darauf sind, mich kennenzulernen.«
»Okay, ganz wie du willst«, sagte er. »Aber lass es meine Sorge sein, ob meine Kinder dich kennenlernen wollen oder nicht.«
Sie spürte, wie sich eine Kluft zwischen ihnen auftat. Da war es wieder, dieses leichte Zaudern, das sie schon früher empfunden hatte.
Mist. Single zu sein war so viel einfacher. »Es fühlt sich an, als würden wir auf etwas Festes zusteuern …«, sagte sie.
Dieses ganze Gerede über Abstufungen von fest war verrückt. Was zum Teufel bedeutete fest überhaupt? Sie sah zu, wie ihr Bus an der Haltestelle hielt.
»Sieh mal, ich bin glücklich, Dave. Ich bin echt glücklich, was uns betrifft. Wir stehen nur erst am Anfang, das ist alles.« Sie wollte, dass die Sache mit Dave funktionierte. Seit Ben hatte sie nicht mehr so empfunden, was noch ein Grund mehr war, die Sache nicht zu vermasseln, indem man die Dinge überstürzte. »Es eilt doch nicht, oder?«
»Nein, es eilt nicht«, antwortete er. »Alles bestens. Mach dir keine Sorgen.« Seine Fröhlichkeit klang aufgesetzt. »Schönen Tag noch«, fügte er hinzu. »Wir reden später. Ich muss wirklich los. Meine Sitzung fängt gleich an.«
Sie legte auf und ging langsam zur Bushaltestelle. Ihr war ein wenig übel. Hatte sie die Sache gerade eben in den Sand gesetzt? Vor dem Halal-Metzger ließ sie sich auf die Bank sinken und suchte in ihrer Tasche nach einer Haarspange. Während sie sich die Haare zu einem unordentlichen Dutt hochsteckte, stellte sie sich vor, wie sie von oben aussah: eine siebenunddreißigjährige Frau, die still dasaß und auf den nächsten Bus wartete; um die Ecke ihr heruntergekommenes Haus, in dem sie zur Miete wohnte; in Redfern ein ordentlicher Schreibtisch, der auf sie wartete und auf dem sich die Arbeit stapelte. Eine kinderlose Frau, die – jedenfalls allem Anschein nach – wahrscheinlich auch nie welche haben würde. Eine Frau, deren größtes Vergnügen darin bestand, aus Ablegern und billigen Pflanzen aus dem Baumarkt einen Garten heranzuziehen.
Ihr fehlte jeglicher Ehrgeiz. Das wusste Anna über sich, und sie wusste, dass manche Leute es als Makel erachteten.
Dieses Leben jetzt ist der Rest meines Lebens, dachte sie. Mit zwanzig war noch alles möglich gewesen, aber davon abgesehen hatte sie damals fest geglaubt, eines Tages Mutter zu werden. Selbst mit dreißig hatte sie Hunderte unterschiedlicher Pfade gespürt, denen ihr Leben folgen könnte. Jetzt ging sie davon aus, dass ihr Leben – mehr oder weniger – so wie jetzt weiterverlaufen würde. Vielleicht würde sie immer am Anfang oder Ende einer Beziehung stehen. Trotzdem war es doch ein gutes, simples Leben. Gewiss doch.
Sie kam zu spät zur Arbeit und widmete sich gleich einem Telefonat mit einer neuen Kundin, Vita, einer Wellness-Bloggerin. Statt sich Notizen zu machen, stellte Anna fest, dass sie Schnittlauch zeichnete, die schlanken Stängel und die kleinen, vollgepackten Knospen, die, wie sie wusste, kommen würden. Anna gab zustimmende Geräusche von sich, während Vita immer weiter davon redete, wie sauber und frisch das Design werden müsse, und Anna warf einen Blick auf ihr Handy für den Fall, dass da eine Nachricht von Dave war. Nichts.
Als sie bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, war die Luft immer noch mild. Das Mädchen lief hinten im Garten herum und hüpfte über den Sprenger, während ihm das T-Shirt an Bauch und Rücken klebte. Charlie rutschte über das lange Gras und trampelte auf einem Stapel dunkler, nasser Pappkartons herum. Die Plastikmilchflasche stand auf dem Gartenweg, immer noch halb voll. Annas Herz zuckte beim Anblick roter Flecken im Gras zusammen, dann sah sie, dass es sich um Rosenblütenblätter handelte. Helens Rosenblüten waren alle abgerissen worden und lagen achtlos im Garten verstreut.
3
nachdem Anna die Nachrichten angeschaut hatte, bereitete sie einen Hühnchensalat zu und goss sich ein Glas Wein ein. Sie stellte sich Dave mit seinen Kindern im Restaurant vor. Sie hatte Fotos von den elfjährigen Zwillingen gesehen, ein Mädchen und ein Junge, beide weißblond wie ihre Mutter. Er hatte einmal bei einem Strandspaziergang am Bondi Beach auf seine Exfrau gedeutet, die dort am Wasser entlanggejoggt war. Aus der Ferne hatte sie in ihrer schwarzen Sportkleidung ernst ausgesehen und auf eine knochige Art schön. Anna mischte das Dressing in den Salat und überlegte, dass sie einfach zu dem verfluchten Abendessen hätte gehen sollen. Vielleicht hätte sie ihre Sache ja gut gemacht, und die beiden Teenager hätten sie herzlich und witzig gefunden. Als sie sich auf das Sofa vor dem Fernseher sinken ließ, klopfte es leise an der Hintertür.
Auf der obersten Stufe stand das Nachbarskind in einem rosafarbenen Schlafanzug mit kurzer Hose. Als Anna die Glastür aufschob, schenkte das Mädchen ihr ein schmales, angespanntes Lächeln.
»Charlie!« Der Garten hinter dem Mädchen lag vollständig im Dunkeln. Es musste über den Zaun geklettert oder durch das Tor hinten gekommen sein. »Komm rein.«
Das Mädchen trippelte auf Zehenspitzen barfuß über den Fußabtreter und stand auf dem Linoleumboden, die Arme dicht an die Seiten gepresst, die dünnen Schultern ein wenig hochgezogen.
»Alles in Ordnung?« Anna ging neben dem Kind in die Hocke. Charlies kleine Füße waren dreckig, und sie roch nach Zigarettenrauch. Mit einer Hand umklammerte sie eine kleine Plastikpuppe mit lilafarbenen Haaren.
»Ich habe Bunny verloren.« Sie sah Anna mit ihrem starren, beunruhigenden Blick an.
»Ist Bunny ein Spielzeug?«
Das Mädchen nickte.
»Wo ist deine Mummy?«
Sie antwortete nicht.
»Wer ist bei dir zu Hause?« Anna stellte sich Charlies Mutter vor, die vor dem Fernseher schlief, ohne zu ahnen, dass ihr Kind durch die Tür in die Nacht verschwunden war.
Charlie rieb mit einem Finger über die hölzerne Tischplatte. »Hast du Kekse? Ich hab Hunger.«
»Ja, sicher. Ich hole dir einen.« Anna stand auf. »Wer ist bei dir zu Hause?«
»Mummy ist weg, und ich kann Bunny nicht finden.« Ihre Unterlippe bebte. »Kannst du ihn suchen?«
»Ich hole dir jetzt erst mal einen Keks.« Sie fand eine ungeöffnete Packung Iced Vovos, die ihr Vater bei seinem letzten Besuch mitgebracht hatte. Charlie nahm sich einen Keks und betrachtete ihn prüfend, bevor sie ein riesiges Stück abbiss. Kokosnussraspel fielen zu Boden. Sie kaute seelenruhig, den Blick unverwandt auf Anna gerichtet. Ihre kurzen Haarbüschel wiesen einen ähnlichen Farbton wie ihre Haut auf, was sie seltsam ausgewaschen aussehen ließ.
»Wo ist deine Mummy?«, fragte Anna erneut.
»Sie kommt bald nach Hause.«
»Und dein Daddy?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern, während es sich zwei weitere Kekse aus der Packung holte. »Hast du Dosenobst?«
»So was wie Pfirsiche aus der Dose, meinst du?«
Das Mädchen nickte, stetig kauend.
»Nein, tut mir leid. Habe ich nicht.«
»Das gibt’s immer bei Nella.«
»Lass uns mal sehen, ob wir deine Mummy finden können.« Ihr blieb im Grunde keine Wahl. Sie musste nach nebenan gehen. Anna hatte eine schreckliche Vision, die Mutter tot vorzufinden. Gabby war dünn genug, um ein Junkie zu sein. »Komm«, sagte sie zu Charlie und griff nach ihrem Handy.
»Was ist das?« Das Mädchen deutete zum Tisch und zu der Skizze von dem Schnittlauch, die Anna nach Hause mitgenommen hatte.
»Eine kleine Zeichnung von einer Pflanze, die ich draußen im Garten habe.« Sie nickte in Richtung des Gartens.
Das Mädchen berührte die Zeichnung mit dem Finger und folgte dann Anna zur Haustür. Anna schlüpfte in ihre Turnschuhe und trat nach draußen. Charlie blieb auf dem Gartenweg zurück, machte nur kleine Schritte. Anna wartete und streckte die Hand nach ihr aus. Charlie zögerte nicht. Die Hand des Mädchens fühlte sich in Annas staubig und unglaublich klein an, wie die einer Puppe.
Das Gartentor quietschte, und der Lichtsensor sprang an, als sie die Eingangsstufen hochstiegen. Anna hoffte, dass der Mann nicht da wäre. Seit der vergangenen Nacht hatte sie ihn weder gesehen noch gehört.
Anna klopfte an die Tür. »Halloooo?«, rief sie. »Hallo, Gabby, sind Sie da?«
Charlie stand reglos neben Anna. Um sie herum auf der Veranda lagen ein Haufen auseinandergefalteter Kartons und eine zusammengerollte Windel. Trug das Mädchen noch Windeln?
Anna spähte durchs Fenster. Im Schein des Fernsehers erblickte sie den Umriss eines Sessels, und in den Flur fiel ein schwacher Lichtschein aus dem Zimmer, das wohl Charlie gehörte.
Anna wollte wirklich nicht hineingehen. Doch was, wenn die Mutter dort drinnen war und es ihr nicht gut ging? Wenn sie womöglich eine Überdosis erwischt hatte? Anna war flau im Magen, als sie versuchte, den Türknauf zu drehen. Es war abgesperrt.
»Durch welche Tür bist du rausgekommen?«
»Hintertür.«
»Okay. Gehen wir nach hinten.«
Die Hintertür stand sperrangelweit offen. Am Fuß der Treppe hielt Anna inne. Der Flur war dunkel, abgesehen von dem flimmernden Schein des Fernsehers und dem Licht, das aus dem Zimmer des Mädchens fiel. Sie erklomm die Stufen, blieb im Türrahmen stehen und beugte sich vor.
»Hallo? Gabby? Ich bin’s, Anna von nebenan. Ich habe Charlie bei mir.«
Widerwillig trat Anna in den halbdunklen Flur.
»Hallo?«, rief sie erneut. Sie tastete nach dem Lichtschalter und legte sich etwas zurecht, falls der Mann erscheinen sollte: Ihre Tochter hat bei mir geklopft. Ich habe mir Sorgen gemacht. Was ist los?
In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr im Spülbecken, und auf Helens altem Resopaltisch befanden sich zwei prall gefüllte schwarze Müllsäcke. Anna durchquerte den Flur, Charlie im Schlepptau. Der Teppich unter ihren Füßen war eigenartig weich. Sie gingen an Charlies Zimmer vorbei, wo sich auf dem Boden eine Matratze und überall verstreute Kleidung befanden. Am Boden leuchtete ein rosafarbenes Nachtlicht.
Der riesige Fernseher im Wohnzimmer war lautlos gestellt, ein Dauerwerbesender lief. Anna warf einen Blick in Helens altes Schlafzimmer. Ihr Kleiderschrank und die Frisierkommode standen immer noch da, aber das Bett war verschwunden. Auf dem Boden lag eine Doppelmatratze, das Laken halb ab, sodass ein schmuddeliger Matratzenschoner hervorlugte.
Wo in aller Welt war Charlies Mutter? War sie bloß kurz weggegangen? War etwas Schreckliches passiert? Anna kämpfte die aufkeimende Angst in ihren Eingeweiden nieder. Sie erinnerte sich an die Geschichte von zwei Kleinkindern, die tagelang in ihrer Wohnung überlebt hatten, nachdem ihr alleinerziehender Vater kurz einkaufen gegangen und von einem Auto überfahren worden war.
»Wo ist dein Zimmer?«, fragte sie Charlie, obwohl sie es längst wusste.
Das Mädchen zog an Annas Hand. »Komm!«
In ihrem Zimmer kniete Charlie sich hin und grinste zu Anna hoch. »Das ist mein Elfenschloss.« Als Kind hätte Anna so ein Plastikschloss in knalligem Pink mit spitzen Türmen und dreieckigen Flaggen geliebt. »Mummy hat es mir geschenkt.«
»Wow!« Anna ließ sich auf die Knie sinken und berührte einen Turm. Ein süßlicher, synthetischer Geruch stieg ihr in die Nase. Konnte das Plastik parfümiert sein? Doch gewiss nicht. »Wie alt bist du, Charlie?«
Charlie drehte an einer kleinen Kurbel, um eine lilafarbene Zugbrücke herunterzulassen. »Fünf.«
»Aha.« Sie sah ein gutes Stück jünger als die fünfjährige Tochter von Annas Freundin Emily aus.
Charlie blickte auf. »Wie alt bist du?«
»Siebenunddreißig.«
Das Mädchen nickte nüchtern, je eine kleine Plastikprinzessin in den Händen. Mit einer deutete es über Annas Schulter. »Das ist dein Fenster.«
Anna drehte sich um. Durch Charlies Fenster erblickte sie ihre eigene Küche, mit dem neuen Papierlampenschirm und einer blauen Flasche auf dem Fensterbrett. Ihr war nicht klar gewesen, wie gut man bei ihr hereinschauen konnte.
»Hast du mich da vorhin gesehen, wie ich mir etwas zu essen gekocht habe? Bist du deshalb rübergekommen?«
»Ich habe gesehen, wie du was Rotes gegessen hast.«
»Paprika.« Ein Auto fuhr die Straße herunter. Herrgott, Anna hoffte, dass nicht gleich Gabby oder der Mann nach Hause käme und sie hier vorfände. Was zum Teufel trieb sie im Haus fremder Leute?
Charlie legte die Prinzessinnen weg und hob ein paar Kleidungsstücke vom Boden auf. »Ich habe mich bettfertig gemacht.« Der Stimme nach war sie den Tränen nahe. »Und ich brauche Bunny.«
»Wie sieht Bunny denn aus?«
Das Mädchen sah zur Decke hoch. »Grau. Ein Hase.«
Anna hob die Steppdecke vom Bett, da schlug ihr der Ammoniakgeruch von Urin entgegen.
Es war ein gemeiner Gedanke, das wusste Anna, aber wenn das Zimmer des Mädchens auf der anderen Seite des Hauses läge und sein Fenster zu den anderen Nachbarn hinausginge, dann hätte sich das Mädchen dort Hilfe geholt – bei dem alten Ehepaar, das Anna manchmal sah, wenn es seine beiden kleinen Hunde ausführte –, und die beiden müssten jetzt mit dem Verschwinden der Mutter umgehen. Und wären zweifellos besser dazu geeignet.
Anna sah etwas Graues und Flauschiges unter einem pinkfarbenen Kleidungsstück hervorlugen. »Ist das Bunny?«
Charlie riss das Stofftier an sich und hielt es an die Brust gedrückt. Das Mädchen sah inmitten des Chaos aus Kleidung und Spielsachen schrecklich klein und zerbrechlich aus. Es betrachtete Anna mit einem starren Lächeln, und wieder regte sich Unruhe in Annas Brust.
Anna ließ ihre Stimme unbeschwert und fröhlich klingen. »Ich werde deiner Mummy eine Nachricht schreiben, damit sie weiß, dass du bei mir zu Hause bist. Okay?«
»Ohhhh …« Sie biss auf ihrer Lippe herum.
»Ja«, sagte Anna mit Nachdruck. »Ich lasse dich hier nicht allein zurück.«
Anna war zwar nicht gerade begeistert, in die Sache hineingezogen worden zu sein, aber sie war auch nicht verantwortungslos. Sie führte Charlie durch die Haustür nach draußen und kritzelte eine Nachricht auf Helens Notizblock, der sich immer noch im Zählerkasten befand. Dann klemmte sie den Zettel in die Wettertür.
Als sich Anna und Charlie auf ihrem Sofa niederließen, wurden dem Mädchen allmählich die Augen schwer. Es aß zwei weitere Kekse und eine Handvoll getrockneter Aprikosen. Der Stoffhase, der unter seinem Arm klemmte, roch nach Bier.
Anna saß neben der Kleinen, versuchte aber nicht, ein Gespräch anzufangen. Was sagte man zu einem Kind, dessen Eltern verschwunden waren? Falls die Mutter oder der Vater bis zum Morgen nicht auftauchten, würde Anna wohl bei der Polizei anrufen müssen. Kurz darauf schlief Charlie ein, eine halb aufgegessene Aprikose in der Hand.
Anna nahm Charlie die Aprikose ab und hob ihre Beine auf das Sofa. Herrgott, das Mädchen stank nach Zigarettenrauch! Das arme Kind. Und seine Beine waren mit blauen Flecken übersät. Was hatte es angestellt? Die kurze Schlafanzughose rutschte an seinem Oberschenkel hoch, und da sah Anna ihn: einen dunkelvioletten Kreis, nein, zwei Halbkreise, die fast miteinander verbunden waren. Zahnabdrücke und ein kleines Stück Schorf. Eine Bisswunde.
Anna fiel auf die Fersen zurück, das Blut pochte in ihren Ohren. War das ein Menschenbiss? Jemand oder etwas hatte das Mädchen so fest gebissen, dass es geblutet hatte. Sie biss sich leicht in den Unterarm und verglich den Abdruck mit dem auf Charlies Bein. Die beiden waren praktisch gleich groß.
Einen Moment presste sie die Finger fest auf ihre Augenlider. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dann holte sie eine Baumwolldecke aus dem Wäscheschrank und breitete sie über dem Mädchen aus. Es schien viel Zeit zu verstreichen, während sie auf dem Boden kniete, Charlies sich hebende und senkende Brust beobachtete und überlegte, ob es sich tatsächlich um einen menschlichen Biss handeln konnte.
In der fünften Klasse hatte Anna einen Jungen gebissen. Gordon Patterson hatte sie das ganze Schuljahr über gehänselt, und eines Tages, als er ihr eine Ohrfeige verpasste, packte sie seinen Arm und versenkte die Zähne darin. Es bestand kein Zweifel daran, dass Beißen brutal war. Ab einem gewissen Alter konnte es nicht mehr versehentlich passieren. Man musste sich entscheiden, jemanden zu beißen, und man musste eine Zeit lang zubeißen, bis jemand blutete.
Draußen schlug knallend eine Autotür zu, und Anna zog die Gardine beiseite. Ein Auto fuhr davon, und Gabby öffnete ihr Gartentor. Anna trat auf die Veranda. »Ich habe Charlie hier!«, rief sie.
Gabby war ganz in Schwarz gekleidet, die Haare zu einem festen Pferdeschwanz zurückgebunden. »Oh? Wie ist das denn passiert?«, fragte sie gedehnt.
Anna konnte ihr billiges Parfum aus mehreren Metern Entfernung riechen. Gabby ging zu dem niedrigen Lattenzaun zwischen ihnen. Sie wankte auf ihren Stöckelschuhen. War sie betrunken? Wie sehr wünschte Anna in diesem Moment, Helen würde immer noch nebenan wohnen.
»Sie hat bei mir geklopft.«
Gabby verzog das Gesicht und stöckelte auf ihren Stilettos den Weg hinauf. »Tut mir leid.« Die Druckluftbremsen eines Lasters dröhnten auf der nahen Hauptstraße. »Normalerweise klappt es gut, sie kurz allein zu lassen.«
Wer zum Teufel lässt eine Fünfjährige allein? Und wer zum Teufel hat sie gebissen? Gabby musste von dem Biss wissen. Es war einfach unmöglich, dass er ihr entgangen war. Und wenn es Gabby gewesen war, die sie gebissen hatte? Oh, was für ein Albtraum!
»Schläft sie?«, fragte Gabby. Ihre Augen waren dick mit Schwarz umrandet, was sie noch blasser als bei ihrer ersten Begegnung aussehen ließ.
»Ja.« Drei Teenager gingen laut lachend den Gehweg auf der anderen Straßenseite entlang.
Gabby kramte in ihrer kleinen Handtasche. »Scheiße«, stöhnte sie. »Sie haben keine Zigarette, oder?« Sie war definitiv bekifft.
»Nein.«
Gabby versuchte, die Tasche zu schließen. »Geben Sie sie mir einfach über den Zaun rüber.« Ihre Stimme war tonlos. »Oder soll ich reinkommen und sie holen?«
Die Atmosphäre zwischen ihnen war angespannt.
Anna drehte sich zum Haus um. »Ich hole sie.«
Charlie regte sich nicht, als Anna sie vom Sofa hochhob. Sie war warm, ihre Glieder hingen schlaff herab. Als Anna die Haustür erreichte, fuhr das Mädchen hoch und setzte sich in ihren Armen auf.
»Ist schon gut«, sagte Anna. »Ich bringe dich nur zu deiner Mummy. Sie ist zu Hause.«
»Okay«, flüsterte das Mädchen. Charlie hatte einen schlechten Atem, er roch nicht nur säuerlich, sondern ein wenig faulig. Anna stieg vorsichtig im Dunkeln die Treppe hinunter, Charlies Arme fest um den Hals. Sie ging nebenan durchs Gartentor und reichte Gabby das Mädchen. Charlie barg das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter.
»Danke«, sagte Gabby. Als sie sich von Anna wegdrehte, fuhr ein Auto vorbei und erleuchtete den bleichen Stamm des einzeln stehenden Gummibaums am Straßenrand. Es war ein trostloses, einsames Geräusch: ein Auto, das in die Nacht fuhr. Anna beobachtete, wie die Frau und das Kind im Haus verschwanden und die Tür hinter ihnen zuging.
Sie wachte um drei Uhr auf – die Stunde der Schlaflosigkeit –, lag im ersten Augenblick reglos da und lauschte angestrengt, falls es ein Geräusch von nebenan gewesen war, das sie geweckt hatte. Doch da war nur das Verkehrsbrummen der M1. Die Luft fühlte sich zäh an wie Brei. Die meisten Menschen starben gegen drei Uhr morgens, und sie konnte das gut nachvollziehen. Der Tag hatte seinen absoluten Tiefpunkt erreicht.
Ihre Mutter war um 3.30 Uhr gestorben, aber Anna hatte es erst im Morgengrauen erfahren, als ihr Dad sie geweckt hatte, indem er sich auf ihre Bettkante setzte. Anna war aufgefallen, dass er nach Pfefferminzzahnpasta gerochen hatte und angekleidet gewesen war.
»Mum ist nicht mehr bei uns«, hatte er gesagt.
Sie hatte sich halb aufgesetzt. »Wo ist sie denn dann?«
»Tot. Sie ist tot.«
Und Annas Kopf war angeschwollen, bis er das Zimmer zu füllen schien, während ihr das Blut in den Ohren gepocht hatte.
Sie ist tot.
Von dem Moment an war jahrelang alles um sie herum ein klein wenig aus dem Lot gewesen: die Form der Haustür, der Geruch ihres Zimmers. Selbst das Wasser schoss irgendwie falsch aus dem Hahn in der Küche hervor. Und sie wurde den Gedanken nicht los, dass Luke zehn Jahre mit ihrer Mutter gehabt hatte, während es bei Anna nur acht gewesen waren. Diese beiden zusätzlichen Jahre würde sie niemals bekommen.