Maya Banks

Im Herzen der Angst

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christian Trautmann

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Long Road Home

Copyright © 2007 by Maya Banks

Published by arrangement with Samhain Publishing Ltd.

Dieses Werk wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-384-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Für Fru. Ohne dich hätte es dieses Buch nie gegeben!

1. KAPITEL

Norwood, Colorado

Jules Trehan stieg aus ihrem gemieteten Jeep und schaute sich wachsam um. In der abgelegenen Hütte, in der sie seit einer Woche wohnte, war sie ungestört gewesen – bis jetzt. Doch sie gab sich keinerlei Illusionen hin, dass das noch lange andauern würde. Northstar würde sie finden. Es wurde Zeit zu verschwinden.

Sie warf die Wagentür zu und lehnte sich an das kalte Metall. Rings um sie herum spendete ihr die schroffe Schönheit der Berge ein kleines bisschen Trost, ohne den sie schon so lange hatte auskommen müssen. Traurigkeit überfiel sie, weil sie gezwungen war, bald weiterzuziehen, und löste einen unerbittlichen Schmerz in ihrer Brust aus.

Sie schloss die Augen und atmete tief die nach Kiefern duftende Luft ein. Hier in diesem ungezähmten Land war die Illusion von Freiheit sehr ausgeprägt. Dennoch war sie für Jules nicht mehr als ein Zaubertrick – erfreulich, allerdings nicht real.

Obwohl sie wusste, dass sie sich beeilen musste, gestattete sie sich einen weiteren Moment, die Schönheit des Himmels über Colorado zu genießen. Sie empfand einen Anflug von Bedauern, schließlich riss sie sich zusammen und konzentrierte sich auf das, was jetzt zählte. Überleben.

Entschlossen lief sie die Stufen zur Hütte hinauf, von der aus man einen Blick auf das Miramonte Reservoir hatte, und öffnete die Tür. Sie huschte hinein, in der Absicht, ihre paar Habseligkeiten einzusammeln und gleich aufzubrechen.

Da war nicht viel zum Packen. Sie warf ein paar Sachen zum Wechseln und einige Rationen Trockennahrung in eine Reisetasche. Sämtliche ihrer Waffen, mit Ausnahme der Pistole, die sie bei sich trug, waren sicher im Kofferraum ihres Jeeps verstaut. Der Rest ihrer Ausrüstung befand sich in einem Schließfach in Denver. Dort würde sie als Nächstes hinfahren und alles abholen. Danach würde sie irgendwo im Ausland untertauchen und ein neues Leben beginnen. Und wenn sie richtig Glück hatte, würde sie der Person entfliehen können, zu der sie geworden war.

Das Geräusch von knirschend über Kies rollenden Autoreifen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Fenster. Sie zog die Waffe aus dem Hosenbund am Rücken und durchquerte rasch das Wohnzimmer, um sich flach an die Wand neben dem Fenster zu pressen. Mit einem Finger schob sie den Vorhang ein Stückchen zur Seite und spähte hinaus. Eine helle Limousine, offenbar ein Mietwagen, hielt gerade neben ihrem Jeep.

Sie umklammerte das Griffstück ihrer Pistole und strich mit dem Finger über den Abzug. Adrenalin wurde durch ihre Adern gepumpt, während sie darauf wartete, dass die Leute ausstiegen. Und plötzlich hätte sie vor Schreck beinah die Waffe fallen lassen. Schmerz und so viel Sehnsucht erwachten urplötzlich in ihr. Wie hatten Mom und Pop sie finden können?

Hastig wich sie vom Fenster zurück und lehnte den Kopf gegen die Wand. Es war ein Trick. Es musste einer sein. Doppelgänger, die Northstar angeheuert hatte.

Auf den Stufen waren Schritte zu hören, und Jules schlich mit erhobener Pistole zur Tür. Sie atmete schnell und gepresst, da sie die drohenden Schluchzer unterdrückte.

Ein leises Klopfen durchdrang die Stille. „Jules?“ Auf der anderen Seite der massiven Holztür war die bebende Stimme ihrer Mutter zu hören.

Verdammt, wenn es nicht ihre Mom war, hatte jemand sehr gute Arbeit geleistet. Angst packte sie. War den Trehans etwas zugestoßen? Hatte Northstar seine Drohungen wahr gemacht?

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und richtete den Lauf der Waffe auf das ältere Paar. „Wer sind Sie?“, verlangte sie zu wissen. „Was wollen Sie?“

„Nimm das Ding da runter“, beschwerte Marshall Trehan sich. „Ist das vielleicht eine Art, uns nach drei Jahren zu begrüßen?“

Jules schob die Pistole wieder in den Hosenbund und machte die Tür ganz auf. Im nächsten Moment lag sie in den Armen ihrer Mutter.

„Jules, meine Güte, du bist es wirklich.“ Ihre Mom zog sie fest an sich.

Jules schloss die Augen und atmete den tröstenden Duft ihrer Mutter ein. Nach all der Zeit hatte sich an der Mischung aus Vanille und Butter nichts geändert.

„Hast du auch eine Umarmung für deinen alten Herrn?“

Sie ließ ihre Mom los und ließ sich nur allzu gern in die Arme ihres Dads sinken. Seine ansonsten stets kräftige Umarmung schien schwächer zu sein als früher, doch er roch noch immer nach Old-Spice-Aftershave. Er klopfte ihr auf den Rücken und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Du hast eine Menge zu erklären, Mädchen.“

Die Realität dämpfte rasch ihre Begeisterung. Sie löste sich von ihrem Vater und winkte ihre Eltern hinein. Als die beiden an ihr vorbeigingen, ließ sie den Blick prüfend über die nähere Umgebung wandern.

Ihr Handy vibrierte in ihrer Tasche. Erneut erwachte die Furcht. Northstar.

„Ich bin gleich wieder da, Pop. Macht es euch bequem.“

„Beeil dich. Du willst deine Mom schließlich nicht warten lassen“, meinte ihr Vater brummend.

Sie sperrte die Tür hinter sich zu und zerrte ihr Telefon aus der Tasche. „Was willst du?“ Während sie auf eine Antwort wartete, schritt sie auf ihren Jeep zu.

„Du kommst immer gleich zur Sache. Das bewundere ich an dir.“

„Solltest du auch mal probieren“, konterte sie.

„Genießt du den Besuch der Trehans?“

Sie erstarrte. „Steckst du dahinter?“

„Ich hätte gedacht, du würdest mir dankbar sein.“

Sie schwieg, allerdings arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren. Northstar tat nichts, was ihm nicht selbst unmittelbar nützte. Wenn er für den Besuch ihrer Eltern verantwortlich war, musste sie den Grund dafür herausfinden.

„Warum?“, fragte sie.

„Ganz einfach, Magalie. Ich will dich zurückhaben.“

„Mein Name ist Jules“, stieß sie hervor.

„Wie du dich nennst, ist völlig belanglos“, erwiderte er unbekümmert. „Ich will dich wieder reinbringen. Ich weiß, wo du bist. Deine erbärmlichen Versuche, dich zu verstecken, machen deiner Ausbildung nicht gerade Ehre. Ich habe dir eine kleine Auszeit gegönnt. Jetzt wird es Zeit zurückzukehren.“

„Nein.“

„Was?“

„Ich sagte Nein.“

„Ich hatte wirklich gehofft, du würdest das nicht sagen“, meinte er bedauernd. „Es ist eine Schande, dass die Trehans den ganzen Weg umsonst auf sich genommen haben.“

Sie ließ das Telefon fallen und rannte auf die Hütte zu. „Mom! Pop!“, schrie sie.

Sie hatte fast die Veranda erreicht, als die ganze Welt um sie herum explodierte. Ein Feuerball blendete sie, bevor sie von einer brutalen Kraft rückwärts durch die Luft geschleudert wurde.

Jules landete hart auf dem Boden, und Holzsplitter und Trümmerteile prasselten wie ein Hagelschauer auf sie nieder. Ihr ganzer Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen, und alles vor ihren Augen verschwamm. Über ihr drehte sich der Himmel.

Tränen liefen ihr über die Wangen. „Mom, Pop“, krächzte sie. Dann wurde alles schwarz.

2. KAPITEL

Montrose, Colorado

Manuel Ramirez stieg aus dem Flugzeug und hängte sich die Reisetasche über die Schulter. Er marschierte selbstbewusst an den Sicherheitskontrollen vorbei und nahm die Warteschlangen davor wahr. Die Reisesaison war in vollem Gang. Sein Partner hatte ein Auto besorgt, und er hoffte, zügig durchzukommen, um sich gleich auf den Weg machen zu können. Zu Jules.

Drei lange Jahre hatte er sie gesucht. Er hatte sämtliche Beziehungen spielen lassen und alles versucht, um herauszufinden, weshalb sie verschwunden war. Doch selbst seine Position bei der CIA hatte ihm nicht weiterhelfen können.

Dann war sie ebenso plötzlich wieder aufgetaucht. Er hatte alles stehen und liegen lassen und war nach Colorado geflogen, in der Hoffnung, dass sich die Spur nicht als weitere enttäuschende Sackgasse entpuppte.

Er holte die nötigen Papiere vom Mietwagenschalter ab und schritt nach draußen. Er konnte es kaum erwarten, die Fahrt nach Norwood anzutreten.

Bei der Vorstellung, Jules zum ersten Mal nach drei Jahren wiederzusehen, zog sich etwas in ihm zusammen. Ging es ihr gut? War sie verletzt? Tausend Fragen schwirrten in seinem Kopf herum.

Während zahlloser Missionen in den vergangenen Jahren hatten seine Gedanken in erster Linie ihr gegolten. Er hatte sich gefragt, ob sie hungrig war, verwundet, einsam, verängstigt, während er seine Pflichten mechanisch absolvierte.

Besuche zu Hause waren immer schwieriger geworden, da er den Trehans jedes Mal unter die Augen treten musste, ohne Antworten auf ihre Fragen zu haben. Mitzuerleben, wie sie immer verzweifelter wurden, weil sie befürchteten, ihre Adoptivtochter wäre tot, war unerträglich für ihn.

Wie würde Jules darauf reagieren, ihn wiederzusehen? Wenn sie sich in Norwood aufhielt, warum hatte sie ihn nicht angerufen? Schwebte sie in Gefahr?

Er holte tief Luft und setzte sich ans Steuer des Wagens. So viele Fragen und keine echten Antworten. Zumindest noch nicht.

Als er den Motor anließ, klingelte sein abhörsicheres Handy. Er klappte es auf und wusste gleich, dass es Tony war. „Rede“, forderte er ihn auf.

Zunächst folgte langes Schweigen. „Manuel.“

„Was ist?“

„Ich habe keine Ahnung, wie ich es sagen soll, Mann.“ Tony klang unendlich traurig. Sofort beschleunigte sich Manuels Puls. „Es geht um die Trehans.“

„Mom und Pop?“ Manuel entspannte sich wieder. „Haben sie sich gemeldet? Du hast ihnen nicht von Jules erzählt, oder? Ich will ihnen nicht unnötig Hoffnung machen, wenn es am Ende nur wieder ein weiterer Fehlschlag ist.“

„Manuel, sie waren da.“

„Wo?“, presste er verwirrt hervor.

Tony seufzte. „Sie sind zu Jules’ Hütte in Norwood gefahren. Ich habe keinen Schimmer, wie sie davon erfahren haben. Vielleicht hat Jules sie angerufen.“

„Nein, dann hätten sie mich informiert.“ Aber sie hatten ihn nicht darüber informiert, dass sie zu ihr fahren würden. Wieso nicht? Woher kannten sie ihren Aufenthaltsort?

„Manuel, das war noch nicht alles.“

Furcht packte ihn, während er darauf wartete, dass Tony weitersprach.

„Es gab eine Explosion. Die ganze Hütte flog in die Luft. Die Trehans befanden sich drinnen.“

„Was?“ Seine Atmung beschleunigte sich, Tränen stiegen ihm in die Augen, sodass seine Sicht verschwamm. Es konnte nicht wahr sein. Das musste ein Missverständnis sein. Dann schoss ihm ein anderer Gedanke, der drängender war als alles andere, durch den Kopf. „Und Jules?“ Er brachte kaum ihren Namen heraus. „Was ist mit Jules?“

„Sie lebt.“

Vor Erleichterung war er ganz benommen. Sie war alles, was er noch hatte. Er durfte sie nicht verlieren.

„Sie ist im Krankenhaus in Grand Junction. Man hat sie per Hubschrauber aus Norwood hingeflogen.“

„Wie schlimm ist es denn?“, erkundigte er sich besorgt.

„Keine Ahnung, Mann. Sie ist am Leben, das ist alles, was ich dir sagen kann. Du musst dich möglichst schnell auf den Weg nach Grand Junction machen. Ich haben keinen Schimmer, was da vor sich geht, aber ich versuche es von hier aus herauszufinden. Deine Freundin hat ein paar ziemlich üble Feinde, und sie ist nicht in Sicherheit. Sanderson und ich arbeiten an einer Verlegung, sobald ihr Zustand stabil ist.“

„Danke, Tony“, flüsterte er. „Richte dem Boss aus, dass ich seine Hilfe zu schätzen weiß.“

„Da ist noch etwas, Manny“, erklärte Tony und nannte ihn bei dem Spitznamen, den sonst nur Jules benutzte.

Manuel hörte, wie Tony am anderen Ende der Leitung in Unterlagen blätterte. Im Hintergrund nahm er eine weitere Stimme wahr. Sanderson?

Dann meldete sich Tony wieder. „In Jules’ Jeep befand sich ein beachtliches Waffenarsenal. Lauter Hightech-Zeug, nicht das übliche zur Selbstverteidigung, das der Durchschnittsbürger sich so zulegt. Hauptsächlich russische Fabrikate. Sanderson glaubt, dass dein Mädchen in ziemlichen Schwierigkeiten steckt.“

Manuel schloss die Augen und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. „Ich rufe dich an, sobald ich in Grand Junction bin.“ Er klappte sein Handy zu und sammelte sich. Seine Hände zitterten, während er langsam die Faust ballte.

Jules lebte, das freute ihn unendlich. Doch die Menschen, die ihm so viel bedeutenden, waren tot. Er war mit zehn Jahren in ihr Leben getreten. Ein wütender, trotziger kleiner Junge, dessen Mutter auftauchte und verschwand, wie es ihr gerade passte. Nachdem es bei ihm zu Hause unerträglich geworden war, hatte er Unterschlupf bei ihnen gesucht. Bei ihnen hatte er die einzige Normalität erfahren, die er in seinen jungen Jahren kannte.

Und jetzt waren sie tot. Höllische Qualen wühlten ihn auf, es fühlte sich an wie ein rot glühendes Messer in der Brust. Er umklammerte das Lenkrad und biss die Zähne zusammen. Wer auch immer Jules das angetan hatte – seiner Familie –, würde dafür bezahlen.

3. KAPITEL

Grand Junction, Colorado

Jules spürte schreckliche Schmerzen, und ihr erster Gedanke war, dass es unmöglich so wehtun konnte, wenn sie tot war. Vorsichtig hob sie die Lider und zuckte zusammen, geblendet von grellweißem Licht. Sofort schloss sie die Augen wieder.

Sie lag still und versuchte, ihre Situation einzuschätzen. Der sterile, Übelkeit auslösende Geruch verriet ihr, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Ihr Kopf hämmerte, ihre Brust brannte.

Ihre Nase fühlte sich trocken und rau an. Erst da begriff sie, dass der Sauerstoff, der ihr in gleichmäßigem Rhythmus in die Nasenlöcher geblasen wurde, dafür verantwortlich war. Sie versuchte erneut, die Augen zu öffnen, und kniff sie wegen der gleißenden Helligkeit zusammen.

Am Fußende des Bettes nahm sie verschwommen eine Gestalt wahr. Sie blinzelte mehrmals, was jedoch umgehend den Kopfschmerz verstärkte.

Sowie sie die Gestalt klarer sehen konnte, zog sich ihr Herz zusammen, und sie kriegte noch schlechter Luft als ohnehin schon. Manny. Obwohl er ihr den Rücken zugedreht hatte, erkannte sie ihn auf Anhieb. Sie schluckte hart, denn ihr Hals war wie zugeschnürt.

Er war groß. Viel größer als in ihrer Erinnerung. Sein Poloshirt spannte über den durchtrainierten Armen, und der Stoff der dunklen Buntfaltenhose schmiegte sich an seine muskulösen Oberschenkel. Mit seiner Ausstrahlung dominierte er den ganzen Raum. Und plötzlich überfiel sie Angst.

Erneut senkte sie die Lider, damit er nicht merkte, dass sie inzwischen wach war.

Er würde sie hassen für das, was sie getan hatte.

Mom und Pop. Himmel. Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle, die auf einmal noch stärker zugeschnürt schien. Sie atmete mehrmals tief durch die Nase ein und hoffte inständig, dass der Sauerstoff wirken würde.

Mittlerweile stand sie an der Schwelle zu ausgewachsener Panik. Sie hatte ihre Eltern umgebracht. Menschen, die Manny liebte. Es war geschehen, was sie sich geschworen hatte, niemals zuzulassen – ihretwegen war ihnen etwas zugestoßen.

Genau um das zu vermeiden, war sie drei lange Jahre fort gewesen. Und jetzt waren ihre schlimmsten Befürchtungen doch wahr geworden. Alles nur, weil sie sich Northstar widersetzt hatte. Sie hatte ihn herausgefordert – und verloren.

Wenn Manny das erfuhr, würde er sie verachten. Die Trehans waren alles für ihn. Wie sollte sie mit dem, was sie gemacht hatte, je fertig werden? Wie hatte sie jeden, den sie liebte, verletzen können?

Der Schmerz in ihrem Schädel flackerte von Neuem auf, und ihr wurde übel. Wie in einer Endlosschleife durchlebte sie immer wieder die Explosion. Sie hob erneut die Lider, damit die Bilder verschwanden.

Ehe sie es verhindern konnte, kam ihr ein heiseres Stöhnen über die Lippen.

Unvermittelt drehte sich Manuel um. In seinem Gesicht spiegelte sich die Sorge wider. „Jules!“ Er eilte zu ihr und berührte ihre Wange. „Hast du Schmerzen?“

Sie schloss die Augen wieder und verachtete sich für die Freude, die der Klang seiner sanften Stimme in ihr auslöste.

Mit seinem rauen Daumen streichelte er zärtlich ihr Gesicht. „Soll ich die Krankenschwester rufen?“

Wieder hob sie die Lider. „Nein“, krächzte sie. Sie schluckte und versuchte noch einmal zu sprechen. Einen langen Moment schaute sie in seine vertrauten grünen Augen. Liebe und Besorgnis, zwei Dinge, die sie beide nicht verdient hatte, sah sie in ihnen.

Er ging zum Krug neben dem Waschbecken und schenkte Wasser in einen Plastikbecher. Danach kehrte er zu ihr zurück und hielt ihr den Becher an den Mund. Dankbar trank sie die kühle Flüssigkeit, die Balsam war für ihren wunden Hals.

Nachdem sie fertig war, stellte er den Becher zur Seite und schob einen Stuhl an ihr Bett. Er setzte sich und nahm ihre schlaffe Hand in seine. Tröstende Wärme erfüllte sie, und sie entspannte sich.

Er hob ihre Hand an die Lippen und küsste sie. „Gott sei Dank, du lebst.“

Sie schluchzte auf und kämpfte schwer atmend um Selbstbeherrschung. Aber es war einfach zu viel. Ihr Mund öffnete sich, und ein einziger Klagelaut kam heraus. Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Es tut mir so schrecklich leid“, flüsterte sie und wiederholte die Worte noch einmal lauter: „So leid.“ Dann entzog sie ihm ihre Finger und biss sich auf die Knöchel.

„Was tut dir leid, Liebes?“ Er betrachtete sie fürsorglich und fasste erneut nach ihrer Hand. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Handfläche.

Jules holte tief Luft. „Mom, Pop“, flüsterte sie.

Sein Gesicht nahm einen zutiefst traurigen Ausdruck an. Er wandte den Blick kurz ab, als müsste er sich erst sammeln. Als er sie wieder anschaute, lag nur noch ein Schatten von Traurigkeit in seinen Augen. „Versuch jetzt nicht daran zu denken“, meinte er leise. „Du musst dich ausruhen und gesund werden, damit ich dich nach Hause bringen kann.“

Nach Hause. Bei diesen Worten verspürte sie einen brennenden Stich und eine Sehnsucht, die sich wie eine schwere Last auf sie legte. Ihr Zuhause war dort, wo Mom und Pop lebten. In dem Fachwerkhaus, in dem sie seit vierzig Jahren wohnten. Es war das einzige Heim, das sie je gekannt hatte. Bis vor drei Jahren.

Jetzt hatte sie kein Zuhause mehr. Auch keine Familie mehr. Manny war der Einzige, der ihr noch geblieben war, und er würde sterben, genau wie die Trehans, falls sie ihn in ihrer Nähe bleiben ließ.

Er streichelte ihre Wange und vertrieb die Qualen mit sanften Fingern. Was würde sie alles dafür geben, damit er ihre Probleme löste, wie er es so oft in ihrer Jugend getan hatte. Er war ihr Beschützer gewesen und immer zur Stelle, wenn sie stürzte. Aber jetzt war sie diejenige, die ihn beschützen musste.

Sie atmete tief seinen würzigen Duft ein, der ihr wenigstens für Sekunden Trost spendete. Er beugte sich vor, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr über die Haare. „Hast du Schmerzen, Liebes? Soll ich die Schwester rufen?“

Schmerzen. Alles tat ihr weh, und selbst das stärkste Betäubungsmittel konnte den Schmerz nicht lindern. Abgesehen davon konnte sie es sich nicht erlauben, benommen zu sein. Hier im Krankenhaus war sie eine leichte Beute für Northstar, und sowohl sie als auch Manny waren jetzt sein Ziel.

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Mir geht’s gut.“

Manuel erkannte, dass sie innerlich mit sich rang, und ihre offensichtlichen Qualen gingen ihm nahe. Ihre Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich, dem Himmel sei Dank, ihre Rippen allerdings waren arg geprellt.

Es kostete ihn Mühe, die Finger von ihr zu lassen. Er musste sie berühren, sie in den Armen halten. Es war schwer zu glauben, dass sie tatsächlich hier vor ihm lag, und zwar lebendig. In seinen dunkelsten Stunden hatte er gezweifelt und die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie tot war und nie mehr zurückkehren würde. Nun aber war sie hier. Verändert. Ganz anders als das Mädchen mit den großen strahlenden Augen, das vor drei Jahren nach Frankreich aufgebrochen war. Letztlich war sie aber immer noch die Gleiche. Welche Schrecken mochte sie durchlebt haben?

Er hielt seine Ungeduld im Zaum. Seine Fragen konnten auch später noch beantwortet werden. Für den Moment würde er sich mit der Freude darüber begnügen, dass sie zu ihm zurückgekommen war. Nun würde er für ihre Sicherheit sorgen. Er erhob sich und drückte ihre Hand. „Schlaf ein wenig, Liebes. Ich werde in der Nähe sein.“

Ihre Lider senkten sich bereits, während er in den Flur hinaustrat. Dort klappte er sein Handy auf und wählte Tonys Nummer.

„Wie geht es ihr?“, erkundigte Tony sich sofort, als er sich meldete.

Manuel seufzte. Wie sollte er diese Frage beantworten? Sie lebte, doch abgesehen davon vermochte er nicht einzuschätzen, wie es ihr insgesamt ging. „Sie kommt klar, denke ich.“

„Ich habe ihre Verlegung in ein Militärkrankenhaus in Bethesda arrangiert. Die nötigen Papiere werden gerade ausgestellt. Sie wird per Krankenwagen zum Flughafen transportiert. Ein Army-Hubschrauber wird sie zum Stützpunkt in Colorado Springs bringen. Von dort wird sie nach Maryland geflogen.“

„Danke, Tony. Ich schulde dir etwas.“

„Kein Problem. Selbst die Army wird nicht wissen, wer sie ist.“ Tony lachte in sich hinein.

„Hast du sonst noch etwas herausgefunden?“, fragte Manuel nach kurzem Zögern.

„Noch nicht, doch ich bin dran.“

Manuel beendete das Gespräch. Tony würde es schaffen. Es gab nicht viel, was er nicht in Erfahrung bringen konnte. Es hatte seine Vorteile, Computerexperte bei der CIA zu sein.

Er betrat Jules Zimmer, hielt sich jedoch still im Hintergrund und beobachtete sie im Schlaf. Ihr blasses Gesicht wirkte so verletzlich. Ein besitzergreifendes Gefühl überkam ihn mit überraschender Heftigkeit. Obwohl ihre Adoptiveltern eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatten, hegte er für Jules keineswegs geschwisterliche Gefühle. Sie waren nie Geschwister gewesen. Sie war sein, seit dem Tag, an dem er das kleine Mädchen in zerrissenen Sachen verlassen auf der Straße gefunden und zu den Trehans gebracht hatte. Nachdem sie nun zu ihm zurückgekehrt war, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit sie bei ihm bleiben konnte. Niemand würde sie jemals wieder trennen.

Rasch trat er wieder an ihr Bett und ließ sich auf den Stuhl neben dem Kopfende sinken. Zu seinem Erstaunen öffnete sie die Augen. Diese wunderschönen blauen Augen hatten ihn so lange in seinen Träumen verfolgt.

Sie lächelte schwach. „Wann kann ich hier raus?“

Er zog eine Braue hoch. „Du wirst in ein paar Stunden aufbrechen. Aber komm bloß nicht auf falsche Ideen. Ich lasse dich ins Militärhospital nach Maryland transportieren, wo ich besser auf dich aufpassen kann.“

Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Maryland?“, stieß sie heiser hervor.

„Das erkläre ich dir später, wenn es dir wieder besser geht“, sagte er mit beruhigender Stimme. Wie er ihr sein anderes Leben erklären wollte, wusste er allerdings selbst noch nicht.

„Wohnst du jetzt in Maryland?“

„Könnte man so sagen“, antwortete er vage.

„Ich habe keine Sachen zum Anziehen“, wandte sie ein. „Ich kann nirgendwohin.“

Er lächelte. „Kannst du mir was besorgen?“, bat sie und schaute ihn mit ihren saphirblauen Augen an. „Ich gebe dir das Geld zurück, ganz bestimmt.“

„Du meine Güte, Jules. Mach dir doch wegen des Geldes keine Gedanken.“ Er hielt inne. „Ich sollte dich nicht allein lassen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin sicher, deine Wachhunde werden verhindern, dass mir irgendetwas geschieht.“

Er sah sie verblüfft an. Wie hatte sie von den Wachen erfahren, die er postiert hatte? Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, das er gleich wieder verdrängte. Das hier war Jules, und sie wollte doch bloß etwas zum Anziehen. „Ich bin in knapp einer Stunde zurück. Und während ich weg bin, will ich, dass du schläfst.“

Sie nickte müde und sank tiefer in die Kissen. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann schritt er zur Tür. Er informierte die zwei Wachposten über seine Pläne und erteilte ihnen die strikte Anweisung, niemanden außer dem Arzt und der Krankenschwester in Jules’ Zimmer zu lassen.

Das ungute Gefühl blieb, während er die Klinik verließ. Es war keine besonders gute Idee, von Jules’ Seite zu weichen. An seinem Wagen angekommen, zögerte er, schaute zum Eingang und überlegte, ob er nicht besser zurückgehen sollte. Kleidung konnte er ihr auch später noch besorgen. Die war nicht wichtig. Nicht so wie ihre Sicherheit. Er klappte sein Handy auf und rief erneut Tony an.

„Was gibt’s?“, meldete der sich.

„Wie gut bist du darin, Kleidung für Frauen zu kaufen?“

Tony lachte. „Bisher hat sich noch niemand beschwert. Erwägst du etwa, deine Garderobe zu verändern?“

„Die Sachen sind nicht für mich, du Idiot. Sie sind für Jules. Sie möchte ein paar Klamotten haben, aber mir ist nicht wohl dabei, sie hier allein zu lassen.“

„Ich werde mich darum kümmern. Doch dafür schuldest du mir einen großen Gefallen, Kumpel. Wenn du etwas von Victoria’s Secret willst, bin ich genau der Richtige, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du für Jules Reizwäsche möchtest.“

Manuel verdrehte die Augen. „Besorg ihr einfach das Nötigste. Ich werde es bei dir wiedergutmachen.“

„Und ob du das wirst.“

Als Tony auflegte, grinste Manuel. Auch wenn er noch so viel protestierte, Tony würde alles für ihn tun. Allerdings galt das auch umgekehrt.

Nach diesem Telefonat fühlte Manuel sich schon besser und ging zurück ins Krankenhaus. Er legte kurz einen Stopp in der Cafeteria ein, wo er einen Becher Kaffee kaufte. Er hatte seit über vierundzwanzig Stunden keinen mehr gehabt, und das merkte er. Vorsichtig trank er einen Schluck und stieg in den Fahrstuhl. Der Kaffee war schrecklich und hatte die Konsistenz von Motoröl. Wenigstens war Koffein drin, und er roch auch nach Kaffee, deshalb beklagte Manuel sich nicht.

Als er Jules’ Tür erreichte, nickte er den Wachen zu und betrat leise das Zimmer. Als er sie neben dem Bett stehen sah, hätte er vor Schreck beinah den Styroporbecher fallen lassen. Noch schlimmer war, dass sie die Nasenkanüle herausgezogen hatte und sich gerade an ihrer Infusionsnadel zu schaffen machte. Sie war so in diese Aufgabe vertieft, dass sie ihn gar nicht gehört hatte.

Er stellte den Kaffee auf einen Stuhl neben der Tür. „Jules! Was, um alles in der Welt, tust du denn da?“ Er eilte zu ihr.

Sie schwankte bedenklich, als sie zu ihm herumwirbelte. Er hielt sie fest und schlang die Arme um sie, da sie ansonsten gestürzt wäre. Angesichts des Körperkontakts verzog sie das Gesicht.

„Ich muss hier raus!“, erklärte sie verzweifelt.

Er drückte sie sanft an seine Brust und spürte, wie ihr Herz hämmerte. Es war so lange her, dass er sie in den Armen gehalten hatte. Behutsam nahm er sie hoch und ließ sie aufs Bett gleiten. Sie schien kaum etwas zu wiegen, so dünn war sie inzwischen geworden. Viel zu dünn.

Manuel hielt ihren Arm in die Höhe, um die Infusionsnadel zu überprüfen. Zufrieden, dass sie noch fest saß, hob er die Plastikschläuche über ihren Kopf und schob die Kanüle wieder an ihren Platz. „Du gehst nirgendwohin.“

Ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Er las die Angst in ihren Augen, und das machte ihn wütend. Wovor fürchtete sie sich so? Wer hatte ihr das angetan? Wer hatte Mom und Pop das angetan?

Er setzte sich neben sie auf die Matratze und blickte sie streng an. „Und jetzt verrate mir doch mal, wohin du so eilig wolltest.“

„Ich bin hier nicht sicher … und du auch nicht.“

Neugierig musterte er sie. Eigentlich war es nicht seine Absicht gewesen, sie so schnell mit Fragen zu bombardieren. Aber wenn er es jetzt nicht machte, erhielt er vielleicht keine weitere Gelegenheit mehr.

„Wo hast du nur gesteckt, Liebes?“, fragte er also mit sanfter Stimme. „Was ist vor drei Jahren geschehen?“

4. KAPITEL

Jules sah Manuel an. Seine besorgte Miene ließ sie beinah schwach werden. Seine Empfindungen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Die Sorge, der Kummer. Für all das war sie verantwortlich.

Sie schloss die Augen und wandte sich ab. Als Feigling hatte sie sich nie betrachtet, schließlich hatte sie dem Tod oft genug ins Auge geschaut. Aber sie ertrug es nicht, Manuel noch länger anzusehen.

„War es so schlimm?“, fragte er mit seltsam banger Stimme.

„Bitte, ich will nicht darüber sprechen“, flüsterte sie.

Er stieß frustriert den Atem aus, was er stets tat, wenn er aufgebracht war. Jules musste ein spontanes Lächeln unterdrücken.

„Es tut mir leid, Manny“, erwiderte sie und bemühte sich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Ihn zu sehen, ihn berühren zu können, falls sie es wollte, danach hatte sie sich in den vergangenen drei Jahren gesehnt. Jetzt, wo sie es konnte, hielt sein vorwurfsvoller Ton sie auf Distanz. „Bitte hass mich nicht. Ich könnte es nicht verkraften, wenn du mich hassen würdest.“ Ihre Stimme brach, und sie verfiel wieder in Schweigen.

„Du meine Güte, Jules, was glaubst du denn?“ Beinah grob schloss er sie in die Arme und drückte ihr Gesicht an seine warme Brust. Sie atmete tief ein und genoss diesen Moment.

Viel zu früh ließ er sie wieder los und zwang sie, ihn anzuschauen. „Ich hasse dich nicht, Jules. Ich habe kaum von etwas anderem geträumt, als dich wiederzusehen, und die Hoffnung nie aufgegeben, dass du noch am Leben bist. Nichts könnte mich dazu bringen, dich zu hassen.“

Mit seinen grünen Augen blickte er sie durchdringend und ernst an. Er wirkte älter, und sie fragte sich, ob sie der Grund für die Fältchen um seine Augen war. Ein weiterer Punkt, der zu ihren wachsenden Schuldgefühlen beitrug. Wäre sie nur nie nach Frankreich geflogen. Es gab so viel zu bereuen.

Nichts könnte mich dazu bringen, dich zu hassen. Aber er hatte keine Ahnung von den Dingen, die sie gemacht hatte. Würde er das immer noch sagen, wenn er diese Dinge kannte?

Sie war müde, unendlich müde. Ihre Lider sanken herab, und sie lehnte sich gegen ihr Kopfkissen. Als sie die Augen wieder öffnete, war Manuels Besorgnis nicht aus seinem Gesicht gewichen.

„Ich werde die Krankenschwester bitten, dir ein Schlafmittel zu geben“, erklärte er bestimmt. „Du musst schlafen. In ein paar Stunden wirst du schon verlegt.“

Sofort war sie wieder alarmiert. Sie konnte nicht mit Manny gehen und ihn dadurch in Gefahr bringen. Northstar würde nicht zögern, jeden zu töten, der ihm in die Quere kam. Bis sie einen Weg gefunden hätte, diesen Bastard loszuwerden, würde niemand in ihrer Nähe sicher sein.

Während ihr Verstand fieberhaft arbeitete, nickte sie langsam. Sie besaß noch die Tablette, die sie zuvor gekriegt hatte, da sie nichts einnehmen wollte, was ihre Sinne trübte. Zusammen mit der, die sie gleich erhalten würde, reichte es sicher, um Manny außer Gefecht zu setzen.

Sowie er sich erhob, um der Krankenschwester Bescheid zu sagen, schob sie schnell die Hand unters Kopfkissen und zog die Tablette hervor, die sie dort versteckt hatte.

Ein paar Sekunden später erschien eine junge Krankenschwester mit einem Tablett in der Hand. „Ich habe Ihnen noch einen Becher Kaffee gebracht“, sagte sie zu Manuel und schenkte ihm dazu ein breites Lächeln.

„Danke.“ Er fasste nach dem Becher und wirkte dabei sehr erleichtert.

Dann wandte sich die Schwester Jules zu und nannte ihr dieselben Optionen wie schon zuvor. „Möchten Sie eine Schlaftablette haben, oder soll ich Ihnen eine Injektion verabreichen?“

„Ich möchte lieber die Tablette“, antwortete Jules leise.

Die Krankenschwester goss ihr ein Glas Wasser ein. Manuel nahm Glas und Tablette von ihr entgegen. Er ging zum Bett und half Jules mit dem freien Arm vorsichtig, sich aufzurichten. Sie griff nach der Tablette mit der Hand, in der sie bereits die andere verbarg, und schob sich beide rasch in den Mund. Mit etwas Wasser spülte sie nach und schluckte die Tabletten demonstrativ herunter. In Wahrheit befanden sie sich unter ihrer Zunge. Sie musste sich beeilen, bevor die Tabletten sich auflösten.

„Ich werde später noch einmal nach Ihnen schauen“, verkündete die Schwester und verschwand.

„Danke“, meinte Jules leise.

Sobald die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte, sah Jules zu Manuel, der sich mit seinem Becher Kaffee hingesetzt hatte. „Kann ich einen Schluck haben?“

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Ich hatte keine Ahnung, dass du Kaffee trinkst.“

„Tue ich eigentlich auch nicht, doch ich erinnere mich, dass du immer gern welchen getrunken hast. Der Geruch erinnert mich an dich.“

Lächelnd reichte er ihr den Becher. „Pass auf, dass du dich nicht verbrennst.“

Als sie den Getränkebecher an die Lippen führte, zog sich ihr Magen bei dem Gedanken an das eklige Gebräu zusammen. Trotzdem trank sie, um dabei die Schlaftabletten aus ihrem Mund in den Kaffee schieben zu können.

Sie behielt den Becher noch einen Moment in der Hand, damit die Tabletten Zeit hatten, sich aufzulösen, ehe sie ihn Manuel zurückgab. Hoffentlich würde sie nicht allzu lange warten müssen. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr bis zu ihrer Verlegung.

Da ihr klar war, dass sie überzeugend sein musste, lehnte sie sich gähnend zurück und senkte die Lider. Die Versuchung war groß, einfach einzuschlafen. So müde war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen. Um wach zu bleiben, konzentrierte sie sich auf die Gesichter ihrer Eltern, allerdings drifteten ihre Gedanken zu Manny ab. Ihn durfte sie nicht auch noch verlieren, selbst wenn das bedeutete, sich von ihm so weit wie möglich fernzuhalten.

Nach einer Zeitspanne, die ihr ewig vorkam, spähte sie vorsichtig mit einem Auge zu Manny herüber. Er gähnte herzhaft und hatte es sich auf dem Stuhl bequem gemacht. Angewidert betrachtete er den Kaffee, als frage er sich, warum der ihn nicht wachhielt, ehe er leicht genervt den letzten Schluck trank.

Jules kriegte Gewissensbisse. Sie hinterging ihn auf die schlimmste Weise. Er würde gekränkt sein und nicht verstehen, warum sie verschwunden war. Doch es war besser, seinen Ärger auf sich zu ziehen, wenn es bedeutete, dass er dafür am Leben blieb.

Sie beobachtete ihn weiter aus dem Augenwinkel. Er rutschte unruhig hin und her und blickte auf seine Uhr. Einmal schaute er zu ihr, und sie hielt gebannt den Atem an, während sie still betete, dass er nicht merkte, dass sie wach war. Als sie schon die Hoffnung aufgeben wollte, dass die Tabletten wirkten, fielen ihm die Augen zu, und sein Kopf sank auf die Schulter.

Sie lag noch weitere zwanzig Minuten da, damit er auch wirklich tief und fest schlief. Dann zog sie sich rasch die Infusionsnadel heraus, wobei sie darauf achtete, dass die Flüssigkeit weiter tröpfelte, damit kein Alarm ausgelöst und die Schwester aufmerksam wurde.

Sie wünschte sich mehr denn je, Manny hätte ihr etwas zum Anziehen besorgt. Im Krankenhauskittel herumzulaufen war die beste Methode, um schnell aufzufallen.

Lautlos glitt sie aus dem Bett. Ihre Füße berührten den kalten Fußboden. Für einen kurzen Moment atmete Jules tief durch und wappnete sich gegen die Schmerzen. Das Unbehagen schwand ein wenig, und sie richtete sich vorsichtig auf.

Auf keinen Fall würde sie durch die Tür verschwinden können. Die Wachposten, die Manny aufgestellt hatte, würden sie sofort entdecken. Jules schaute zum Fenster, aber sie war nicht so dumm zu glauben, dass sie einfach aus dem dritten Stock fliehen könnte.

Also blieb ihr nur noch die Option, die Wachen außer Gefecht zu setzen. Widerwillig rümpfte sie die Nase. Sie musste möglichst viel Kraft sparen, und sie fühlte sich momentan ohnehin schon ganz schlapp.

Seufzend schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie draußen nur einen Mann. Vielleicht machte der andere gerade eine Kaffeepause. Was bedeutete, dass sie sich beeilen musste, bevor der andere zurückkehrte. Sie winkte dem Posten aufgeregt zu. „Schnell, kommen Sie her!“

Er eilte sofort zur Tür, und Jules öffnete sie für ihn weiter. Sobald er im Zimmer war, handelte sie blitzschnell. Sie rammte ihm den Ellbogen hart gegen das Zwerchfell, was dazu führte, dass er nach Luft rang. Bevor er reagieren konnte, schlug sie ihm beide Fäuste in den Nacken. Lautlos sackte er in sich zusammen.

Schmerz und Schwindel überfielen Jules, doch sie durfte weder dem einen noch dem anderen nachgeben. Ohne weitere Zeit zu vergeuden, steckte sie den Kopf erneut zur Tür heraus und spähte in beide Richtungen. Zu ihrer Erleichterung war der Flur leer. Sie huschte hinaus und rannte zur Treppe am Ende des Ganges.

Mit kurzen schnellen Atemstößen lief sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. In ihrem Kopf drehte sich alles wie verrückt, und ihr war speiübel vor Schmerzen. Aber sie durfte nicht stehen bleiben.

Wenn sie nur irgendeine Dienstkleidung finden könnte, dann würde sie weniger verdächtig wirken als in ihrem dünnen Nachthemd. Unten angekommen lugte sie aus der Tür zum Treppenhaus, um zu entscheiden, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie wählte den Weg nach rechts und folgte den Schildern, die zur Chirurgie wiesen. Jedes Mal, wenn sie an jemandem vorbeikam, hielt sie den Atem an. Doch jeder schien es eilig zu haben, und niemand achtete auf sie.

Endlich erreichte sie die chirurgische Abteilung und probierte die Türen aus. Sie stieß auf Wäscheschränke und Personalbüros, allerdings entdeckte sie keine Krankenpflegerkleidung. Erst bei der letzten Tür hatte sie Erfolg. Hier fand sie stapelweise ordentlich in Regalen zusammengelegte OP-Kleidung. Sie riss sich das Nachthemd vom Leib und zog eine Hose sowie ein Oberteil an. Danach setzte sie sich die OP-Haube auf und schob einzelne hervorschauende Strähnen unter das elastische Band. Zum Schluss schlüpfte sie in Schuhüberzieher. Wärmen würden die nicht besonders, doch wenigstens hielten sie ihre Füße für eine Weile trocken.

Niemand würde sie ohne Weiteres als die verletzte junge Frau aus einem Krankenbett im dritten Stock identifizieren können. Sie steuerte den nächstgelegenen Ausgang an, um möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen sich und die Klinik zu bringen, bevor ihr Verschwinden bemerkt wurde.

Als sie nach draußen trat, schlug ihr die kühle Luft entgegen und lieferte ihr den dringend benötigten Ansporn. Ihre Schritte wurden entschlossener, und kurz darauf ließ sie den Parkplatz hinter sich und verschwand in dem Wäldchen hinter dem Krankenhaus.

Sie hatte kein Geld, nichts von ihren Vorräten, und sie brauchte dringend Schlaf. Wenn Manny aufwachte, würde er stocksauer sein. Und er würde sofort anfangen, nach ihr zu suchen. Falls er die Polizei einschaltete, würde diese ganz schnell die Gegend absuchen und auf sämtlichen Wegen ausschwärmen, die zur Stadt hinausführten. Wahrscheinlich würden sie denken, dass sie so weit wie möglich zu fliehen versucht hatte.

Doch sie würden sich irren. Wenn sie sich in einem guten Versteck verkriechen konnte, würde sie hinter ihnen bleiben und sich in Ruhe den nächsten Schritt überlegen können.

Zuerst musste sie allerdings einen Unterschlupf finden.

Sie stapfte durch den Matsch, der sich nach dem letzten Regen gebildet hatte, zwischen Bäumen hindurch auf in der Ferne erkennbare Lichter zu. Nässe drang durch den dünnen Stoff an ihren Füßen und machte diesen nutzlos. Die Nacht brach rasch herein, wofür sie dankbar war. In der Dämmerung konnte sie besser vorankommen.

Vor ihr tauchte eine gehobene Wohnsiedlung auf, die sich über mehrere Blocks erstreckte. Jules streifte sich die Schuhüberzieher von den nackten Füßen und ging neben einem Baum in die Hocke, um jedes Haus in Augenschein zu nehmen und eines darunter zu finden, in dem niemand war. Dass kein Licht brannte, war kein Indiz – die meisten Leute ließen eine Lampe an, wenn sie nicht daheim waren, um Einbrecher abzuschrecken. Wonach sie Ausschau hielt, waren Bewegungen. Sie blieb geduldig. Nah am Boden hockend, konzentrierte sie sich auf die paar Häuser, die sie nicht gleich ausschließen konnte, und wartete.

Schließlich entschied sie sich für eines am Ende der Sackgasse und hielt sich auf ihrem Weg dorthin möglichst im Schatten. Nachdem sie die hintere Grundstücksgrenze des Hauses erreicht hatte, kletterte sie über den Holzzaun und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Einen Moment musste sie innehalten, weil der Schmerz und die Benommenheit stärker wurden.

Dann beobachtete sie die Rückseite des Gebäudes und sah sich nach einem Hinweisschild auf eine Alarmanlage um. Als sie keines entdecken konnte, riskierte sie es, zur Hintertür zu schleichen. Sie war verschlossen, womit Jules gerechnet hatte. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte sie lieber nicht einsteigen. Sie ging zu den Fenstern, die sich nicht allzu weit entfernt von der Tür befanden, und probierte eines aus.