Cornelia Schneider

ÜBER DEM ABGRUND DER HIMMEL

Erzählungen

 

Außer der Reihe 32

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juli 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Cornelia Schneider

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 158 7

 


 

schwarz

tropft mir der jammer

aus den augen

im garten der trompetenbaum

bläst mir den trauermarsch

das kind lässt sein hüpfseil kreisen

klatsch klatsch

jeder sprung

ein sprung in die vergänglichkeit

um den friedhof schleichen die wölfe

hungrig nach leben

 


Fledermäuse

 

 

Heute Morgen komme ich in die Küche und ein Wildfremder sitzt an meinem Küchentisch. Der Schlag hat mich fast getroffen. Jetzt zergrüble ich mir den Kopf, wie der Kerl überhaupt reingekommen ist.

Ich wohne allein im Haus. Mein Mann ist schon vor Jahren gestorben. Er war Chirurg. In seiner Freizeit erforschte er Höhlen auf der Schwäbischen Alb, um uns hat er sich nicht viel gekümmert. Eines Tages ist er nicht mehr zurückgekehrt von einem seiner Alleingänge, gefunden hat man ihn nie, es wusste ja keiner, in welchen Abgrund er hinabgestiegen war. Ich habe sehr kämpfen müssen um seine vorzeitige Todeserklärung.

Auch die Mädchen sind schon eine ganze Weile weg. Die Große ist zum Studieren nach Amerika gegangen und dortgeblieben, ich war nicht überrascht. Die Kleine arbeitet als Krankenschwester in Hamburg. Weihnachten hat sie mich das letzte Mal besucht.

Es war schwer am Anfang so allein. Wie eine Ausgestoßene bin ich mir vorgekommen, obwohl ich doch diejenige war, die dageblieben ist. Aber diese plötzliche Stille um mich herum, die Leere in den Zimmern, man muss aufpassen, dass einem der Verstand darin nicht verloren geht. Eine Weile habe ich sogar geglaubt, mein Mann schläft wieder neben mir, ganz deutlich habe ich seinen Atem gehört. Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, dieses ständige Atmen an meiner Seite, bin ich ins Zimmer der Großen am Ende des Flurs gezogen. Erst dort ist mir klar geworden, dass das Geräusch aus dem Keller kam. Es waren die Fledermäuse, sie haben sich nach dem Tod meines Mannes im Gewölbe eingenistet. Ich wohne im ehemaligen Pfarrhaus am Fuße des Schlossbergs, mein Mann hatte eine Schwäche für alte Gemäuer.

Jetzt benutze ich nur noch das Zimmer der Amerikanerin, so nenne ich die Große bei mir, die Küche und das Badezimmer. Ich habe mich eingerichtet in der Verlassenheit, in der Stille stecke ich wie in einer zweiten Haut. Auch das Geflattere der Fledermäuse nehme ich kaum noch wahr. Nur wenn ich in den Keller hinunter muss, lässt mir das bloße Wissen um ihre Existenz dort unten kalte Schauer den Rücken hinunter rieseln.

Und heute Morgen komme ich in die Küche und ein Wildfremder sitzt an meinem Küchentisch.

Alkoholiker, habe ich gleich gedacht. Das teigig graue Gesicht, die Tränensäcke, das fettige Haar, kein Zweifel, der Mann ist Alkoholiker.

Nach dem ersten Schreck habe ich ihn gefragt, was er in meiner Küche sucht. Er hat gesagt, er wohnt hier. Als sei er erstaunt, wie ich überhaupt fragen konnte, hat er das gesagt. Mir ist keine Antwort darauf eingefallen.

Dann hat er mir eine Tasse Kaffee angeboten und ich habe angenommen. Die Hand, mit der er die Thermoskanne hielt, hat gezittert. Der Kaffee war bitter, ich trinke ihn sonst nie schwarz, aber ich habe nicht gewagt, um Milch oder ein Stück Zucker zu bitten.

Nachdem ich meine Tasse ausgetrunken hatte, bin ich ziemlich ungeschickt aufgestanden. Der Stuhl ist mit einem widerlichen Kreischen über den Boden gescheuert, da habe ich gedacht, jetzt schreien hier schon die Stühle und ich sage kein Wort. Ich bin schnell hinausgegangen aus der Küche, hinauf ins Zimmer der Amerikanerin. Nach einer Weile habe ich gehört, dass der Mann weggegangen ist. Nun weiß ich nicht, ob er zum Mittagessen nach Hause kommt.

 

Er ist dann doch spät zurückgekehrt, bis nach Mitternacht habe ich auf ihn gewartet. Eine ganze Stunde hat er sich im Wohnzimmer aufgehalten, bevor er die Treppe heraufgekommen ist. Vor meiner Tür ist er stehen geblieben und ich habe mich gefürchtet. Dann ist er ins Elternschlafzimmer gegangen, was mich wiederum geärgert hat. Er hätte wenigstens mit dem Gästezimmer vorliebnehmen können.

Heute Morgen habe ich einen Gutenmorgengruß gemurmelt, er soll nicht denken, ich sei ihm feindlich gesinnt. Beim Frühstück habe ich all meinen Mut zusammengenommen und gesagt, wir müssten über einen Mietvertrag reden. Da hat er wieder so erstaunt geguckt und gefragt, wie ich darauf käme, er wohne doch schon immer hier und habe Gewohnheitsrecht. Dann hat er mich um Geld für Zigaretten gebeten. Ich habe mich nicht getraut, es ihm abzuschlagen.

Das mit dem Gewohnheitsrecht ist natürlich ein Trick. Dass er mir seinen Namen – er heißt Heinz – genannt hat, hat ihn verraten. Wäre er schon länger hier, müsste ich ihn doch kennen. Aber wieso hat er einen Schlüssel, das lässt mir keine Ruhe. Auch nennt er mich ohne Umschweife Magda und die Küche scheint ihm kein bisschen fremd zu sein. Er öffnet auf Anhieb die richtigen Türen und Schubladen.

Ich kann natürlich nicht zulassen, dass er bleibt. Wo kämen wir da hin, wenn jeder einzöge, wo es ihm gefällt. Andererseits muss ich gestehen, dass mich seine Zuvorkommenheit irgendwie rührt. Mein Mann hat nie Kaffee gekocht, und auch die Mädchen haben sich immer nur bedienen lassen.

Nein, er macht gewiss keinen aggressiven Eindruck. Obwohl ich natürlich nicht ausschließen möchte, dass er etwas verbrochen hat. Aber es zeugt doch von einem hohen Maß an Anstand, dass er versucht, Haltung zu bewahren. Er ist nämlich am frühen Morgen schon betrunken. Ein anderer würde es ihm kaum anmerken, aber ich habe Erfahrung. Mein Mann war Alkoholiker. Zweifelsohne bedient sich dieser Kerl, ohne zu fragen, in meinem Weinkeller.

Ich schätze ihn auf Mitte fünfzig. Er trägt einen Ehering, was mich zu meiner eigenen Verwunderung beruhigt. Als ob einem, der verheiratet ist, von vornherein ein Vertrauensbonus zukäme. Er kann sich den Ring aber auch angesteckt haben, um mich in Sicherheit zu wiegen. Sein Benehmen ist, in Anbetracht der Kürze unserer Bekanntschaft, eigentlich etwas zu zwanglos, um echt zu sein.

Natürlich lasse ich mir nicht anmerken, dass ich ihn beobachte. Am liebsten wäre mir allerdings, ich könnte ihn ignorieren, was mir trotz aller Mühe nicht gelingt.

Das fängt schon im Bad an. Nicht genug, dass er den Rasierapparat meines verstorbenen Mannes hervorgeholt und an seinen alten Platz gesteckt hat. Jedes Mal, bevor ich die Toilette benutze, muss ich jetzt die Klobrille herunterklappen, und der Anblick seiner im Waschbecken verstreuten Haare verursacht mir einen regelrechten Brechreiz.

Außerdem werde ich ihm sagen müssen, dass er das Rauchen unterlassen soll. In der Küche quillt der Aschenbecher über, im Flur stoße ich auf achtlos abgeschnippte Aschehäufchen und der Gestank nach kaltem Rauch setzt sich langsam im ganzen Haus fest.

Meist gehen wir uns aus dem Weg, das Haus ist groß genug. Nur beim Frühstück begegnen wir uns regelmäßig. Wir nehmen es schweigend ein. Auf keinen Fall möchte ich in irgendeiner Weise Vertrautheit aufkommen lassen.

 

Er ist nun schon über eine Woche hier und ich muss aufpassen, dass ich mich nicht an seine Anwesenheit gewöhne. Unentwegt lausche ich auf seine Schritte. Die Geräusche im Haus, sie haben Gewicht bekommen, und die Leere hat von ihrer Schwere eingebüßt. Mir ist auch, als hätten die Dinge wieder ihren angestammten Platz gefunden. Um ehrlich zu sein, ich bin fast verrückt geworden in manchen Nächten. Obwohl ich die Stille liebe, spielte sie mir mitunter doch ganz fürchterliche Streiche.

Tatsächlich bin ich nicht ganz sicher, was ich von meinem Mitbewohner halten soll. Auf die Dauer will ich ihn jedoch keinesfalls dulden im Haus. Nicht zuletzt wegen seines enormen Alkoholkonsums. Als ich gestern Abend im Keller war, um ein paar Lebensmittel heraufzuholen, war ich entsetzt. Mein Weinvorrat ist fast erschöpft, vom Gewürztraminer ist schon nichts mehr da. Es war der Lieblingswein meines Mannes, ich selbst habe mich nie an ihn herangetraut. Heute noch werde ich eine neue Bestellung aufgeben müssen.

Wäre ich über das Verschwinden der Fledermäuse nicht so erleichtert gewesen – sie waren weg, kein Flattern mehr, keine pfeilschnellen winzigen Schatten über meinem Kopf – bestimmt hätte ich ihn nach dieser Entdeckung endgültig des Hauses verwiesen.

Jetzt ist es nicht so, dass ich ihm den Gewürztraminer nicht gönne. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ein guter Schluck über manche kritische Lebensphase hinweghilft, und der Mann hat mir von Anfang an einen reichlich mitgenommenen Eindruck gemacht. Es ist auch nicht das Geld, das mich bekümmert. Als Arztwitwe habe ich mein Auskommen. Nein, ich mache mir ganz einfach Sorgen um seine Gesundheit. Bei einem so starken Trinker muss man damit rechnen, dass er ob kurz oder lang Probleme mit der Bauchspeicheldrüse bekommt, oder mit der Leber. Ein Kranker im Haus, das hätte mir gerade noch gefehlt.

Wenn ich’s mir recht überlege, mehren sich die Anzeichen seines körperlichen und geistigen Verfalls auf geradezu alarmierende Weise. Das Zittern seiner Hände hat beängstigende Ausmaße angenommen, es gelingt ihm schon nicht mehr, eine Tasse Kaffee einzuschenken, ohne die Hälfte zu verschütten. Ich tue zwar, als ob ich es nicht bemerke, in Wahrheit jedoch bin ich zutiefst beunruhigt. Die blutunterlaufenen Augen im aufgedunsenen Gesicht, das strähnige Haar, die verlotterte Gestalt, man könnte Angst bekommen vor einem solchen Menschen. Obendrein öffnet er jetzt wahllos Türen und Schubladen und vergisst, sie zu schließen. Ich habe schon am ganzen Körper blaue Flecken, weil ich mich permanent daran stoße. Einmal habe ich am späten Nachmittag eine glühende Herdplatte entdeckt, das Haus hätte abbrennen können.

Und dieser Dreck! Keinen Schritt kann ich mehr machen in der Küche, ohne dass es unter meinen Schuhsohlen knirscht, stellenweise bleibe ich sogar schon am Boden kleben. Ganz zu schweigen von den Essensresten und Kaffeelachen auf dem Tisch, der Batterie leerer Weinflaschen und dem überall herumstehenden schmutzigen Geschirr. Dazu der Geruch. Ich habe schon gedacht, womöglich erwartet er, dass ich mich allein um den Haushalt kümmere. Da sei Gott vor, dass ich hinter ihm herwische. Er würde doch bloß glauben, ich hätte mich mit seinem Hiersein abgefunden.

 

Er rasiert sich nicht mehr, und sein Gang hat sich verändert. Man könnte meinen, ein Gespenst schlurfe durchs Haus. Er geht auch nicht mehr weg. Trotzdem höre ich nun ganze Nächte lang keinen Laut, dann denke ich, jetzt hat er sich mit der Stille verbündet.

Ich fühle mich dann buchstäblich belauert von ihm.

Andererseits kann ich ihn in seinem jetzigen Zustand aber auch nicht vor die Tür setzen, ich müsste mich ja vor mir selber schämen wegen einer solchen Unbarmherzigkeit. Neulich hat er mich sogar gefragt, was ich in seiner Küche suche, da habe ich gewusst, jetzt fängt er an zu delirieren.

 

Heute Morgen hingen Fledermäuse in seinem Bart.

 


Der Spucker

 

 

Es ist besser gelaufen, als er gedacht hat, wie am Schnürchen ist es gelaufen. Einmal nichts dem Zufall überlassen, einmal streng nach Plan vorgegangen, und schon hat alles geklappt, am liebsten würde er es hinausschreien in die Welt, seht mich an, mich, Josch, den ewigen Versager, ein Meisterstück habe ich vollbracht, intelligent durchdacht, minutiös vorbereitet, kaltblütig ausgeführt, nur eine einzige kleine Unsicherheit gibt es noch, eine winzige Schwachstelle, nur ein Quäntchen Glück brauche ich noch und ich habe es geschafft, aber auch das wird klappen, er ist ganz sicher, es schwellt ihm die Brust, dieses Gefühl, kann es wahr sein, wirklich wahr sein, da, schon meldet sich die fiese Ratte Zweifel, fängt leise an zu nagen an der Gewissheit, an der Siegesgewissheit, das alte Programm, das alte Versagerprogramm, es sitzt tief, er schluckt, schluckt Speichel, was ist, wenn er doch etwas übersehen hat, wenn der andere nicht in die Falle tappt, die er so geschickt ausgelegt hat, aber nein, das ist nicht möglich, es kann nichts mehr schief gehen, er braucht nur abzuwarten, er muss nur Ruhe bewahren.

Er sitzt im Dunkel, die Musik so leise, dass er sie kaum hört, Aicha, écoutes moi, drüben, bei den Mülltonnen, an der Mauer zum Nachbarhof, eine schwarze Gestalt am Boden, reglos, gekrümmt, schemenhaft wie die Musik, nur für ihn wahrnehmbar.

Die Ratte, sie kommt wieder, sie kommt, um zu nagen, er lässt die Schultern fallen, er schluckt, schluckt Speichel, schluckt Eimer voll Speichel, es ist widerlich, er spuckt ihn aus, spuckt ihn auf den Boden, wie soll einer Eimer voll Speichel schlucken, die Speichelpfützchen, kleine feuchte Kreise im fleckig grauen Teppich, verblassen, zergehen im Nu.

Dunkel und still der Hinterhof, aber schon hängt das fahle Licht der Morgendämmerung in der Luft, kündigt das Surren und Klingen der Wecker an, das Stöhnen und Ächzen der Frühaufsteher, das Schlurfen, Gurgeln, Murmeln und Fluchen, die Toilettenspülungen, das Töpfegeklapper, eine halbe Stunde noch, vielleicht eine ganze, dann ist es soweit. Wer hat hier überhaupt noch Arbeit, wer steht überhaupt noch auf so früh am Morgen, der türkische Gemüsehändler, der zur Markthalle fährt, die zeternde Dicke mit ihren plärrenden Kindern, die dem Sozialamt ihre Putzstellen verschweigt, der von der Straßenreinigung, der eine oder andere Gelegenheitsarbeiter. Und die im Quergebäude natürlich. Die verdienen so gut, dass sie sich eine luxusmodernisierte Wohnung leisten können, anders als die armen Schlucker im Vorderhaus, wo der Standard weit niedriger ist, die Sanierung schon Jahre her, und für den Seitenflügel hat das Geld gleich gar nicht mehr gereicht, die Stadt ist bankrott. Jetzt wohnt der Pöbel im Seitenflügel, der brave Bürger im Vorderhaus und die Schickeria ganz hinten, mit Blick ins Grüne, weil die Rückseite des Blocks an den Park grenzt, dort wird man von Vogelgezwitscher begrüßt am Morgen, von frischer kühler Luft, vielleicht noch von Ziegengemecker aus dem Tiergehege, nicht vom Straßenlärm wie er, Josch, der Versager, der einmal ein Gewinner ist, der sie alle hinters Licht führen wird, gerade die da hinten, die sich für etwas Besseres halten, weil sie studiert haben, einen guten Job haben, man sieht es an der Kleidung, der Haltung, den Uhrzeiten, zu denen sie den Hinterhof durchqueren, Selbstständige, schätzt Josch, Leute aus der Hightech-Branche, vielleicht noch eine erfolgreiche Modedesignerin, vielleicht ein aufstrebender Anwalt, Kinder sind keine darunter, aber eine Schwangere, dazu der schwule Kellner aus dem Nobelrestaurant, mit dem er sich ein wenig angefreundet hat, obwohl er ihn verabscheut, den schwulen Gecken, der sich für einen Dandy hält, sich etwas einbildet darauf, dass er sie alle kennt im Regierungsviertel, dass er beim Vornamen genannt wird von denen, dass er weiß, was vor sich geht in der großen Politik, noch bevor es in den Zeitungen steht, und dass er auch das weiß, was nie darin stehen wird, seine Trinkgelder sind in Wirklichkeit Schweigegelder, wie sonst soll er sich die Luxuswohnung leisten können, den Porsche. Und dann wohnt noch sie da hinten. Sie passt so wenig dazu wie der Kellner, aber es stört niemanden, keiner stört sich hier am anderen. Er richtet den Blick hinauf zum dritten Stock, sie hat das Licht gelöscht, sie schläft jetzt, wird den ganzen Morgen verschlafen, den halben Nachmittag, wenn sie nicht vorzeitig geweckt wird, er zögert, gewiss hat er sie hineingezogen in die Sache, wird es ihm leidtun, er weiß es nicht.

Er schaut hinüber zu den Mülltonnen, zu dem schwarzen lang gestreckten Klumpen, der dort liegt, langsam schält er sich heraus aus der Finsternis, er spürt den Triumph, die Genugtuung in der Brust, aber die Ratte, sie nagt, wenn er nun doch einen Fehler begangen hat, er muss sich ablenken, sonst verliert er die Nerven, er geht den Weg noch einmal zurück in Gedanken, fängt noch einmal ganz von vorne an.

Gleich am Tag seines Einzugs hat er sie entdeckt, am offenen Fenster stand er, als sie auftauchte, über den Hinterhof stolzierte auf ihren High Heels, es war wie ein Stromstoß, was für ein Gang, eine Haltung, eine Art sich zu kleiden, die hatte Klasse, Türkin oder Araberin, Augen und Haare schwarz wie Kohle und die Figur einer Göttin. Eine Edelnutte, kein Zweifel, er hat sich vorgebeugt und gewittert wie ein Tier, gierig nach dem Duft ihrer Olivenhaut, nach dem Moschusgeruch zwischen ihren Beinen.

Aicha, Aicha, écoutes moi, Aicha, Aicha, t’en vas pas.

Von da an war sein Platz am Fenster zum Hinterhof, aus dem er Tag und Nacht hinausstarrte, hin und wieder goss er sich eine Cola ein mit einem Schuss Whisky, das hielt ihn wach, er ist kein Trinker. Sie hatte nicht viele Kunden, Stammkunden die meisten, gepflegte ältere Herren, die auf einem dicken Bankkonto saßen und ganz oben auf der Karriereleiter und im schwarzen Daimler mit eigenem Chauffeur. Was verlangten die von ihr, gewiss hatten sie perverse Wünsche, wie weit ging sie, für Geld kann man alles haben und sie war eine Nutte. Seine Fantasie schlug Kapriolen, während er zu ihrem Fenster hinaufschaute, Speichel schluckend, einmal dieses Weib unter sich haben, einmal ihr Olivenfleisch kneten, einmal das Gesicht hineinstecken in ihren Geruch, aber es war zu spät, er kriegt keinen mehr hoch bei den Frauen und so eine würde sowieso die Beine nicht breitmachen vor ihm. Was ihm blieb, war die Hose zu öffnen und selbst Hand anzulegen, was ihm blieb, war der Platz am Fenster einer Parterrewohnung, immer im Halbdunkel, am Tag erreicht ihn kein Sonnenstrahl und nachts erhellt die Straßenbeleuchtung die Wohnung.

Wann hat er ihn zum ersten Mal bemerkt, durch den Hof ist er geschlichen, nicht geradewegs darüber wie die anderen Heimlichen, nein, an den Seiten entlang schlich er, in die Schwärze geduckt, sogar das düstere Grau der Hofmitte, dort, wo der lichtgetränkte Nachthimmel der Millionenstadt noch ein schwaches Echo findet, scheute er. Er, Josch, hat ein merkwürdiges Gefühl gehabt bei seinem Erscheinen, an irgendetwas hat sie gerührt die schwarze Gestalt, doch er hat nicht weiter nachgedacht. Was kümmerte es ihn, wenn einer noch heimlicher als heimlich zur Nutte ging, er schluckte Spucke, er öffnete die Hose.

Erst als die anderen wegblieben, erst als er der Einzige war, der noch zu ihr kam, immer an den Seiten entlang, im Schatten der Mauern, wurde er unruhig, was war los mit ihr, sie war teuer, warum nur noch einer, warum nur noch er. Erst da ist ihm aufgefallen, wie sehr ihn die Gestalt von Anfang an irritiert hat, wie sehr sie an irgendetwas rührte in ihm.

Er hat sich ans Fenster zur Straße gesetzt, er liebt diesen Platz nicht, zu hell ist es da, zu dünn der Abstand zwischen ihm und denen da draußen, er fühlt sich ertappt, wenn einer den Kopf im Vorbeigehen nach ihm dreht, aber der andere ist aus der entgegengesetzten Richtung gekommen, wie immer weit nach Mitternacht, ganz leise hat er das Tor zur Einfahrt geöffnet, war schon im Quergebäude verschwunden, bevor er, Josch, reagiert hatte und ans Fenster zum Hinterhof geeilt war.

Dann hat er ihm draußen auf der Straße aufgelauert, in den dunklen Eingang des Nebenhauses gedrückt, drei Nächte musste er warten, der andere kam unregelmäßig.

Das Erkennen durchzuckte ihn wie ein scharfer Schmerz, vielleicht hat er es sogar geahnt, nicht wahrhaben wollen, dass er es war, die Knie sind ihm weich geworden, er ist zurückgewankt an seinen Platz am Fenster zum Hinterhof, er hat heftig gespuckt, gespuckt, um nicht zu weinen, gespuckt, um nicht zu kotzen.

Er hat gewusst, dass der andere nicht weit war, er hat immer gewusst, wo er sich aufhielt, es war nicht schwer gewesen, seinen Weg zu verfolgen.

Schon in der Schule war der andere der Gewinner gewesen und Josch, der Freund, in Wirklichkeit sein Lakai, der ihm die Steigbügel hielt, wenn er hinaufstieg auf sein hohes Ross, der ihm die Stiefel leckte, damit sie noch schöner glänzten, der in seinem Schatten stand und nach der Sonne gierte, die auf den anderen herabschien, und nach den Mädchen, die ihn umschwirrten, der sich klein und hässlich fühlte, weil er bei der Großmutter aufwuchs, die immer dieselbe fleckige Kittelschürze trug, die aufs Taschentuch gespuckt hatte, als er noch ein Kind war, um ihm den Dreck aus dem Gesicht zu wischen, komm her zur Oma, Joschi, kleiner Dreckspatz, sodass auch er das Spucken anfing und sein Leben lang nicht mehr aufhören konnte, aus Ekel vor dem Großmuttergeruch in seinem Gesicht, der sich für alle Zeiten dort festgefressen hat und ihm das Wasser in den Mund schießen lässt, wenn er nur ein bisschen unsicher, ein bisschen nervös, ein bisschen wütend wird, sodass sie ihn das Lama nannten, und weil er blass war und aufgedunsen und pickelig und das Gymnasium vorzeitig verlassen musste, weil der Vater starb und die Mutter schwere Alkoholikerin war und weil er es sowieso nicht bis zum Abitur gebracht hätte.

Und nun sitzt er in einer heruntergekommenen Parterrewohnung und giert nach einer Edelnutte, in deren Geruch sich ein anderer vergräbt, und der andere ist der, den er zeitlebens beneidet hat, der immer auf der Sonnenseite stand, der sich jetzt durch die Dunkelheit schleicht, die doch Joschs Revier ist, hinauf zu dem Licht, in dessen Abglanz er sich eingerichtet hat, hier unten, und Josch fühlt sich so ohnmächtig in seiner Niederlage, dass er nicht einmal mehr die Hose öffnen und sich seinen Anteil holen kann, und er sitzt da und spürt einen brennenden Klumpen Hass in seiner Brust und weiß plötzlich, er wird ihn töten, und das ist das Größte, was er je gefühlt hat in seinem armseligen Leben.

Von da an zweifelt er keine Sekunde mehr an seinem Vorhaben, dieses eine Mal lässt sie ihn in Ruhe, die fiese Ratte, das konnte kein Zufall sein, das war eine Fügung des Schicksals, dass er ihm noch einmal so nahe kam nach all den Jahren. Nie zuvor hat er daran gedacht, einen anderen zu töten, sich selbst ja, in seinen schwärzesten Zeiten hat er an Selbstmord gedacht, als die Frau ihn verließ, die Kinder nichts mehr von ihm wissen wollten, als er einer der Ersten war in seiner Firma, die die Kündigung in der Hand hielten, als sie ihn in der Partei mieden, in der auch er eine Heimat zu finden gehofft hatte, und jetzt die Gewissheit, er wird einen Mord begehen, der in allen Zeitungen stehen wird, er ist wie verwandelt, der dumpfe Hass, der zeitlebens in ihm gärte, er wird zur eiskalten Wut, sein träges Gehirn fängt an zu arbeiten, während er am Fenster sitzt und hinausstarrt in den Hinterhof, der widerhallt vom Keuchen und Rotzen und Grölen und Fluchen seiner Bewohner, vom Töpfegeklapper und von den Toilettenspülungen bis spät in die Nacht, und wenn dann alles ruhig ist, schleicht der andere durch die Dunkelheit hinauf zu ihr, Aicha, Aicha, écoutes moi, Aicha, Aicha, t’en vas pas, aber das hört er nicht, das hört nur er, Josch.

Und dann kommt ihm die Vorsehung zur Hilfe, auf eine solche Gelegenheit hat er gelauert, während sein rotierendes Gehirn Szenen probte und änderte und verwarf und wieder neue erfand, während es Wahrscheinlichkeiten berechnete und Distanzen abmaß und Sekunden zählte, und plötzlich weiß er, was er zu tun hat und er handelt, ohne zu zögern.

Er stockt in seiner Erinnerung, als die Dicke im Morgenlicht aus dem Seitenflügel kommt und hinübergeht zu den Mülltonnen mit ihrem watschelnden Gang, während ihr Jüngstes in der Wohnung oben zu quäken beginnt, und plötzlich bleibt sie stehen, als sei sie von einem Bannstrahl getroffen oder als würde der Film angehalten, noch, bevor sie ihren Schritt zu Ende gemacht hat, und dann scheint es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Mülltüten fallen lässt und schreit.