Foto: Martin Lengemann / WELT
Matthias Heine, 1961 in Kassel geboren, hat in Braunschweig Germanistik und Geschichte studiert. Seit 1992 ist er Journalist in Berlin, hat u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, taz, BZ, den Cicero, Neon und Theater heute geschrieben und Radiobeiträge für den NDR und SFB/RBB produziert. Seit 2010 ist er Kulturredakteur der Welt. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte (2018) und im Atlantik Verlag Mit Affenzahn über die Eselsbrücke. Die Tiere in unserer Sprache (2019).
Wie alt ist das Alphabet? Und wo wurde es erfunden? Die Antwort auf diese Fragen hängt unter anderem davon ab, was Wissenschaftler noch von den kaum leserlichen Inschriften auf einer 3500 Jahre alten Kalksteinscherbe entziffern.
Als der Archäologe Nigel Strudwick mit seinem Team in den neunziger Jahren anfing, das Grab des ägyptischen Schatzmeisters Sennefer mit der Nummer TT99 im Westen von Theben, der alten Hauptstadt des Pharaonenreiches, wissenschaftlich zu untersuchen, war mit bösen Überraschungen, wie sie in Gruselgeschichten zuverlässig in ägyptischen Gräbern lauern, nicht zu rechnen: keine Mumien, die plötzlich wieder lebendig und sehr wütend sind, keine Todesfallen aus sich unvermittelt herabsenkenden Steinquadern, die den Rückweg ins Freie abschneiden, und keine tödlichen Keime, die alle Ausgräber in kürzester Zeit hinwegraffen. Die Grabkammer hatte nämlich nach dem Untergang des ägyptischen Reiches und der römischen Provinz Aegyptus mehr als tausend Jahre lang als Wohnraum für koptische Christen gedient – die letzten von ihnen trieben die ägyptischen Behörden erst 1907 mitsamt ihren Webstühlen hinaus, bevor sie die Kammer mit einer massiven Eisentür verschließen ließen. Strudwicks Aufgabe bestand deshalb zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, den Schutt aus Antike, Mittelalter und Neuzeit von den altägyptischen Hinterlassenschaften zu scheiden. Er fand keine Pharaonenmasken, keine Sarkophage und kein Gold. Aber er fand 1995 die älteste ABC-Fibel der Welt.
Sie steht auf einem handtellergroßen Ostrakon aus Kalkstein. Ostraka, so der Plural, sind Scherben aus Ton, manchmal auch Muscheln, Eierschalen oder eben Kalksteinfragmente, die man in der Antike anstelle des teuren Papyrus als billiges Schreibmaterial für Notizen, Schulaufgaben, Abrechnungen, Quittungen und kurze Briefe verwendete. Texte wurden mit Tinte geschrieben oder eingeritzt. Beim sprichwörtlich gewordenen Scherbengericht im klassischen Athen stimmte man auf solchen Ostraka über die Verbannung von Mitbürgern ab.
23 Jahre lang knackte keiner das Geheimnis der Zeichen auf dem Thebener Ostrakon. Dann erkannte Thomas Schneider, Professor für Ägyptologie an der University of British Columbia in Kanada, 2018 darin eine Art Merksatz für Sprachenlerner, in dem sehr wahrscheinlich vier Wörter mit den alten Äquivalenten unserer Buchstaben A, B, C und D beginnen. Der in Göttingen geborene Schneider ist sicher: Obwohl die Schrift Hieratisch ist – die neben den Hieroglyphen existierende, mit diesen eng verwandte ägyptische Schreibschrift –, scheinen alle Wörter nichtägyptischer Herkunft zu sein, die meisten davon semitischen Ursprungs.
© Fotos von Anthony Middleton; © Nigel Strudwick
Das Kalksteinfragment, auf dem Schneider und Haring die uralten Alphabet-Sequenzen entdeckt haben.
Auf einer Seite des Kalksteins stehen hieratische Symbole, die die semitischen Wörter bibiya-ta (»Schnecke«), garu (»Taube«) und da’at (»Papierdrachen«) repräsentieren. Vor 3000 Jahren war das G an der Stelle des heutigen C – im griechischen und kyrillischen Alphabet steht es heute noch dort –, erst die Etrusker haben aus dem G ein C gemacht. Von ihnen übernahmen es die Römer, und die vererbten es uns. Das hieße, die Anfangsbuchstaben der genannten Wörter stünden in der uns bekannten Ordnung.
Lange bereits wusste man: Schon in der Frühzeit begannen semitische Alphabete mit der Buchstabenfolge ABGD oder zumindest so ähnlich – Wissenschaftler sprechen von der Abgad-Sequenz. Allerdings stand das A damals noch nicht für den Vokal, den es heute repräsentiert – die semitischen Schriften waren und sind reine Konsonantenschriften –, sondern für ein anderes Phonem: einen stimmlosen Verschlusslaut, den Glottisschlag, der auch im Deutschen existiert und den unser Bewusstsein als phonetisches Trennungssignal versteht. Ohne ihn würde das Spiegelei genauso klingen wie die Spiegelei.
Vor den drei Wörtern, die Schneider sicher entziffert hat, stehen Symbole, die schwerer zu interpretieren sind. Aber es könnte die hieratische Darstellung des Wortes ’elta’at (»Gecko« oder »Eidechse«) sein, das mit einem stimmlosen Verschlusslaut beginnt. Es sei möglich, dass die Zeichen den Satz »und die Eidechse und die Schnecke und die Taube und der Drachen« bilden und dass dieser Merksatz dem Schreiber helfen sollte, sich die korrekte Reihenfolge des Vorläufers unseres heutigen Alphabets zu merken. Wenn das stimme, so der Ägyptologe, wäre es »der erste historische Nachweis für ›unsere‹ Alphabetsequenz«. Doch damit betritt er den schwankenden Boden der Interpretation, wie er selbst einräumt.
Die Hieroglyphen waren keine Alphabetschrift, sondern eine piktographische Schrift mit Elementen von phonetischer Schreibung Die hierarische Schrift hatte die gleiche Struktur, aber hier traten aus Linien zusammengesetzte Zeichen anstelle der Bildzeichen, die identifizierbare Dinge zeigten. In Alphabetschriften steht dagegen idealerweise jedes Zeichen für einen einzelnen Laut, und mit relativ wenigen Zeichen lassen sich alle Wörter einer Sprache schreiben, indem man sie aus den Lautzeichen zusammensetzt.
Die erste Alphabetschrift – noch ohne Zeichen für Vokale – wurde vor etwa 4000 Jahren im ägyptischen Reich oder seinem nordöstlichen Grenzgebiet entwickelt; darüber herrscht Konsens. Die ältesten allgemein anerkannten Zeugnisse dieser Vorläufer, aus denen sich unser lateinisches Alphabet und alle anderen Alphabetschriften der Welt entwickelt haben, stammen aus der Zeit zwischen 1800 und 1500 v. Chr. Ihre Erfinder – auch daran zweifelt niemand – sprachen eine semitische Sprache. Das Altägyptische selbst gehörte nicht dieser Sprachfamilie an, sondern war ein eigenständiges Idiom innerhalb der afroasiatischen Familie.
Die genannten ältesten Schriftfunde geben aber noch keine Hinweise darauf, in welcher Reihenfolge die Buchstaben des Uralphabets angeordnet waren. Hätte Schneider recht mit der Interpretation der Inschrift des Kalkstein-Ostrakons aus Theben, dann wäre dieses Alphabet 300 Jahre älter als die bisher bekannten Listen von Buchstaben in der uns bekannten Alphabetreihenfolge.
Man kann ziemlich genau sagen, wie alt das Ostrakon ist, weil man weiß, wann der Mann lebte, in dessen Grab man es fand: Sennefer war nicht nur der Schatzmeister des Pharaos Thutmosis III. aus der 18. Dynastie, der von etwa 1483 v. Chr. bis 1425 v. Chr. lebte. Er war als eine Art Verwalter auch für außenpolitische Angelegenheiten zuständig. Und er hatte offenbar viel im Sinai zu tun, wo die Menschen nicht unbedingt Ägyptisch sprachen, sondern eine frühe Variante des Semitischen. In einem Tempel auf dem Hochplateau Serabit el-Chadim auf der Sinaihalbinsel zeigt ihn ein Wandrelief, gleich hinter dem Pharao stehend und die Göttin Hathor anbetend. Sie wurde als »Herrin des Türkis« verehrt. In Serabit el-Chadim wurde in mehreren Minen das wertvolle Mineral abgebaut. Die Ägypter benutzten Türkis als Schmuckstein; die Totenmaske des Pharaos Tutanchamun ist damit reichlich verziert. Die Arbeiter, Spezialisten und Aufseher, die in der Oase von 2200 bis 1200 v. Chr. schürften, waren Sprecher semitischer Sprachen. Wer immer mit ihnen Gespräche führte, konnte Kenntnisse ihrer Idiome gut gebrauchen. Es ist also möglich, dass Sennefer die alt-westkanaanäische Sprache verstand, die damals im Ostmittelmeerraum gesprochen wurde. Entweder er oder jemand aus seinem Umfeld könnte Merktafeln zum Üben niedergeschrieben haben. Es könnte auch jemand aus der multilingualen Schreiberelite gewesen sein, die die Verwaltung des ägyptischen Staates und seiner Provinzen benötigte. Oder einer der Handwerker, die das Grabmal ausgestalteten. Wie das Ostrakon in Sennefers Grab kam, wird nie mehr zu klären sein. Wenn die Scherbe ihm tatsächlich selbst gehörte, ließ er sie vielleicht in die Kammer legen, weil er stolz auf seine Kenntnisse war. Möglicherweise hatte er den Kalkstein auch nur als Souvenir mitgebracht.
Für die Hypothese, es handele sich bei dem Ostrakon um eine Art Sprachlehrbuch, spricht auch die andere Seite des Kalksteins. Dort hatte der Ägyptologe und Papyrologe Ben Haring von der Universität im niederländischen Leiden bereits 2015 die älteste nach Buchstaben geordnete Wortliste der Welt entdeckt. Die Wörter sind nach den Lauten sortiert, mit denen sie anfangen. Allerdings entspricht die Anordnung der Wörter auf der von Haring entzifferten Kalksteinseite nicht unserem modernen ABC und auch nicht dessen Vorläufern, den Abgad-Schriften. Sie folgt vielmehr dem System ha-la-ḥa-ma, das man aus ägyptischen, altarabischen und klassischen äthiopischen Texten kennt. Dieses Ha-la-ḥa-ma-Alphabet war ebenfalls semitischen Ursprungs und, wie man bisher wusste, mindestens seit dem 13. und 14. Jahrhundert v. Chr. im Vorderen Orient im Gebrauch. Es heißt auch Vogelalphabet, nach einem für den Schulbetrieb bestimmten Papyrus mit alphabetisch angeordneten Listen von Vögeln, Bäumen und Ortsnamen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. In der Frühzeit des Alphabets konkurrierten beide Systeme noch miteinander. Tafeln aus der kanaanäischen Stadt Ugarit aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. zeigen sowohl Abgad- als auch Ha-la-ḥa-ma-Sequenzen.
Der Stadtstaat Ugarit, ein bedeutendes bronzezeitliches Zentrum im Norden des heutigen Syrien, galt aufgrund der erwähnten Tafeln lange als Geburtsstätte des Alphabets. Heute weiß man dank neuerer Ausgrabungen, dass es weiter im Süden erfunden wurde und die Neuerung sich dann an der Ostküste des Mittelmeers verbreitete. Die Funde weisen auf den Sinai und darüber hinaus ins innere Ägypten.
Womit wir wieder beim Ostrakon aus der Grabkammer Sennefers wären. Schneider deutet die Vorgehensweise desjenigen, der es beschriftet hat: »Nachdem er die ersten sieben Buchstaben oder mehr der Ha-la-ḥa-ma-Sequenz auf der einen Seite geschrieben hatte, drehte der Schreiber das Ostrakon, um dort mit dem Anfangsteil der kurzen Abgad-Sequenz weiterzumachen.« Somit bewiese der Fund dann nicht nur das Alter des Alphabets, sondern auch, dass beide semitischen Alphabetsequenzen in Ägypten bekannt waren.
Aber das hängt davon ab, ob man diese schwer entzifferbaren hieratischen Zeichen tatsächlich für den Versuch hält, den Anfang des semitischen Alphabets in einer nicht-semitischen Sprache mit ägyptisch-hieratischer Schrift wiederzugeben.
Als ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis erzählte, mein nächstes Buch handele von der Weltgeschichte des Alphabets und alle heutigen Alphabete seien auf ein Uralphabet zurückzuführen, das vor etwa 4000 Jahren von Semiten geschaffen wurde, bekam ich mehrfach zu hören: »Ach, wirklich? Auch das chinesische?« Dann musste ich erklären, dass die chinesischen Schriftzeichen kein Alphabet sind. Ein Alphabet ist ein Schreibsystem, in dem idealtypisch jedes Zeichen für einen Laut der entsprechenden Sprache steht. Aus diesen Zeichen lassen sich sämtliche Wörter einer Sprache zusammensetzen. Je nachdem, wie viele Laute sie hat, kommt man mit relativ wenigen Zeichen aus.
Chinesisch ist dagegen eine sogenannte morphosyllabische Schrift. Jedes Zeichen steht für eine Silbe, aber es ist nicht so wie in echten Silbenschriften, dass jede Silbe nur durch ein bestimmtes Zeichen dargestellt wird. Stattdessen existieren für die jeweiligen Silben verschiedene Zeichen, deren älteste sich aus Bildzeichen entwickelt haben, die auf 3000 Jahre alten Orakelknochen zu finden sind. Heute gibt es 100000 Schriftzeichen, für den täglichen Gebrauch genügen 3000 bis 5000 Zeichen.
Man kann in der Entwicklung der Schrift drei Hauptsysteme unterscheiden: Die ältesten Schriften entstanden vor 5500 Jahren in Ägypten und Mesopotamien als Bilderschriften, in denen zunächst ein noch sehr wenig abstraktes Zeichen für ein Wort stand. Als die Abstraktion voranschritt, entstanden bald Mischformen: Die ägyptischen Hieroglyphen sind eine Kombination aus Piktogrammen, Ideogrammen und Lautzeichen. Ein Piktogramm ist ein Zeichen einer Schrift, das ein erkennbares Bild eines belebten oder unbelebten Gegenstandes darstellt. Ideogramme sind Zeichen, bei denen der Zusammenhang zwischen Dargestelltem und Gemeintem abstrakter und allgemeiner ist, etwa der Briefumschlag in der Menüleiste jedes Computers für Mail oder das Diskettenzeichen für »Speichern«. Dazu kamen in Ägypten Deutungszeichen, die regeln, welcher Bedeutungsklasse ein Wort angehört. Logogramme – als Pikto- oder Ideogramme – können auch als Lautzeichen fungieren. Ein einsilbiges Wort steht dann für die Lautfolge (im Ägyptischen ein bis drei Konsonanten), aus der es besteht. Der Ägyptologe und Hieroglyphenlehrer Michael Höveler-Müller erklärt das so: Es ist, als schriebe man das deutsche Wort sauber mit zwei Zeichen für eine Sau und einen Bär. Die klassische Hieroglyphenschrift umfasste 700 Zeichen (in griechisch-römischer Zeit schwoll sie sogar auf 7000 an), die ähnlich funktionierende Schrift der Maya in Südamerika hatte etwa 800.
Die mesopotamische Keilschrift reduzierte im Lauf ihrer Entwicklung von der Bilderschrift, in der ein Stern für einen Stern stand, über die Ideogrammschrift, in der der Stern »Himmel« bedeutete, zu reinen, überhaupt nicht mehr bildhaften Keilkombinationen ihren Zeichenbestand von 1500 auf etwa 600. Durch Verbindungen zweier Wortzeichen, konnte ein anderes Wort dargestellt werden – etwa das Wort »Strafe«, das in der sumerischen Keilschrift durch »Stock« und »Fleisch« kombiniert wird.
Mit deutlich weniger Zeichen kommen reine Silbenschriften aus, in denen ein Zeichen für eine Silbe steht. Zu diesen gehören sowohl die frühesten europäischen Schriftsysteme in der mykenischen Kultur des alten Griechenland als auch die beiden japanischen Schriften Hiragana und Katakana oder neuere Schriften, die im 19. Jahrhundert für amerikanische indigene Sprachen wie Cree oder Cherokee entwickelt wurden. Sie umfassen meist etwa 50 bis 100 Silbenzeichen.
Der Japanologe und Schrifthistoriker Florian Coulmas beschreibt den Gang der Entwicklung des Schreibens so: »Der entscheidende Schritt [...] ist Phonetisierung; d.h. der Übergang vom Bildzeichen zum phonetischen Symbol. Die ultimative Konsequenz der Phonetisierung ist das Alphabet, das oft als bestes und hochentwickeltstes Schreibsystem gepriesen wird.«
Durch eine Alphabetschrift reduziert sich die Zahl der Zeichen, die nötig ist, noch einmal deutlich, denn Sprachen haben weniger Laute als Silben. Das lateinische Alphabet hat 26 Buchstaben, das griechische 24, das kyrillische in der am meisten gebrauchten russischen Variante 33. Arabisch schreibt man mit 28 Buchstaben, georgisch mit 33 und armenisch mit 39. Die frühesten semitischen Alphabetschriften vor 3500 bis 4000 Jahren bestanden aus etwas über 20 Zeichen – damals allerdings noch ohne Vokale.
In Wirklichkeit ist es oft komplizierter. Zum Schreiben der deutschen Sprache nutzen wir beispielsweise Zeichen, die im lateinischen Alphabet gar nicht vorkommen – wie ö, ü, ä oder ß. Andere Laute, für die die Römer, von denen wir unsere Schrift geerbt haben, keine Zeichen benötigten, schreiben wir mit zusammengesetzten Buchstabenverbindungen: sch. Den Trick haben wir von den Römern gelernt, die selbst schon den griechischen Buchstaben χ in aus dem Griechischen entlehnten Fremdwörtern als ch schrieben. Das zweite Beispiel zeigt bereits, was für eine sprachökonomisch geniale Erfindung das Alphabet ist. Jede Sprache der Welt ist durch Alphabetschrift darstellbar. Jedes Schulkind kann innerhalb weniger Monate die wenigen Zeichen echter Alphabete lernen.
Kein Wunder, dass sich diese Erfindung, nachdem sie erst mal den Kreis der abgelegenen Wüstenregionen im ägyptisch-semitischen Grenzgebiet verlassen hatte, überallhin ausgebreitet hat. Der Bonner Ägyptologe Ludwig D. Morenz, der mit einem Team seit ein paar Jahren die Gegend um die Türkismine von Serabit el-Chadim in der sinaitischen Wüste und die 30 dort gefundenen uralten alphabetischen Inschriften erforscht, schreibt: »Was kulturell als eine Winkelangelegenheit begann, hat mit längeren Verzögerungen in seiner genialen Einfachheit inzwischen buchstäblich die ganze Welt erreicht.« Heute werden mit Ausnahme des Chinesischen und Japanischen und weniger kleiner indigener Sprachen, für die Silbenschriften existieren, alle Sprachen der Welt mit Alphabetschriften geschrieben. Und natürlich nutzen Chinesen und Japaner das Alphabet. Wenn sie Computerprogramme schreiben, arbeiten sie mit englischen Kurzbefehlen, die mit lateinischen Buchstaben eingegeben werden.
Zur Verbreitung der Alphabete haben zwar auch militärische Eroberungen durch Perser, Griechen, Römer, Araber und der europäische Kolonialismus beigetragen (inklusive der russischen Erschließung Sibiriens) – aber eben vor allem die unvergleichliche Anpassungsfähigkeit des alphabetischen Systems selbst. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise die Vietnamesen gerade in dem Moment, als sie den Kolonialismus abgeschüttelt hatten, ihre auf den chinesischen beruhenden Schriftzeichen abschafften und endgültig zur Lateinschrift übergingen – es war für die Alphabetisierung in einem modernen Land einfach viel praktischer.
Die Erfindung des Alphabets war für die Menschheit ein Schritt wie die Erfindung des Feuermachens, des Rads, des Schießpulvers, der Hochseeschifffahrt oder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Mit Letzterem kann man es am besten vergleichen: So wie Buchdruck mit geschnitzten oder geprägten Druckstöcken ja schon vor Gutenbergs Setzkasten existierte, konnten Menschen auch schon vor dem Alphabet schreiben – aber beide Erfindungen gaben der Sache eine neue, weltverändernde Dynamik. Man kann auch Hochkulturen jahrtausendelang mit einem ganz anderen Schriftsystem aufrechterhalten, wie die Chinesen bewiesen haben, aber seit der Erfindung und dem globalen Siegeszug des Alphabets hat sich kein Volk, das für seine Sprache eine Schrift brauchte, jemals mehr für eine Bilderschrift entschieden, wenn es die Wahl zwischen einer solchen und einer Alphabetschrift hatte.
Die wahrhaft weltbewegende Erfindung verdanken wir einfachen Menschen. Westsemitische Söldner oder Bergbauexperten, die für die Ägypter arbeiteten, nahmen vor 4000 Jahren deren Hieroglyphen und machten daraus etwas ganz Neues. Der Schrifthistoriker Coulmas schreibt: »Die Semiten können nicht beanspruchen, die Erfinder des Schreibens zu sein, aber sie haben mehr als jedes andere antike Volk zur Perfektionierung der Technik, mit der man Sprachlaute mit sichtbaren Zeichen darstellen konnte, beigetragen. Die Schlichtheit des Systems und die kleine Anzahl seiner Grundzeichen machte es einfacher zu lernen. Dadurch, dass es als Schreibsystem einfacher und flexibler war als jeder seiner Vorgänger, bot das semitische Alphabet großes Potenzial für die Ausbreitung und Popularisierung der Fähigkeit zu schreiben.«
Den Gang dieser Ausbreitung des Alphabets – oder besser gesagt: der vielen Alphabete, die alle aus dem Uralphabet entstanden sind – wollen wir mit diesem Buch nachzeichnen, um am Ende besser zu verstehen, dass wir, auch wenn wir eine banale SMS oder einen Einkaufszettel schreiben, in einer Kulturtradition stehen, die uns über Zwischenstufen am Hofe Karls des Großen, im alten Rom, Griechenland und den Häfen der Phönizier mit Menschen verbindet, die im Land der Pharaonen lebten.
Das Alphabet ist ein Produkt von Migration und Kulturkontakt. Sicher ist, dass es im ägyptischen Kulturraum erfunden wurde, um semitische Wörter und Namen aufzuschreiben. Seine ersten Nutznießer waren entweder Söldner aus Asien, dem Kontinent, zu dem die Sinaihalbinsel ebenso gehört wie die Levante – also das heutige Israel, die Palästinensergebiete, Syrien und der Libanon –, oder Bergleute, die in den Steinbrüchen des Sinai für die Ägypter arbeiteten. Sie sprachen eine westsemitische Sprache. Vermutlich eine Vorform der kanaanäischen Sprachen.
Die ersten ungefähr 30 Inschriften in einem protosemitischen Alphabet wurden im Winter 1904/1905 von den britischen Archäologen Hilda und Flinders Petrie im schon erwähnten Serabit el-Chadim entdeckt. Nachdem sie der britische Ägyptologe Alan Gardiner 1916 und sein deutscher Kollege Kurt Sethe 1917 teilweise entziffert hatten, ging man längere Zeit davon aus, dass das Alphabet in den besagten Türkisminen und dem Hathor-Tempel entstanden war. Der Tempel ist der einzige religiöse Großbau der Ägypter außerhalb des Nildeltas. Das spricht für die Bedeutung dieses Ortes, zu dem etwa tausend Jahre lang ägyptische Expeditionen aufbrachen, um Türkis zu holen. Die Göttin Hathor, der in der ägyptischen Religion eine besondere Beziehung zum Ausland nachgesagt wurde, konnte tatsächlich von Ägyptern und Semiten unter unterschiedlichen Namen gleichermaßen verehrt werden. Diese religiöse Praxis stabilisierte das Verhältnis zwischen den Ägyptern, die normalerweise auf andere Völker herabsahen, und den Semiten. Man ging respektvoll miteinander um und tauschte Kenntnisse aus. Dazu gehörte auch die Kunst des Schreibens – nur dass die Semiten eben aus den Zeichen, die sie sich von den Ägyptern abschauten, etwas völlig Neues machten.
Die Funde in Serabit el-Chadim beweisen die Existenz einer Linearschrift, also einer mit Linien geschriebenen Schreibschrift, wie sie sich für Papier und Papyrus eignet. Diese Inschriften sind allerdings in Felsen oder steinerne Gegenstände geritzt – nur deshalb haben sie überhaupt überlebt. Sie sind kurz, teilweise schlecht erhalten und bis heute noch nicht vollständig entschlüsselt. Aber man kann die Hälfte der darin enthaltenen Schriftzeichen mittlerweile sicher und ein weiteres Viertel wahrscheinlich deuten.
Die Inschriften kennen wie alle antiken Schriftzeugnisse keine systematischen Wortzwischenräume (das ist eine Erfindung des frühen europäischen Mittelalters), laufen mal nach rechts, mal nach links, mal horizontal. 22 Formen tauchen immer wieder auf, darunter ein Fisch, eine Schlange, ein Strichmännchen mit ausgestreckten Armen, eine Wellenlinie und ein Kuhkopf.
Bereits Gardiner entzifferte mehrfach auftauchende Wendungen wie l b’lt (»für die Herrin«) und m’hb b’lt (»Geliebter der Herrin«), die auf eine weibliche Gottheit verweisen, die mit dem semitischen Wort baalat bezeichnet wurde. Da Serabit el-Chadim wie erwähnt ein Kultort der Göttin Hathor war, liegt es nahe, dass mit der »Herrin« sie gemeint war.
Einige der Inschriften sind in Steinfiguren gekratzt, darunter eine kleine Sphinx aus Sandstein, die sich heute im Britischen Museum befindet. Auf ihr steht im protosinaitischen Alphabet Ba’alat und in Hieroglyphenschrift Hathor. Es handelt sich vermutlich, wie bei anderen beschrifteten Gegenständen aus Serabit el-Chadim, um Opfergaben für die Göttin. Durch eine kunsthistorische Einordnung der Sphinx hat man versucht, das Alter der Inschriften zu bestimmen. Eine solche Datierung wird immer umstritten sein – weil sie auf Deutungen kleinster Zeichenvariationen beruht. Aber mittlerweile werden die Figur und die Schriften von führenden Experten auf mindestens 1750 v. Chr. geschätzt. Der Ägyptologe Ludwig D. Morenz datiert sie sogar auf das 19. Jahrhundert v. Chr. Dafür sprächen ikonographische und stilistische Indizien der Inschriftträger. In diese Zeit passe auch das gelegentlich um 90 Grad gedrehte Zeichen Ajin – die Hieroglyphe, die aussieht wie ein Arm, bei dem Ober- und Unterarm einen rechten Winkel bilden und die Handfläche nach oben weist. Historische Indizien stützten die Einschätzung: Das 19. Jahrhundert v. Chr. war die Zeit, als die Ägypter die meisten Expeditionen in den Sinai aussandten. Der Hathor-Tempel wurde von ihnen damals baulich, künstlerisch und inschriftlich ausgestaltet.
Egal, wie alt diese Buchstaben sind: Einig sind sich heute alle Fachleute, dass sie bereits die fortentwickelte Variante einer älteren Schrift darstellen. Morenz leitet das auch daraus ab, dass die protosinaitischen Zeichen bei unterschiedlichen Schreibern nicht immer exakt gleich aussehen – so wie heute verschiedene Handschriften oder gedruckte Schrifttypen recht unterschiedlich aussehen können und wir sie trotzdem erkennen. Bereits ägyptische Hieroglyphen ließen den Schreibern einigen Gestaltungsspielraum. Das setze, so Morenz, allerdings »eine gewisse Lehr- und Lerntradition« des Alphabets voraus.
Diese früheste Form einer Buchstabenschrift war keine völlig neue Erfindung, ihr Prinzip wurde aus Ägypten übernommen. Schon die Ägypter nutzten Zeichen, die für ein bis drei Konsonanten standen. Sie dienten zur phonetischen Wiedergabe von Fremdwörtern. Diese sogenannte Gruppenschreibung kommt einem rein konsonantischen Alphabet sehr nahe. Die Semiten taten im Grunde nichts anderes, als dieses System auf ihre Sprache anzuwenden: Sie ordneten den Lauten bestimmte Schriftzeichen zu und schrieben dann nur noch mit diesen. Allerdings übernahmen sie dabei nicht die ägyptischen Konsonantenzeichen, sondern meist Wortzeichen – sowohl echte Hieroglyphen als auch hieratische Zeichen. Nur dass diese dann semitische Namen bekamen und für den ersten Buchstaben des Wortes standen – so wie heute in Grundschulklassen Bilder von Affe bis Ziege benutzt werden, mit deren Hilfe sich die Kinder die Buchstaben einprägen sollen. Solche Listen nennt man Abecedarien.
Die ägyptische Hieroglyphe für »Rind« stand nun für den Konsonanten der im internationalen phonetischen Alphabet [ʔ] geschrieben wird und dessen ältester sicher überlieferter semitischer Name ’aleph wörtlich »Rind« lautet (vielleicht hieß er zum Zeitpunkt seiner Entstehung ’alpa). Es handelt sich um einen Knacklaut, den sogenannten Glottischlag. Deswegen sieht unser großes A, wenn man es auf den Kopf stellt, 4000 Jahre später immer noch aus wie der Kopf einer Kuh mit zwei Hörnern. Ludwig D. Morenz schreibt dazu: »Die Rinderhieroglyphe war in den hieroglyphischen Inschriften auch im Südwest-Sinai gut bekannt und auch dem leseunkundigen Blick ziemlich leicht verständlich.« Allerdings zeigte die Rinderhieroglyphe meist eine ganze Kuh mit vier Beinen und Körper. Ägyptische Schreiber konnten aber auch Pars pro Toto nur den Rinderkopf benutzen. Dass sich die Semiten für dieses Zeichen entschieden haben, rührt laut Morenz möglicherweise daher, dass der neue Buchstabe eine sakrale Doppeldeutigkeit haben sollte. Denn die uns nun schon häufiger begegnete Göttin Hathor wurde zwar in Menschengestalt dargestellt, aber mit einem Kuhgehörn gekrönt, in dem die Sonnenscheibe schwebte. Diese Verbindung des Zeichens mit der Gottheit war eine Spezialität der Semiten. Dagegen bestand für Ägypter keine Verbindung zwischen der Rinderhieroglyphe und Hathor.
Der Konsonant b hieß in der ältesten sicheren Überlieferung bêt (»Haus«; er könnte vorher den Namen bêta getragen haben) und wurde dargestellt mit der Hieroglyphe für »Haus«, in der man ziemlich konkret den Grundriss eines kleinen Gebäudes wiedererkennt. Genauso verfuhr man bei j mit der Hieroglyphe für »Arm, Hand« und dem semitischen Wort jod, bei m mit dem Zeichen für »Wasser« und dem Wort mêm und bei r mit dem Zeichen für »Kopf« und dem Wort rôsch.
© Hoffmann und Campe Verlag nach https://de.wikipedia.org/wiki/Protasinaitische_Schrift; Buchstabennamen nach Ludwig D. Morenz: Ägypten und die Geburt der Alphabetschrift, Rahden 2016, S. 36
Sowohl in der protosinaitischen Schrift als auch in ihrem ägyptischen Vorbild gibt es noch keine Vokalzeichen. Möglicherweise war die Ursache dafür, dass die Buchstaben den ersten Laut des durch sie angedeuteten Wortes verkörperten – Wissenschaftler sprechen vom akrophonischen Prinzip –, denn alle ägyptischen und semitischen Wörter beginnen mit einem Konsonanten. Eine spätere Einführung von Vokalzeichen erübrigte sich, denn semitische Sprachen lassen sich ohne Selbstlaute gut verschriftlichen: Die Wortwurzeln des Phönizischen, des Althebräischen und des Arabischen bestehen überwiegend aus drei Konsonanten, den sogenannten Radikalen. Manchmal ergaben sich dennoch Zweideutigkeiten. Dafür führte man erst relativ spät, im 1. Jahrtausend v. Chr., Sonderzeichen ein, um Vokale anzudeuten.
Von Anfang an wurden die neuen Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge geordnet und auswendig gelernt. In dieser frühen Zeit konkurrierte – wie bereits im ersten Kapitel angedeutet – die Abgad-Reihung, die mit aleph und bet beginnt, mit einer anderen Reihenfolge, an deren Beginn die Buchstaben h l ḥ m – gesprochen ha-la-ḥa-ma – stehen. Dieses Prinzip setzte sich später im südsemitischen Raum, also in Südarabien und Äthiopien durch.
Der Epigraphiker Aaron Demsky hegt die Theorie, dass die frühen Abecedarien mit Hilfe von Liedern als Gedächtnisstütze auswendig gelernt wurden. Um das Einprägen der Buchstaben zu erleichtern, seien diese darüber hinaus nach fünf Sachgruppen geordnet gewesen: »Haus und Hof« – aleph bis waw; »Feld« – zayin und chet; »Hand« – jod bis lamed; »Wasser« – mem und nahasch; »Teile des Kopfes« – ayin bis taw.
Das Uralphabet von Serabit el-Chadim hatte 22 Zeichen. Die semitischen Abecedarien aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., die man in Ugarit und Bet Schemesch bei Jerusalem gefunden hat, verfügten noch über acht zusätzliche Zeichen. Bei späteren semitischen Alphabeten waren es wieder 22 Buchstaben – allerdings fehlen in der phönizischen Schrift zwei Zeichen aus der protosinaitischen Schrift (oder bildhaft-kanaanäischen Schrift, wie sie auch genannt wird), die die rekonstruierten Namen schawt und harma trugen. Dafür kamen in Phönizien noch tet und samech dazu.
Den qualifizierten ägyptischen Schreibern, Fortführer einer damals schon 1500 Jahre alten hochkulturellen Tradition, muss das Alphabet wie ein restringiertes Instrumentarium von Pidgin-Hieroglyphen vorgekommen sein. Pidgin nennt man in der Sprachwissenschaft stark vereinfachte Varianten einer Sprache, wie sie etwa in Kolonien, auf Schiffen oder auf internationalen Baustellen zwischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern, die unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen, genutzt werden. Die Schreiber, die selbst tausende von Zeichen beherrschten, sahen auf die revolutionärste Neuerung der Schriftgeschichte herab wie heute Bildungsbürger auf das Kiezdeutsch von Migranten.