Johann Wolfgang Goethe, später in den Adelstand erhoben, war zu Frankfurt am Main den 28. August 1749 geboren. Sein Großvater, Friedrich Georg, war Gastgeber zum Weidenhof. Eine glänzendere Stellung behauptete sein Großvater mütterlicher Seite Johann Wolfgang Textor als Kaiserlicher Schultheiß. Er war ein ernster, in sich gekehrter, ziemlich wortkarger Mann, dabei sehr gewissenhaft und pünktlich in der Erfüllung seiner Berufsgeschäfte. In seinem ruhigen, leidenschaftslosen Charakter zeigte sich kaum eine Spur von Heftigkeit. Sehr behaglich fühlte er sich in seiner einförmigen Lebensweise, die ihn früh Morgens auf's Rathhaus, hierauf an seinen Mittagstisch und von diesem zu einem Schläfchen in seinen alterthümlichen Sessel führte. An seine Wohnung in der Friedberger Straße stieß ein theils mit Weinstöcken, theils mit Küchengewächsen und Blumen bepflanzter Garten, der in Mußestunden sein Lieblingsaufenthalt war. Die Blumenzucht und das Inoculiren der verschiedenen Rosenarten gewährte ihm eine angenehme Beschäftigung. Er trug dann gewöhnlich einen langen weiten Schlafrock und auf dem Kopfe eine faltige schwarze Sammetmütze. Die allgemeine Achtung, in der er stand, ward noch gesteigert durch ein ihm eigenthümliches Ahnungsvermögen, besonders in Dingen, die ihn selbst betrafen. In seinen Büchern und Schreibkalendern pflegte er seine Ahnungen und Träume kurz aufzuzeichnen.
Mit einer fast peinlichen Strenge hing Goethes Vater, Johann Caspar, an allem Gewohnten und Herkömmlichen. Ein ernster Lakonismus gehörte zu den Grundzügen seines Charakters. Er handelte nach festen, aber durchaus rechtlichen Principien. Lernbegierig von früher Jugend an, hatte er auf dem Gymnasium zu Coburg rasche Fortschritte gemacht in seiner wissenschaftlichen Bildung, dann in Leipzig die Rechte studirt, und zu Gießen durch Vertheidigung seiner Dissertation: Electa de aditione hereditatis die juristische Doctorwürde erlangt. Seine Welt- und Menschenkenntniß hatte er, nach beendigten Studien, auf einer Reise durch Deutschland und Italien vermehrt, und war dadurch zu dem Besitz einer Gemälde- und Antikensammlung gekommen, die er sehr werth hielt und sie Fremden, die ihn besuchten, gern zeigte. In seinem, von öffentlichen Geschäften befreiten Leben fand er hinlängliche Muße zu Privatstudien, bei denen ihn seine ansehnliche und ausgewählte Bibliothek unterstützte. Mit dem Titel eines Kaiserlichen Raths führte er das Leben eines Privatmannes, das sich mit seinen Vermögensumständen vertrug. Von seinen Kindern, deren Unterricht ihn neben seinen mannigfachen Studien beschäftigte, waren die meisten früh gestorben, so daß zuletzt nur der Dichter und dessen Schwester Cornelia übrig blieb. Er starb am 27sten May 1782 in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main.
Goethes Mutter, Catharina Elisabeth, eine Tochter des früher erwähnten Schultheißen Johann Wolfgang Textor, besaß keine gelehrte Bildung im eigentlichen Sinne dieses Worts. Doch beschäftigte sie sich, wenn sie das Hauswesen pünktlich und gewissenhaft besorgt hatte, mit dem Lesen irgend eines guten deutschen oder italienischen Buchs. Ihr Sinn war im Allgemeinen mehr auf das Praktische gerichtet. Eine eigenthümliche Scheu hatte sie vor heftigen und gewaltsamen Gemüthseindrücken, die sie in allen Lagen ihres Lebens möglichst von sich zu entfernen suchte. Nachdrücklich schärfte sie ihren Dienstboten ein, ihr nichts Schreckhaftes, Verdrießliches oder Beunruhigendes zu hinterbringen, was in ihrem Hause, in der Stadt oder in der Nachbarschaft vorgefallen. Sie ging darin so weit, daß sie, als ihr Sohn, der Dichter, längst von ihr entfernt, zu Weimar 1805 gefährlich erkrankt war, erst nach seiner Wiedergenesung das Gespräch auf einen Gegenstand lenkte, der ihrem treuen Mutterherzen nicht gleichgültig seyn konnte. Eigen war ihr eine reiche Ader von Witz und Humor. Gutmüthig von Natur deckte sie in Bezug auf ihre Kinder manches mit dem Mantel der Liebe zu, was ihres Gatten Ernst und Strenge scharf gerügt haben würde. Eine nie versiegende Quelle heiterer Unterhaltung bot ihr in spätern Lebensjahren der Umgang mit Bettina Brentano, der Schwester des bekannten Dichters und der nachherigen Gattin des Schriftstellers Ludwig Achim von Arnim. Als in höherem Alter ein langes Krankenlager ihre Kräfte erschöpft hatte und ihre bisherige Fassung und Heiterkeit von ihr gewichen war, machte sie sich oft bittere Vorwürfe über ihre Ungeduld im Leiden. "Ich habe mich," schrieb sie, in [sie, in] ihrem eigenthümlichen Frankfurter Dialect, "recht derb ausgescholten, und zu mir gesagt: Ei, schäme dich, alte Räthin! Hast gute Tage genug gehabt in der Welt, und den Wolfgang dazu; mußt, wenn die bösen kommen, nun auch vorlieb nehmen, und kein so übel Gesicht machen. Was soll das mit dir vorstellen, daß du so ungeduldig und garstig bist, wenn der liebe Gott dir ein Kreuz auflegt? Willst du denn immer auf Rosen gehen, und bist über's Ziel, bist über siebenzig Jahre hinaus? Schauen's, so hab' ich zu mir selbst gesagt, und sogleich ist ein Nachlaß gekommen und ist besser geworden, weil ich selbst nicht mehr so garstig war." Ihren Gatten überlebte sie sechs und zwanzig Jahre. Sie starb zu Frankfurt am Main den 13. September 1808.
Manche ihrer Eigenschaften waren auf Goethe übergegangen. Er war ein munterer Knabe, aufgeweckt zu allerlei muthwilligen Streichen. Durch seine Spielkameraden, die Söhne des dem elterlichen Hause gegenüber wohnenden Schultheißen v. Ochsenstein, ließ er sich einst verleiten, mehrere Schüsseln und Töpfe, mit denen er gespielt, von einem obern Stockwerk auf die Straße zu werfen, und freute sich herzlich über das dadurch verursachte Geräusch. Einen günstigen Einfluß auf seine früh erwachte Wißbegierde, die ihn zu mancherlei Fragen über die verschiedenartigsten Gegenstände antrieb, hatte seine Großmutter väterlicher Seite, Cornelia, eine sanfte, wohlwollende Frau, die ihren Enkel gern belehrte.
Früh entwickelte sich in dem Knaben der Sinn für die Schönheiten der Natur, die er besonders in ihren erhabenen Erscheinungen, bei aufsteigenden Gewittern gern betrachtete. Sein Lieblingsaufenthalt im elterlichen Hause war ein hochgelegenes Zimmer, von welchem er über die Stadtmauern und Wälle die schöne und fruchtbare Ebne nach Höchst hin überschauen konnte. Oft ergötzte ihn dort der Anblick der untergehenden Sonne. Eine ernste ahnungsvolle Gemüthsstimmung, die ihn, seines lebhaften Temperaments ungeachtet, oft in seinem Knabenalter ergriff, weckte in ihm das Gefühl der Einsamkeit. Von der Furcht, die ihn bei eintretendem Abenddunkel in dem düstern, winkelhaften elterlichen Hause ergriff, suchte ihn sein Vater frühzeitig zu heilen. Mit umgewandtem Schlafrock, wie eine Spukgestalt, trat er dem Knaben und seiner Schwester Cornelia entgegen, wenn sie aus Furcht ihr einsames Schlafzimmer verließen und sich in die Kammern des Gesindes flüchteten. Ein wirksameres Mittel wandte Goethe's Mutter an, indem sie ihren Kindern, wenn sie Nachts ihre Furcht überwänden, Obst und allerlei Näschereien versprach.
Die Betrachtung von Gemälden und Prospecten, die sein Vater aus Italien mitgebracht hatte, und ein Puppenspiel, mit welchem seine Großmutter ihn an einem Weihnachtsabend überraschte, beschäftigten in mehrfacher Weise Goethe's Einbildungskraft. Der Unterricht, den er bisher im elterlichen Hause genossen, ward geregelter, als sein Vater ihn in die Stadtschule schickte. Aus der strengen Zucht des elterlichen Hauses sah er sich in einen Freiheitskreis versetzt, der mit seinen Neigungen harmonirte. Seine an Alterthümern und Merkwürdigkeiten reiche Vaterstadt und ihre Umgegend lernte Goethe auf mancherlei Streifzügen kennen, die er mit einigen Schulkameraden unternahm. An der Mainbrücke fesselte seine Aufmerksamkeit das emsige Treiben der Handelswelt mit ihren den Strom auf- und abwärts segelnden Schiffen. Dann und wann verwandte er auch einige Kreuzer zur Ueberfahrt nach Sachsenhausen. Von besonderem Interesse war für ihn das Rathhaus, der sogenannte Römer, mit seinen gewölbten Hallen und besonders dem zur Wahl und Krönung des Kaisers dienenden Prunkzimmer, das mit den Brustbildern Karls des Großen, Rudolphs von Habsburg, Karls IV., Günthers von Schwarzburg und anderen hohen Häuptern geziert war.
Von der Außenwelt wandte sich Goethe's Blick wieder nach dem elterlichen Hause zurück, das durch einen bedeutenden Bau erweitert und verschönert worden war. Seine Wißbegierde lockte ihn bisweilen in seines Vaters Bibliothek, die außer mehreren juristischen Werken, auch Schriften über Alterthumskunde, Reisebeschreibungen und einzelne Dichter enthielt. Es waren jedoch, außer Virgil, Horaz u.a. römischen Classikern, größtenteils italienische Poeten, wie Tasso, Ariost u. A., von denen der Knabe, bei seiner Unkenntniß der italienischen Sprache keinen Gebrauch machen konnte. Einen immer neuen Genuß gewährten ihm die Gemälde und Landschaften von Trautmann, Schütz, Junker, Seekatz u.a. Frankfurter Künstlern. Diese Gemälde, früher hie und da in der elterlichen Wohnung an mehreren Orten zerstreut, waren von Goethe's Vater bei dem Umbau seines Hauses in einem besondern Zimmer vereinigt worden. Goethe's Sinn für die Kunst ward zuerst geweckt durch die Betrachtung jener Werke.
Nur durch anhaltenden Fleiß und Wiederholung des Gelernten war Goethe's Vater zum Besitz mannigfacher Kenntnisse gelangt. Um so mehr schätzte er das angeborne Talent seines Sohnes, der durch eine schnelle Auffassungsgabe und ein treffliches Gedächtniß bald dem von seinem Vater und seinen Lehrern ihm ertheilten Unterricht entwachsen war. Den grammatischen Regeln, mit ihren mannigfachen Ausnahmen, vermochte er zwar keinen sonderlichen Geschmack abzugewinnen. Doch machte er sich mit den Sprachformen und rhetorischen Wendungen schnell bekannt. Sein heller Kopf zeigte sich vorzüglich in der raschen Entwicklung von Begriffen. Durch seine schriftlichen Aufsätze, ihrer Sprachfehler ungeachtet, erwarb er sich im Allgemeinen seines Vaters Zufriedenheit, und manches kleine Geschenk belohnte seinen Fleiß. Der Privatunterricht, den er gemeinschaftlich mit mehreren Knaben seines Alters erhielt, förderte ihn wenig, da die von seinen Lehrern eingeschlagene Methode nicht geeignet war, ihm ein besonderes Interesse an wissenschaftlichen Gegenständen einzuflößen. Ueberdieß beschränkte sich jener Unterricht fast nur auf die Erklärung des Cornelius Nepos und auf das Neue Testament.
Durch das Lesen deutscher Dichter bemächtigte sich seiner, wie er in spätern Jahren gestand, "eine unbeschreibliche Reim- und Versewuth." In dem Kreise seiner Jugendfreunde fanden seine poetischen Versuche großen Beifall. Um so mehr fand sich seine jugendliche Eitelkeit gekränkt, als einer seiner Mitschüler durch höchst mittelmäßige Verse ihm seinen Dichterruhm streitig zu machen suchte. Darüber entrüstet, stockte seine poetische Fruchtbarkeit ziemlich lange, bis ihn sein erwachtes Selbstgefühl und eine von seinen Lehrern mit Beifall aufgenommene Probearbeit über seine Anlagen und Fähigkeiten beruhigte.
Reiche Nahrung für seine Wißbegierde fand Goethe in dem Orbus pictus, in Merians Kupferbibel, in der Acerra philologica und ähnlichen Werken, die damals die Stelle einer noch nicht vorhandenen Kinderbibliothek vertraten. Ovids Metamorphosen machten ihn mit der Mythologie bekannt. Seine Phantasie ward dadurch vielfach angeregt zu allerlei poetischen Entwürfen. Eine wohlthätige Wirkung auf sein Gemüth verdankte er den moralischen Schilderungen in Fenelon's Telemach. Unterhaltung und Belehrung schöpfte er ais Robinson Crusoe und aus der Insel Felsenburg. Aus dem romantischen Gebiet ward er wieder in die Wirklichkeit zurückgeführt durch die anziehenden Schilderungen in Anton's Reise um die Welt. Ein Zufall verhalf ihm in dem Laden eines Antiquars zum Besitz einer Reihe mannigfacher Schriften. Darunter befanden sich der Eulenspiegel, die vier Haimonskinder, die schöne Magelone, der Kaiser Octavian, Fortunatus und ähnliche Volksbücher.
Dieser anmuthigen Lectüre mußte Goethe, als sie kaum begonnen, wieder entsagen. Er ward von den Blattern befallen, und brachte unter einem heftigen Fieber mehrere Tage beinahe blind zu. Die Aeußerung einer seiner Tanten: "Ach, Wolfgang, wie häßlich bist Du geworden?" kränkte ihn um so mehr, da die Blattern auf seinem Gesicht durchaus keine Spur zurückgelassen hatten. Auch von den Masern blieb er nicht verschont, und hatte dadurch Gelegenheit, sich im Stoicismus zu üben. Einigen Trost gewährte es ihm, daß er auf seinem Krankenlager an seinem jüngern Bruder Jacob, der in der Blüthe seiner Jahre starb, einen Leidensgefährten hatte.
Seines Vaters Strenge nöthigte ihn, durch verdoppelte Unterrichtsstunden das während der Krankheit Versäumte wieder nachzuholen. Die Wohnung seiner Großeltern und ein daran stoßender Garten in der Friedberger Straße bot ihm dann und wann einen Zufluchtsort, sich seinen Lectionen zu entziehen. Besonders angenehm war ihm auch der Aufenthalt in dem Laden seiner Tante, Maria Melber, der Gattin eines Gewürzhändlers, die ihn mit allerlei Naschwerk beschenkte. Ihre Schwester war mit dem Pfarrer und Consistorialrath Stark verheiratet, in dessen Bibliothek ein anderer geistiger Genuß sich ihm darbot. In der Büchersammlung jenes gelehrten Mannes fand Goethe eine prosaische Uebersetzung des Homer. Dieser Dichter und bald nachher Virgil machten einen tiefen und bleibenden Eindruck auf das poetisch gestimmte Gemüth des Knaben.
Weniger befriedigte sein Herz die trockene Moral, die ihm der bisher ertheilte Religionsunterricht gepredigt hatte. Er ward irre an den christlichen Dogmen. Entzweit mit seinen religiösen Begriffen, kam ihm der sonderbare Gedanke, nach dem Beispiel der Separatisten, Herrnhuter und anderer Secten, mit dem höchsten Wesen, das er aus seinem Walten in der Natur längst erkannt, sich in eine Art von unmittelbarer Verbindung zu setzen, und demselben nach alttestamentlicher Weise einen Altar zu errichten. Dazu benutzte er ein rothlakirtes, mit goldnen Blumen verziertes Musikpult, auf welchem er mehrere Räucherkerzen anzündete. Das Andachtsopfer stieg empor, mißlang jedoch bei der Wiederholung durch einen unglücklichen Zufall so gänzlich, daß die damit verbundene Feuersgefahr ihn warnte, in solcher Weise wieder dem höchsten Wesen sich zu nähern.
Aus den friedlichen und ruhigen Zuständen, in denen Goethe seine Kindheit verlebt hatte, ward er aufgeschreckt durch den Ausbruch des siebenjährigen Krieges im Jahr 1756. Er war damals acht Jahre alt. Was er von Friedrich II und seiner Persönlichkeit erzählen gehört, begeisterte ihn. Er schrieb sich die Kriegslieder ab, durch welche Gleim unter der Maske eines preußischen Grenadiers die Heldenthaten des großen Königs verherrlichte. Seinen Lieblingshelden verkleinern zu hören, war ihm ein unerträgliches Gefühl. Als sich nach einigen Jahren durch die Theilnahme Frankreichs der Kriegsschauplatz bis in die Nähe Frankfurts zu ziehen drohte, hatte dieß für Goethe die Folge, daß er weniger, als bisher, das elterliche Haus verlassen durfte.
Unter mannichfachen Beschäftigungen griff er wieder nach den Figuren des Puppenspiels, das er von seiner Großmutter zum Geschenk erhalten hatte. Mit Hülfe einiger Jugendgespielen ward das frühere Drama, für welches die Puppen hinreichten, mehrmals vorgestellt. Die Garderobe und die Decorationen nach und nach zu verändern, war eine Lieblingsbeschäftigung des Knaben. Sein Versuch, größere Stücke ufzuführen [aufzuführen], scheiterte jedoch an dem beschränkten Schauplatz. Unter diesen Umständen leistete ihm ein Bedienter seines Vaters wesentliche Dienste, indem er ihm Panzer und Rüstungen verfertigen half. Goethe und seine Gespielen ergötzten sich eine Zeitlang an den gegenseitigen Parteiungen und Gefechten, die mitunter in ernsthafte Händel ausarteten, bei denen es ohne derbe Schläge nicht abging.
Durch einen andern Zeitvertreib, durch das Talent, Mährchen zu erzählen, die er meist selbst erfunden, empfahl sich Goethe seinen Jugendfreunden. Eins dieser Mährchen, "der neue Paris" betitelt, hat sich in Goethe's gesammelten Werken erhalten. Er bediente sich dabei des Kunstgriffs, in eigner Person zu sprechen, wodurch die von ihm geschilderten abenteuerlichen Ereignisse den Anschein bekamen, als wären sie ihm selbst begegnet. Durch die Localitäten, die er in seine Mährchen verwebte, erhöhte er ihre Wirkung auf seine Zuhörer, die unter lautem Beifall sich beeilten, den in dem Mährchen "der neue Paris" erwähnten Ort mit den Nußbäumen, der Tafel und dem Brunnen aufzusuchen, in ihren Berichten über das, was sie gefunden, jedoch sehr variirten. Erhalten hat sich noch aus jener Zeit (1757) in einem alten Exercitienheft Goethe's ein von ihm verfaßtes Gespräch, "Wolfgang und Maximilian" überschrieben. In diesem Dialog, dem ersten dramatischen Versuch des achtjährigen Knaben trat besonders die Naivität hervor, womit Goethe, durch seinen Vornamen Wolfgang bezeichnet, seinem Schulcameraden Maximilian gegenüber, sich als den Soliden und Wohlerzogenen geschildert hatte.
Einen tiefen Eindruck auf Goethe's poetisch gestimmtes Gemüth machte um diese Zeit (1757) Klopstocks Messias. Er mußte dies berühmte Epos heimlich lesen, denn sein Vater, durch Canitz, Hagedorn, Gellert und andere Dichter an den Reim gewöhnt, äußerte die entschiedenste Abneigung gegen den Hexameter, oder, wie er sich ausdrückte, gegen Verse, die eigentlich gar keine Verse wären. Goethe und seine Schwester Cornelia benutzten jede Freistunde, um in irgend einem Winkel verborgen, die zartesten und ergreifendsten Stellen der Messiade sich einzuprägen, nächst Portia's Traum besonders das verzweiflungsvolle Gespräch zwischen Satan und Adramelech im zehnten Gesange der Klopstockschen Dichtung. Als jene geistlichen Verwünschungen, die sie schon oft recitirt, einst ziemlich laut hinter dem Ofen, wo sie sich verborgen hatten, hervorschollen, ließ der Barbier, der eben Goethe's Vater rasirte, vor Schreck das Seifenbecken fallen, wodurch der Alte, über und über beschüttet, doch nicht von seiner Abneigung gegen die Hexameter, denen er jenes Unheil beimaß, geheilt ward.
Goethe's Kunstsinn ward geweckt und genährt, als der französische Königslieutenant Graf Thorane, ein enthusiastischer Freund und Kenner von Gemälden, bald nach der Besitznahme Frankfurts durch die französischen Truppen, in Goethe's elterlichem Hause einquartirt ward. Das Mansardzimmer, welches Goethe bisher bewohnt hatte, war dem Grafen zu einem Atelier eingeräumt worden, in welchem er mehrere Frankfurter Künstler für sich arbeiten ließ. Für Goethe, der ihn dort oft besuchte, ging daraus noch der Vortheil hervor, daß er in der französischen Sprache, die er bisher sehr vernachlässigt, sich immer mehr vervollkommnete. Mangelhaft blieb jedoch seine Kenntniß des Französischen, da er sie nicht auf dem Wege eines grammatikalischen Unterrichts erlangt hatte.
Dies ward ihm besonders fühlbar, als ein Freibillet ihm den Eintritt in das französische Theater verschaffte, das damals in Franfurt errichtet worden war. Da er, besonders im Lustspiel, wo sehr schnell gesprochen ward, nur wenig von den Reden der Schauspieler verstand, richtete er seine Aufmerksamkeit vorzugsweise auf die Bewegung der auftretenden Personen und auf ihre Mimik. Er gelangte dadurch zu einer, wenn auch nur oberflächlichen Kenntniß des französischen Lust- und Trauerspiels, und ward einigermaßen vertraut mit den dramatischen Regeln der französischen Bühne. Der abgemessene Schritt, in dem sich die Tragödie bewegte, der gleichmäßige Tact der Alexandriner machte auf ihn einen wunderbaren Eindruck. Aus Racine's Trauerspielen, die er in seines Vaters Bibliothek fand, recitirte er mehrere auswendig gelernte Stellen nach Art und Weise der französischen Schauspieler, deren Ton und Accent sich seinem Ohr scharf eingeprägt hatte. Fast noch mehr als die Tragödie, behagten ihm die damals sehr beliebten Lustspiele von Destouches, Marivaux, la Chaussée und andern französischen Dichtern. Auch mehrere Opern und Schäferspiele sagten seinem damaligen Geschmacke zu, und noch lange nachher erinnerte er sich mit Vergnügen einzelner Scenen und der darin auftretenden Personen.
Seinem Wunsch, auch mit der innern Einrichtung des Theaters bekannt zu werden, kam ein französischer Knabe, Derones mit Namen, zuvor, der ihn auf die Bühne und in die Garderobe führte. Der Uebermuth und die Prahlerei seines jungen Freundes ward ihm jedoch bald so lästig, daß zwischen beiden ein sehr gespanntes Verhältniß eintrat, welches sogar eine Herausforderung und ein Duell in ächt theatralischer Weise, dann aber wieder eine aufrichtige Versöhnung zur Folge hatte. Erleichtert ward ihm dadurch sein häufiger Theaterbesuch, den aber sein Vater sehr lebhaft mißbilligte. Die Bühne, meinte er, habe durchaus keinen Nutzen. Goethe bot seinen ganzen Scharfsinn auf, ihn vom Gegentheil zu überzeugen. Lessing's Trauerspiel, Miß Sara Sampson, der Kaufmann von London und ähnliche Stücke lieferten ihm die Beweise, wie das Laster im Glück, die Tugend im Unglück durch die poetische Gerechtigkeit wieder ausgeglichen werde. Dieser Behauptung, gegen die er nichts einzuwenden vermochte, stellte Goethes Vater den Einwurf entgegen, daß die in die theatralischen Vorstellungen oft verwebten Schelmstreiche und Betrügereien auf das unverdorbene Gemüth der Jugend nicht anders als nachtheilig wirken könnten. Wenn ihn irgend etwas mit der Bühne versöhnen konnte, so war es die Bemerkung, daß sein Sohn dadurch seine französischen Sprachkenntnisse vermehrte.
Diese Kenntnisse benutzte Goethe zum Entwurf eines dramatischen Products, in welchem meistens allegorische Personen, wie Jupiter, Merkur und andere Götter mit ihren bekannten Attributen auftraten. Das Stück bestand größtentheils in Reminiscenzen aus Ovid's Metamorphosen. Seine Autoreitelkeit fühlte sich jedoch gekränkt, als der unlängst erwähnte französische Knabe, welchem er sein Product mitgetheilt und ihn um sein Urtheil gebeten, sich erlaubte, mehrere Stellen, ja ganze Scenen zu streichen. Für Goethe hatte dies Verfahren den Nutzen, daß er mit der französischen Dramaturgie, gegen deren Regeln er gefehlt haben sollte, sich näher bekannt machte. Zu diesem Zweck las er Corneille's Abhandlung über die Aristotelische dreifache Einheit, und studirte Racine's Werke, die ihm zum Theil schon bekannt waren, da er einige Jahre früher auf einem Kindertheater in dem Trauerspiel Brittannicus den Nero gespielt hatte. Bei seiner immer noch sehr mangelhaften Kenntniß des Französischen förderten ihn jedoch diese Studien äußerst wenig, und er gab sie wieder auf, als er nicht ohne Mühe die Vorreden gelesen hatte, in denen Corneille und Racine sich gegen die Kritiker und das Publikum vertheidigten.