Inhalt

Vorwort

Der Bergdichter

Weihnachtliche Erinnerungen

Hüttenweihnacht

Hamsterfreuden

Geburtstagsfeier im Chaos

Die staade Zeit

Andächtige Überlegungen

Die Debbenharter Passionsspiele

Das Spiel beginnt

Das neue Ziel

Weihnachtliche Träume

Sonnenuntergang 1705

O Tannenbaum

Weihnachtszeit der Antipoden

Der Nikolaus beim Bergbund

Fahrradkapriolen im Winter

Der gestutzte Lenker

Das rettende Fahrrad des Großvaters

Winterkurven auf dem Hochrad

Weder Schuster noch Millionär

Außerhalb des Spielplans

Weihnachtsferienzeit

Adalwolf, der Siegreiche

Die schönste Nebensache der Welt?

Vergebliche Platzbesetzung

Fansein ist alles

Vorwort

Kann das neue, das siebzehnte Opus von Wolfgang Schierlitz mit »altersmilde« gerecht umschrieben werden?

Schließlich ist der Autor inzwischen nicht mehr der Jüngste und darf damit – so könnte man glauben – Wut und Surreales, Satire und beißenden Humor, Schenkelklopfen und Draufhauen auf ein Maß reduzieren, das der interessanten Kombination von Wein und Valium nahekommt.

Wenn ich die Geschichte »Hüttenweihnacht« lese, dann sehe ich Wolfgang Schierlitz vor mir als den sanftmütigen Beobachter bei Kerzenschein auf einem Schaukelstuhl wiegend mit einem Glas Rotwein in der Linken, das Notizbuch auf dem Oberschenkel und den Stift in der Rechten. Und im Hintergrund knistert natürlich ein behagliches Kaminfeuer. Ein echter Weihnachtsgeschichtenerzähler eben. Für die ganze Familie. Trautes Heim. Frohes Fest.

Frohes Fest? Nun ja. Mit erst neugierigen, dann schließlich angstgeweiteten Augen schauen wir auf das weihnachtliche Krippenspiel in Debbenhardt. Da lodert die behagliche Glut doch bedenklich auf, die Flammen schlagen uns aus dem Kamin entgegen. Statt auf dem Schaukelstuhl sehe ich Wolfgang Schierlitz nun auf einem rasenden E-Bike sitzen. Sitzen? Er steht in den Pedalen und kreist in der Stube. Den Stift als Waffe schwingend und schwitzend die Pannennadeln und schließlich den ganzen Pannenbaum samt Pannenzapfen in das lodernde, bereits in den Raum schießende Feuer werfend. Auf dass es sein gefräßiges Werk vollende. Die Hütte brennt. Ein grandioser Feuersturm schlägt uns entgegen.

Ich schätze die alten Werke des jungen Wolfgang Schierlitz sehr und ich mag auch die jungen Werke genauso. Die neue Sammlung skurriler Geschichten ist anders, weiterentwickelt. So, wie sich der Sprachkünstler als Kreativer ständig ausprobiert hat und weiterentwickelt, so spiegelt sich das natürlich auch in seinen Werken. Die lustigen Adventsgeschichten aus »Weihnachts-Blues« bereiten mir eine besondere Freude, weil sie so facettenreich sind.

Nach einem Feuerwerk wahnwitziger Weihnachtsideen ist es aber auch mal erholsam, zwischendurch mit einer heimeligen Geschichte beruhigt im Lehnstuhl zurückzusinken, damit wir unser Glaserl Wein ganz in Ruhe zu Ende trinken können.

Henning Gralla, Grafiker und Maler

Der Bergdichter

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Der Schnee liegt meterhoch und glitzert. Unter azurblauem Himmel steigen wir langsam auf. Unsere weihnachtliche Skitour in eine völlig abgelegene Gegend führt uns im Sonnenschein zunächst zur verfallenden Klausenhütte, die vom Landratsamt schon vor Jahren geschlossen wurde. Waren es, wie es heißt, die hygienischen Bestimmungen, die auf Berghütten immer nachdrücklicher gefordert werden? Das Dach ist durch die Schneelast bereits teilweise eingefallen. Eine hell leuchtende Dezembersonne lässt jetzt um die Mittagszeit die Temperatur erheblich über den Gefrierpunkt ansteigen. Wir sitzen auf der brüchigen Terrasse, und die Vergangenheit, die weihnachtlichen Feste, der Ausklang der vielen Jahre an Silvester, die zünftigen Hüttenabende, erstehen wieder aus der Erinnerung. Von der kaputten Dachrinne und den daran hängenden langen Eiszapfen beginnt es immer stärker zu tropfen. Dann lösen sich mehrere, sausen wie Torpedos herab und glänzen silbrig im Schnee. Aus den Fensterhöhlen schauen viele Jahre Vergangenheit heraus.

Der ehemalige Wirt und die Resi fragen uns heute nicht mehr nach unseren Wünschen. Schwer bepackt mit Proviant, kamen sie oft von der Tiroler Seite durch das lange Tal herauf. Die Verköstigung da oben war einfach, reichlich und immer schmackhaft. Es war ein munteres Volk, damals. Die steirische Harmonika und eine klapprige Gitarre spielten zum Tanz. Die schweren Skistiefel trampelten über den alten Holzboden. Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken, und drinnen lagen wir musikalisch-fantastisch vor Madagaskar, oder es erklang weihnachtlich beschaulicher: »Lasst uns froh und munter sein.«

Und das waren wir: Eine verschworene Gemeinschaft von zünftigen Bergfexen der damaligen Jahre. Der Franz, unser Wirt, seines Zeichens Hüttenchef, stellte eine Aufschnittplatte nach der anderen mit Käse, Essiggurken und Bierwurst auf die narbigen Tische. Herber Tiroler Rotwein floss in Strömen, und die Stimmung war einzigartig grandios. Das waren oft die damaligen weihnachtlichen Festtage. Die Abfahrt unter seiner Führung (er war ehemaliger Skirennfahrer) durch das Wildbachtal hinunter zu später Stunde, wenn der Vollmond sein fahles Licht spendete, wurde im Slalom durch die tiefverschneiten Bäume zum speziellen Erlebnis. Oft genug kamen wir von oben bis unten weiß wie die Schneemänner am Parkplatz an.

Heute sitzen wir sinnend auf der Terrasse. Die Zeit vergeht langsamer, aber wie immer geht sie unaufhaltsam weiter. Es ist still. Vom bewaldeten Hügel herüber ruft ein Kuckuck. Der Wind weht von Süden über den weiten Talgrund von Österreich herauf. Es ist meditative Föhnstimmung, und wir genießen diese totale Entspannung. Doch dann müssen wir weiter. Wir schnallen die Skier wieder an, und der Rucksack wird geschultert. Einmal noch sehen wir zurück. Ein großes, buntes Bündel Erinnerungen nehmen wir mit. Noch staubt der Pulverschnee, bevor ihn die zunehmende Wärme des Föhneinbruchs am Boden festhält. Nahe dem Zinnenberg abseits aller gängigen Routen kommen wir zu einer kleinen, versteckten Hütte. In einer Senke zwischen ein paar Felstrümmern auf einer gemütlichen Bank sitzt ein verwegener Typ in der nachmittäglichen Sonne und ist überrascht: Ja, wo kommt ihr denn her?

Diese Frage schaut aus seinem verwitterten, bärtigen Gesicht heraus. Er hat ein Notizbuch in der Hand und sagt nachdenklich zunächst aber nichts. Wir setzen uns dazu.

Dann meint er verdrießlich: »Jetzt war ich gerade an einem schönen Weihnachtsgedicht und ihr habt mich total verwirrt. Da kommt doch sonst niemand herüber. Noch dazu im Winter. Wie soll ich denn jetzt einen passenden Schluss für diese Eingebung finden?«

Hin und wieder ist man doch erstaunt, welche unentdeckten Talente zufällig irgendwo im Gebirge dichterisch tätig sind.

»Zeig her«, meint der Marinus, unser poetisch veranlagter Freund, einsilbig. Dann liest er vor:

»Wintermeister Nikolaus

braust im Sturm

zum Wald hinaus.

Und vom nahen Felsenturm

schreit der Habicht

in den Schnee:

Wo bleibt die Sicht

hinab zum Reh.«

Der Marinus schüttelt den Kopf. »Den Georg-Büchner-Preis wirst du dafür leider nicht bekommen«, stellt er sachlich und fachkundig fest.

Dann wird ein anderes Problem vordergründig. Geringschätzig, aber überzeugt meint der Waldschrat: »Wie kann man nur mit solchen unpraktischen modernen Latten geradeaus fahren?«

Gemeint sind unsere unterschiedlich breiten Carving-Tourenskier. Es sind zwar nicht mehr die allerneuesten, aber sie sehen noch ganz passabel und vor allem modern aus, so glauben wir zumindest. Dort, wo die Bindung montiert ist, sind sie, wie zurzeit üblich, schmaler gehalten. Unser Blick fällt auf seine vorsintflutlichen Bretter, die neben dem Hütteneingang lehnen. Sie sind aus Holz, ungefähr 2,30 Meter lang und scheinen mindestens zwanzig Jahre alt zu sein. Er folgt unserem Blick.

»Die Länge bringt die Geschwindigkeit«, stellt er fachkundig fest. Dann steht er auf und geht gebückt in seine Hüttenbehausung. Und wir stellen erstaunt fest, dass er mindestens 1,95 wenn nicht zwei Meter hoch ist. Die Zeit vergeht, und wir überlegen schon, ob wir aufbrechen sollen. Doch da erscheint er wieder im Türrahmen und winkt uns herein. Drinnen ist es dämmrig, auf dem Ofen blubbert und dampft es. Dann stellt er den gewaltigen Topf auf einen wurmstichigen Holztisch und holt aus einer Schublade ein paar verbogene Blechlöffel heraus.

»Das ist Graupensuppe mit Selleriepulver und Pfefferschoten«, informiert er uns nebenbei. »Mahlzeit!«

Wir setzen uns auf historisch aussehende, wackelige Stühle. Und schon beginnt er vorsichtig, die heiße, dicke Brühe aus dem Kessel zu löffeln. Was bleibt uns da anderes übrig, als dasselbe zu tun, wenn wir seine Gastfreundschaft nicht verletzen wollen? Auch wir fangen zaghaft an, blasend und schlürfend zu löffeln. Aber diese spezielle Suppe ist nicht nur heiß, sondern auch äußerst scharf. Erstaunlicherweise schmeckt sie wirklich köstlich, obwohl wir durch die beachtliche Schärfe die Tränen kaum zurückhalten können. Wir schnappen nach Luft und das Wort »Durst« erobert bald unsere Sinne. Zum Glück stellt er jetzt ein paar Maßkrüge auf den Tisch, öffnet eine Klappe im Boden, verschwindet und kommt gleich darauf mit einem Arm voller Märzenbierflaschen wieder an die Oberfläche.

»Ihr müsst wissen, das ist ein besonderes, süffiges Edelstarkbier. Ich bin Spezialist und war viele Jahre als Braumeister in der besten Brauerei weit und breit in Aschau tätig. Das wichtigste an einem bekömmlichen Starkbier ist das naturreine Quellwasser, mit dem es gebraut wird.«

Er füllt die Maßkrüge, und wir prosten uns lautstark klirrend zu. Das kühle Bier schmeckt hervorragend. Und dann bemerkt er nebenbei ergänzend, aber sichtlich stolz: »Dieses Edelstoffbier kommt sozusagen aus der besten Brauerei auf der ganzen Erde.«

Wie sich weiter herausstellt, ist er auch als Schiffskoch beinahe weltweit unterwegs gewesen. »Jetzt habe ich hier oben, wo ich die meiste Zeit des Jahres in meditativer Einsamkeit faulenze, meinen Ruhepol gefunden. Diese Auszeit habe ich in Madagaskar beschlossen, als die Cholera auf dem Schiff ausgebrochen war.«

Dann kommt er auch noch mit einer Flasche echtem Gebirgsenzian daher, und allmählich gerät unsere kleine Gesellschaft etwas aus den Fugen. Das helle, sonnige Licht des Nachmittags draußen ist diffuser geworden. Wir denken an die um diese Jahreszeit früh einbrechende Dunkelheit. Und schon ist, auf dem Höhepunkt unserer Stimmung, wieder Abschied angesagt. Dieser unabsehbare Spaßverderber, nämlich die Zeit, muss ja leider immer irgendwann eintreffen.

Der Marinus war in seinem Kopf fleißig dichterisch tätig und sagt: »Für dein erhabenes Gedicht habe ich einen fortsetzungsähnlichen Schluss gefunden:

Weiter saus ich

mit den langen

Brettern eiliglich,

kurzes Bangen,

wenn der Nikolausi

liegt im Schnee

o Graus – gibts a Pausi.

Juchee!«

Der große Dichter ist aber offensichtlich überhaupt nicht begeistert von den neuen Zeilen. Dann geht er abrupt hinaus. Wir sehen durch die offene Tür, wie er seine langen Latten anlegt. Wir folgen, bier- und schnapsselig, doch etwas melancholisch, und steigen ebenfalls in die Skibindung. Ein frischer, warmer Föhnwind weht uns entgegen. Dünne, grauviolette Wolkenschleier haben sich ausgebreitet. Die Fichten stehen blauschwarz, fast der ganze Schnee ist von den Bäumen abgefallen. Der Bergpanoramablick ist durchsichtig und klar geworden. Er steht noch kurz auf seinen langen Brettern, schaut uns kopfschüttelnd an und schon nimmt er ohne Abschiedsgruß vom steilen Hügel hinunter eine ungeahnte, rasante Geschwindigkeit auf.

Unsere Rufe hört er sicher nicht mehr: »Danke, danke lieber Meister für die feine Graupensuppe!«

Ohne Schwung wird er pfeilgerade immer schneller, verschwindet hinter Bäumen, taucht wieder auf und ist dann endgültig im düster werdenden, späten Nachmittag wie eine Fata Morgana verschwunden.

»Der braucht keine modernen Carvingbretter für dieses Tempo. Er hat seine Hütte nicht einmal zugesperrt«, stellt unser Dichter nachdenklich fest. »Was ist da schon zu holen in seiner Räuberbude. Und jeder mögliche Dieb wäre verblüfft über sein problemloses, leichtes Eindringen. Ein Stehlratz mit Charakter würde sogar ein paar herzliche Grüße zurücklassen. Wenn es hier oben überhaupt so einen Typen gibt.«

Dann sausen wir vorsichtig und ziemlich angetrunken in die entgegengesetzte Richtung und in die diffuse Zukunft hinein. Es dauert länger. Vor allem das abwechselnde Ausbuddeln aus dem weichen Schnee braucht doch seine Zeit. Es ist fast schon dunkel, als wir wie unwirkliche Schatten ziemlich frohgemut, beschwingt und schneegepudert unten ankommen.

Weihnachtliche Erinnerungen

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Damals, als wir noch über hochfliegende Unternehmungen diskutierten, war alles grenzenloser. An den Weihnachtsfeiertagen lagen Panorama- und Landkarten rotweinfleckig auf dem wackeligen, uralten Holztisch bei einem einschichtig gebliebenen Bergsteigerspezi, und viele neue Abenteuer entstanden in unserer Fantasie.

»Prost«, rief er euphorisch in das in wenigen Tagen zu Ende gehende alte Jahr hinein und wir ließen die Gläser klingen. Auch unsere gegenseitigen Weihnachtsgeschenke waren ganz auf die bergsteigerische Zukunft abgestimmt. Von Karabinerhaken, Repschnüren, speziellen Handschuhen bis hin zu Skibrillen reichte die praktische Geschenkepalette.

Nachdenklich meinte der Werner, unser geprüfter Skitouren- und Kletterführer: »Ihr müsst aber noch viel lernen und vor allem einen kühlen Kopf und die Übersicht behalten, auch wenn ihr noch so gut trainiert seid. Der Berg bleibt immer unberechenbar. Das habt ihr sicher schon gelernt.« Er war unser Guru und sprach aus seiner langjährigen Erfahrung. Damals war uns kein Berg zu hoch und keine Mühsal konnte uns abschrecken. Unsere zahlreichen, jetzt im Nachhinein weinselig-gewürzten Kletter-, Berg- und Skihochtouren-Erlebnisse waren umfangreicher geworden. Der Profi und Freund, der diesmal ausnahmsweise keine schwierige Winterwandbegehung im Terminkalender stehen hatte, trainierte uns – sogar theoretisch und mental – an den Weihnachtsfeiertagen. Er war bereits dutzende Male zu allen Jahreszeiten in der Watzmann-Ostwand gewesen, hatte sie von allen Seiten durchklettert, war Eiger-Nordwand-Spezialist und besaß sogar höchste Himalaya-Erfahrungen, nicht zuletzt durch seine erfrorenen Zehen.

»Ich habe unter anderem auch den Nevado Ojos del Salado, den höchsten Vulkan der Welt, in Südamerika bestiegen.« Diese Superlative hat gesessen.

Aber die Anna-Lena darauf, die nichts ernst nehmen kann: »Und? Ist er ausgebrochen? Bist du da oben in der Lava-Glut zum Glühweintrinker geworden?«

Doch solche Fragen ignoriert unser weiser Guru. Obwohl er vielleicht auch hin und wieder die ganze Unzulänglichkeit unserer Welt im Humor durchscheinen sieht. Wir prosten uns wieder zu, nur die Anna-Lena bleibt eisern bei der Cola.

»Wenn du so nüchtern weitermachst, kollabierst du bestimmt noch«, meint der Werner ernst. Aber zurück zu unseren Erlebnissen.

Alles begann im Sommer mit dem Überklettern der Kampenwand in immer kürzerer Zeit. Das war unser Ausdauertraining.

»Nun könnt ihr größere Touren anpacken«, stellte unser Bergführer noch zum Abschied sachlich fest, bevor er wieder nach Nepal verschwand.

Später kam der Hintergrat am König Ortler an die Reihe. Da waren wir schon ziemlich bergerfahren und höhentauglich geworden. Am Monte Rosa hatten wir den anspruchsvollen Lyskamm bezwungen. Der Mont Blanc an der Grenze zwischen Frankreich und Italien, mit 4.810 Metern der höchste Berg der Alpen, sollte unser nächstes Ziel werden. Ob dieser oder der Elbrus im russischen Kaukasus der höchste Berg Europas ist, bleibt umstritten, war uns aber gleichgültig. An Herbsttagen wehte der Wind durch die Lärchen- und Waldkiefernwälder zu den Felstürmen der Dolomiten und zu uns herauf. Der harzige Balsamduft bleibt unvergessen. Und die steilen, traumhaften Skiabfahrten nach der oft vielstündigen Bezwingung hochalpiner Gipfel stehen stolz in unseren Tagebüchern. Das ist lange her. Unser Vorbild war er, der Extrembergführer Werner Stattler, unser erfahrener Trainer. Er ist irgendwann hoch oben im höchsten Bergmassiv der Welt um die Weihnachtszeit verschollen. Das Bergsteigerblatt widmete ihm einen gebührenden Nachruf und wir, seine Schüler, wurden älter und nachdenklicher. Seine Mahnungen zur Vorsicht haben wir bisher nie vergessen. Doch oft denke ich zurück an die jungen, wilden Jahre, an die frühere Zeit, an unseren ungebändigten Optimismus wenn es bergauf ging. An die magischen Augenblicke nach innen und außen, von hoher Warte aus. Wenn der Herbst gegangen war, es nach Schnee roch und in unserer gepachteten Berghütte die Highlights der vergangenen Saison wieder zum Leben erweckt wurden. Dunkle Dezembertage und heller, weihnachtlicher Widerschein der Kerzen und Silberkugeln erscheinen aus der Vergangenheit. Wenn das ereignisreiche Jahr ausklingt. Wenn wir in der Geschwindigkeit der ablaufenden Jahre nach Fixpunkten suchen. Wenn in den Erinnerungen beinahe wieder alles Wirklichkeit wird.

Hüttenweihnacht

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Es schneit immer noch. Der Schneesturm saust orgelnd um die Hütte, und im Ofen prasseln die Scheite. Draußen wächst die weiße Mauer, und jedes Mal, wenn das spärliche Tageslicht langsam schwindet, muss einer hinaus, um die kleinen Hüttenfenster wieder freizukehren.

»Aber das ist doch wirklich eine Weihnachtszeit wie aus dem Bilderbuch«, tönt der Martl genüsslich. Er hat sich von der Nachbaralm durch den Schnee herübergekämpft. Kraftstrotzend, muskulös und schneidig blickt er in die Runde wie der ehemalige Herkules persönlich. Da sitzt er am rot glühenden, betagten Ofen und gibt seine fantastischen Erlebnisse zum Besten. Wenn man ihm glauben darf, sind seine gewagten Abenteuer aus den Jugoslawienkriegen ziemlich unheimlich und alles andere als weihnachtlich beschaulich.

»Wie ihr wisst, war ich ja immer ein Abenteurer, und meine Zeit in der Bundeswehr hat mich besonders geprägt«, meint er, total von sich überzeugt.

»Das merkt man auch sofort«, sagt die Anna-Lena ernst. »Aber hast du da selber denken dürfen oder musstest du dazu eine Genehmigung einholen?«

Verdutzt blickt er hoch, schenkt sich jedoch nebenbei sofort wieder ein neues Glas vom feinen Riesling ein. Spätlese. Es ist bereits das fünfte und die anderen lauschen faul, aber ungläubig seinen immer fantastischer werdenden, schaurigen Erlebnisberichten, die mit steigender Alkoholzufuhr mehr und mehr ausufern. Sie denken heimlich an »Tausendundeine Nacht«. Da geht es zwar poetischer, aber auch fast so wild zu. Die alten, teilweise gebrochenen Federn des uralten Kanapees knarzen und stöhnen. Denn darauf lümmeln sich die anderen Berg- und Kletterfreunde, der Adrian, der Elias, die Anna-Lena, der Marcel und die Emma-Pauline. In seinen ziemlich wilden, unglaublich spannenden und ungeheuerlichen Ausführungen ist er zunächst nur Sturmführer, dann Adjutant, aber bald schon Kommandeur mit besonders geheimen Aufträgen und irgendwelchen oberwichtigen Aufgaben. Seine Auszeichnungen und Abenteuer im Verbund eines verwilderten, kroatischen Partisanenhaufens in unzugänglicher Gebirgswildnis werden immer unglaubhafter.

»Angriff«, schreit er immer wieder, »Angriff!«

Die flackernden Kerzen und Strohsterne an der verkrüppelten, weihnachtlich ausgestatteten Minifichte zittern beeindruckt, ja, fast ängstlich. Vielleicht durch seine gewaltigen Ausbrüche? Er hat einen ziemlich roten Kopf, obwohl er Weißwein trinkt, und die anderen können ein ungläubiges Grinsen kaum verbergen. Schon leert er erneut sein Glas und jetzt packt er auch noch Humor aus: