Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin

Über Alessandro Baricco

Foto: © Eleonora Marangoni

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur (2018) und The Game. Topographie unserer digitalen Welt (2019).

Fußnoten

Dieser Hinweis bezieht sich auf die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. (A.d.Ü.)

(…) so soll die Musik (…) die Seele erheben, sie über ihrem Inhalte schweben machen und so eine Region ihr bilden, wo die Zurücknahme aus ihrem Versenktsein, das reine Empfinden ihrer selbst ungehindert statthaben kann.

G. W. F. Hegel

Vorlesungen über die Ästhetik

 

Bei Kühen, die symphonische Musik hören, steigt die Milchproduktion um 7,5% an.

Aus einer Studie der Universität von Michigan, Wisconsin

Manchmal werden Antworten deshalb besonders provokant formuliert, damit die dazugehörigen Fragen deutlicher zum Ausdruck kommen. Das ist zum Beispiel bei diesem Buch der Fall. Wenn man es liest, könnte man den Eindruck bekommen, es enthielte hauptsächlich Gewissheiten; beim Schreiben ging es mir jedoch in erster Linie darum, einige meiner Zweifel darzustellen. Fragen, die sich eigentlich jeder spontan stellen müsste, der aus Liebhaberei oder beruflich mit ernster Musik zu tun hat, und die ungefähr so lauten könnten: Kann man heute noch guten Gewissens von der kulturellen oder moralischen Überlegenheit ernster Musik sprechen? Entspricht die Art und Weise, wie sie konsumiert wird, nur anachronistischen Riten, oder hat sie noch etwas mit unserer Zeit zu tun? War die Neue Musik, dieses unantastbare und unbequeme Totem, ein intellektuelles Abenteuer oder nur ein raffinierter Schwindel? Und: Hat es heute noch Sinn, Musik zu komponieren, oder ist das eine unverbindliche Übung für wenige

Auf den ersten Blick scheint es sich um verschiedene Fragen zu handeln, aber in Wirklichkeit sind es nur die verschiedenen Aspekte einer einzigen Frage: Wie haben Theorie und Praxis der ernsten Musik auf den Zusammenstoß mit der Moderne reagiert? Die vier Essays in diesem Buch versuchen, darauf einige Antworten zu geben; vor allem geht es dabei jedoch darum, diese Frage genauer zu artikulieren und sie über das Niveau von Foyergeplauder zu erheben, indem sie mit einem theoretischen Unterbau versehen wird, der auch der Herausforderung einer wirklichen Reflexion standhält. Mir wäre es am liebsten, wenn die vier Kapitel wie lange Aphorismen gelesen würden: jene flüchtigen Momente, in denen das Denken sich in Bewegung setzt, bisweilen die Triebkraft des Paradoxons benutzt, unfundierte oder allzu gewagte Formulierungen wählt oder sich apodiktische Provokationen erlaubt und immer das Spektakuläre neuer, vorläufiger Wahrheiten sucht. Darin liegen zugleich die Stärken wie die Grenzen des Aphorismus: Er hebt das festgefahrene Denken mit Hilfe des dünnen, spitzen Hebels der Intuition aus den Angeln, aber selbst dann, wenn er sich in Form von unumstößlichen Sentenzen äußert, setzt er die Reflexion lediglich in Gang, niemals führt er sie bis zu Ende. Dieses Buch identifiziert sich mit dieser speziellen Form der Guerillataktik. Mit der List des Fragenstellens versucht es, ein konsolidiertes System von Gewissheiten zu erschüttern. Selbst dort, wo es

 

Vorneweg noch ein paar lexikalische Erläuterungen.

Ich verwende den Begriff »ernste Musik« für das, was oft auch als »klassische Musik« bezeichnet wird. Beide Begriffe sind möglich. Meine Wahl erschien mir lediglich ein klein wenig präziser.

Im dritten Kapitel geht es um zeitgenössische Musik. Mit dem Etikett »Neue Musik« ist jene Bewegung gemeint, die von der Wiener Avantgarde ausgeht, dann in Darmstadt1 theoretisch fundiert und schließlich von der sogenannten Zweiten Avantgarde wieder aufgenommen wird. Natürlich gab es im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur diese Musikströmung, und an vielen bedeutenden Kapiteln ihrer Geschichte haben Autoren mitgeschrieben, die zu dieser Bewegung ein zwiespältiges oder gar antagonistisches Verhältnis hatten oder haben. In dem Moment, in dem wir uns mit zeitgenössischer Musik auseinandersetzen, ist diese Strömung jedoch unweigerlich unser erstes und wichtigstes Gegenüber. Ich möchte noch hinzufügen, dass einige Betrachtungen über die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen diese Musik entstanden ist, sich hauptsächlich auf die Analysen der Situation in Italien gründen. Das restliche Europa und vor allem die USA könnten vielleicht

Zum Schluss: Ich verwende den Begriff »Moderne« auf ziemlich allgemeine und – man könnte sagen – undifferenzierte Weise. Auf anderen Gebieten, vor allem in der Philosophie, würde man ihn sehr viel genauer definieren müssen. Zweifellos beziehen sich viele der Betrachtungen in diesem Buch auf ein Phänomen, das man eher als »Postmoderne« bezeichnen müsste. Die Welt der ernsten Musik, die sich so hervorragend auf die Pflege der Vergangenheit versteht, ist jedoch wenig vertraut mit dem zeitgenössischen Denken. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, das Problem auf möglichst einfache Weise darzustellen. Und so verwende ich den ökumenischen Begriff der »Moderne« für den neuen Horizont, der entstand, nachdem jenes gesellschaftliche und ideologische Szenarium untergegangen war, das die Idee der ernsten Musik hervorgebracht hatte (das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts, die Romantik, der Idealismus). Mir ist klar, dass es sich um einen Horizont handelt, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt (vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute) und der unendlich viele Facetten hat: Sie alle zu berücksichtigen würde jedoch diesem Buch nicht zu mehr Wahrheit, sondern nur zu mehr Unklarheit verhelfen. Zum Abschluss: Mit der Moderne ist es wie mit dem Jazz. »Wenn du erst fragen musst, was es ist, wirst du es nie erfahren.« (Louis Armstrong)

Die Ideologie der ernsten Musik

Wie so oft beeinträchtigt auch hier die mangelnde

Mehr als man allgemein zugeben will, handelt es sich um einen ebenso energisch wie blind geführten Kreuzzug: Der Konsument ernster Musik verteidigt etwas, was er gar nicht kennt. Wie in gewissen riesigen Reichen vergangener Zeiten ist es auch hier leichter, jemanden zu finden, der bereit ist, die Grenzen des Reichs zu verteidigen, als jemanden, der diese Grenzen tatsächlich gesehen hat. Die Besonderheit ernster Musik und ihre vermeintliche kulturelle Vorrangstellung werden selten und, wenn überhaupt,

 

Würden wir das Publikum, das Konzertpublikum, fragen, worin sich eigentlich die ernste Musik von der Popmusik unterscheidet, also Berio von Sting und Vivaldi von Elvis, bekäme man einigen Aufschluss über die tausend Missverständnisse, die sich um diesen ganzen Komplex ranken. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Leute mit jener synthetischen Intelligenz, die das Gegenteil unkonventionellen Denkens ist, einige grundsätzliche Argumente nennen würden wie zum Beispiel: »Ernste Musik ist schwieriger, komplexer« oder »Popmusik ist reine Unterhaltungsmusik, während die klassische Musik einen Gehalt hat, eine geistige, ideelle Natur«. Solche Sätze haben wie andere Gemeinplätze den Vorteil, etwas Wahres auf falsche Weise auszudrücken. Man erkennt darin die beiden Seiten einer einzigen Überzeugung: Die ernste Musik verdankt ihre Besonderheit und ihre Vorrangstellung ihrer Fähigkeit – mit Hilfe des besseren Artikulationsvermögens ihrer Sprache –, die Grenzen der Immanenz zu überschreiten und uns in ein Jenseits zu entführen, das nicht genau definiert ist, aber irgendwie mit Begriffen wie Herz, Geist oder

Es ist nicht falsch zu sagen, dass wir seine Entstehung der Romantik verdanken, genauer gesagt, ihrem Protomärtyrer Beethoven. Vermutlich spielt er in der Musikgeschichte eine ähnliche Rolle, wie Nietzsche sie Sokrates in der Geschichte der Philosophie zugeschrieben hat. Er hat einer Praxis sakrale Würden verliehen, die bis dahin ausgesprochen weltlich gewesen war, um nicht zu sagen kommerziell. Bei Beethoven treffen zum ersten Mal und legitimiert durch sein Genie folgende drei Phänomene aufeinander: 1. Der Musiker strebt nach der Überwindung der rein kommerziellen Auffassung seiner Arbeit. 2. Die Musik hat ausdrücklich geistige und philosophische Inhalte. 3. Grammatik und Syntax dieser Musik erreichen eine Komplexität, die die Aufnahmefähigkeit des Publikums des Öfteren auf die Probe stellt. Wie man sieht, sind diese drei Elemente eng miteinander verflochten in dem Sinne, als jedes jeweils die anderen beiden legitimiert; für sich allein wäre jedes einzelne nur ein bedeutungsloser Auswuchs. Zusammengeschweißt durch gegenseitige Notwendigkeit, bilden sie jedoch ein Modell. Sie stellen eine Formel dar, die – getragen von dem faszinierenden Pathos ihres Schöpfers, dem rebellischen, einsamen, kranken Genie – die Phantasie des bürgerlichen Publikums, das gerade im

Die Ideologie der »ernsten Musik« entsteht hier. Sie bezieht ihre Rolle aus dem Abstand, den diese Art von Musik plötzlich zwischen sich und einer bestimmten Musiktradition schafft, indem sie sich dieser gegenüber als überlegen betrachtet; eine Überlegenheit, die nicht mehr bloß sozialer, sondern in erster Linie geistiger Natur ist. Bis dahin hatte man diese Art von Musik sehr passend mit einem schönen Begriff aus dem sechzehnten Jahrhundert bezeichnet: als »Musica reservata«, eine elegante Umschreibung für gesellschaftliche Abgehobenheit. Das Beethoven’sche Modell hebt diese Berufung zur Elite nun über die prosaischen Grenzen von Vermögen oder Herkunft hinweg. Die ernste Musik ist die Musica reservata einer Menschheit, die über den Genuss hinausgehen und sich auf den Kurs des Geistes begeben will. Konnte sich das auserwählte Publikum jener Musik bis dahin des erlesensten Geschmacks rühmen, so durfte es jetzt zu Recht auch eine Vorrangstellung auf kulturellem und moralischem Gebiet beanspruchen.