Inhaltsverzeichnis
Für Hildegard Binswanger und Helmut Remmler
Vorwort
Zu den frühen Erinnerungen von Carl Gustav Jung gehört die Begegnung mit einer Männergestalt in langem schwarzem Gewand und mit einem breiten Hut – offensichtlich ein Priester in der damals üblichen Kleidung. In seiner Fantasie identifizierte Jung diese Schreckgestalt mit einem Jesuiten, hatte er doch kurz zuvor einem Gespräch zugehört, das sein Vater mit einem Amtskollegen in halb ärgerlichem, halb ängstlichem Ton über die gefährlichen Umtriebe der »Jesuiten« geführt hatte. Zu Tode erschrocken floh Jung auf den Dachboden des elterlichen Hauses und verkroch sich dort in den dunkelsten Winkel.
Die Schwarzröcke von damals sind aus unserem Straßenbild verschwunden. Auch ist Jung in späteren Jahren den Kirchenmännern nicht mehr schreckhaft ausgewichen, sondern hat mit den theologischen Vertretern beider Konfessionen beharrlich das offene Gespräch gesucht, die Jesuiten davon nicht ausgenommen. Allerdings ist er dabei meist auf Skepsis, vielfach sogar auf Ablehnung gestoßen.
Wenn heute zwei Jesuiten bei C.G. Jung eine Fülle spiritueller Anregungen entdecken, ja seinem ganzen Werk eine spirituelle Note zusprechen, dann ist das mehr als ein Kuriosum. Es zeigt sich hier das wachsende Bemühen um eine Integration von Spiritualität und Psychologie, von Transzendenzerfahrung und der seelischen Entwicklung des Menschen. Die Dualunion von Göttlichem und Menschlichem kommt in einem provokanten Spruch aus der Tradition des Talmud zum Ausdruck, wonach Gott und Mensch Zwillinge sind. Damit wird nicht einer Vermischung von Gott und Mensch das Wort geredet, wohl aber das Aufeinander-Bezogensein von Gott und Mensch herausgestellt.
Spiritualität ist nicht nur ein oberflächlicher Modebegriff, sondern ohne Zweifel ein Zeichen der Zeit (Sudbrack 1998), Zeichen einer vertieften Suche nach Sinn, Transzendenz und Hoffnung. Diese Suche mag rein äußerlich sichtbar werden, wenn Menschen zu besonderen Orten pilgern (Jakobsweg), in ihrem Kerngehalt ist sie jedoch eine Reise nach innen. Die zeitgenössische spirituelle Suche ist auch außerhalb der traditionellen, institutionalisierten Religionen mit ihren Ritualen, Gebäuden und heiligen Büchern anzutreffen. Man mag es bedauern, dass eine klare Definition des Spiritualitätsbegriffs und seine Abgrenzung von der Religiosität kaum möglich erscheinen. In der gegenwärtigen terminologischen Unbestimmtheit liegt jedoch auch eine große Chance: Viele spirituell suchende Zeitgenossen geben sich mit vorgefertigten Antworten nicht mehr zufrieden. Sie lassen nur gelten, was aus einer – oft mit großem Ernst vertieften – eigenen meditativen und sozialen Erfahrung stammt.
Der zeitgenössische spirituelle Erfahrungshunger wird vonseiten der offiziellen Religion – nicht zuletzt auch des Christentums – häufig als individualistische Selbstverwirklichung diskreditiert. In der derzeitigen geistigen Umbruchphase mit ihren Unsicherheiten ist C.G. Jung ein kundiger Ratgeber. Jung formulierte klar, dass spirituelle Selbst-Erfahrung, welche diesen Namen verdient, nicht das Geringste mit einem Ego trip gemein hat. Jungs Selbst-Begriff beinhaltet gerade das Überschreiten des kleinen Ichs (Ego) auf eine größere, transzendente Wirklichkeit hin, wie dies in jeder echten spirituellen Erfahrung gesucht wird.
Jung wurde von recht unterschiedlichen, bisweilen durchaus vage argumentierenden spirituellen Strömungen rezipiert, oft in sehr oberflächlicher Art. Jung selbst intendiert jedoch keineswegs eine gesichtslose Einheitsspiritualität, in der die Unterschiede der geistigen Traditionen verwischt werden. Obwohl in den Religionen Asiens zu Hause und von diesen Traditionen auch beeinflusst, betont er den eigenen spirituellen Weg des Westens und den mystischen Reichtum des jüdisch-christlichen Kulturraumes. Das wird anhand der in diesem Buch abgedruckten Textauswahl deutlich.
Unser Buch gliedert sich in sieben Kapitel, in deren Zentrum jeweils Gestalten stehen, die uns für C.G. Jungs spirituelle Suche charakteristisch erscheinen: Hiob – Niklaus von Flüe – Ignatius von Loyola – Asklepios – Jesus Christus – Maria – Faust und Zarathustra. Diese Auswahl hat zweifellos etwas Willkürliches an sich; sie hängt mit der »persönlichen Gleichung« der Autoren zusammen. Aber es scheint uns doch möglich, auf der Grundlage unserer Textauswahl einen »jungianischen« Zugang zur Spiritualität zu skizzieren. Wir selbst haben in der gemeinsamen Lektüre der hier abgedruckten Originaltexte C.G. Jungs Entdeckungen gemacht, Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen, die wir den Leserinnen und Lesern zugänglich machen wollen. Folgende Texte ziehen wir für unsere Auseinandersetzung heran: Den Band 11 der Gesammelten Werke C.G. Jungs (»Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion«) sowie die Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé (siehe Literaturverzeichnis). Darüber hinaus beziehen wir uns auf das Seminar zu Ignatius von Loyola, das uns als Typoskript vorlag und hier auszugsweise abgedruckt wird. Im ersten Teil der jeweiligen Kapitel finden sich die Originaltexte C.G. Jungs – typografisch von unserem im Anschluss darauf folgenden Dialog abgesetzt. Zur Orientierung für den Leser geben wir in Klammern den jeweiligen Paragrafen an, aus dem bei Jung zitiert wird. Die Texte C.G. Jungs werden originalgetreu abgedruckt, so wie sie sich in den Gesammelten Werken, bei Aniela Jaffé und in dem Typoskript finden.
Wir wählen für die Auseinandersetzung mit den Texten eine dialogische Methode, das heißt wir führen ein Gespräch miteinander und mit C.G. Jung, und wir laden mit dem vorliegenden Buch zur Beteiligung an diesem Gespräch ein, also zur Benennung eigener spiritueller Erfahrungen und Suchbewegungen und zu weiteren Entdeckungen im Lebenswerk Jungs.
Wir beginnen mit der Hiob-Gestalt, mit der sich der alt gewordene C.G. Jung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg identifiziert. Er wird dabei von der Frage nach dem Gottesbild und der Integration des Bösen umgetrieben.
Das zweite Kapitel wendet sich Niklaus von Flüe zu, dem merkwürdigen und auch in unseren Tagen leuchtenden Schweizer Mystiker. Jung nennt sich »Bruder« des mittelalterlichen Bruder Klaus -, was nicht nur auf die gemeinsame Schweizer Herkunft verweist, sondern auch auf den authentischen Kontakt zum Unbewussten.
Wie anders ist demgegenüber Ignatius von Loyola, baskischer Mystiker und Gründer der Gesellschaft Jesu, der wir Autoren angehören! Jung bezeichnete die spirituellen Übungen (Exerzitien) des Ignatius als »das Yoga des westlichen Menschen«. Wir setzen uns im dritten Kapitel mit einem in deutscher Sprache bislang unveröffentlichten Text aus Jungs Exerzitien-Seminaren auseinander und fragen: Was sagt der geistliche Erfahrungs- und Individuationsweg heutigen nach Gott suchenden Menschen?
Das vierte Kapitel betrachtet den griechischen Heilgott Asklepios, somit C.G. Jungs Arzt- und Patientsein, seine Sicht des Heilungsarchetyps und die heute viel diskutierte spirituelle Dimension des Heilens.
Jesus Christus galt in der christlichen Spätantike als der neue Asklepios, der göttliche Arzt und Heiland (Herzog 1994). Jung reflektiert das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und dem archetypischen Christussymbol. Wie lesen wir seine aus den 50er-Jahren stammenden analytischen Reflexionen heute – in einer Zeit des interreligiösen Dialogs, aber auch in einer Zeit der postmodernen Infragestellung eines »aufgeklärten«, historisch-kritischen Zugangs zur Person Jesu Christi? Mit diesen Fragen wollen wir uns im fünften Kapitel beschäftigen.
Im sechsten Kapitel greifen wir einen besonders originellen Aspekt von Jungs »Antwort auf Hiob« auf, nämlich den Bezug des (meist mit männlichen Attributen ausgestatteten) Gottes der jüdisch-christlichen Tradition zum Weiblichen, zur Weisheit und zu Maria. Wiederum geht es um die Spannung zwischen dem Historischen und dem Archetypischen, zwischen Miriam von Nazaret und der Himmelskönigin.
Im siebten Kapitel kehren wir gewissermaßen in Jungs Adoleszenz zurück. In seiner Autobiografie reflektiert er über die Erfahrung zweier unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile in seiner Person; er nennt sie Nr. 1 und Nr. 2. Diese lebenslange Spannung manifestierte sich auch in seiner späteren Entwicklung, etwa in seinem Schwanken zwischen den Fakultäten, zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Leitfiguren für Jung sind Goethes Faust, den er auf Rat der Mutter liest, und Nietzsches Zarathustra, den er kritisch beurteilt.
Wir fragen nach der Balance zwischen den Persönlichkeiten Nr. 1 und Nr. 2: bei Faust und Zarathustra, im Leben Jungs und in unserer eigenen »persönlichen Gleichung«. Und wir laden wiederum die Leserinnen und Leser ein, in den Texten C.G. Jungs ihre eigenen spirituellen Entdeckungen zu machen und darüber – wenn es sich ergibt – mit uns ins Gespräch zu kommen.
Bern und München am 31.7.2007,
Fest des Ignatius von Loyola
Eckhard Frick sj
Bruno Lautenschlager sj
1
Hiob
[Textauszug aus: Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke, Bd. 11: »Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion«, §§ 560-574; § 579]
[560] Das Buch Hiob ist ein Markstein auf dem langen Entwicklungswege eines göttlichen Dramas. Als das Buch entstand, lagen schon vielerlei Zeugnisse vor, welche ein widerspruchsvolles Bild Jahwes entworfen hatten, nämlich das Bild eines Gottes, der maßlos war in seinen Emotionen und an eben dieser Maßlosigkeit litt. Er gab es sich selber zu, dass ihn Zorn und Eifersucht verzehrten und dass ihm dieses Wissen leidvoll war. Einsicht bestand neben Einsichtslosigkeit, wie Güte neben Grausamkeit und wie Schöpferkraft neben Zerstörungswillen. Es war alles da, und keines hinderte das andere. Ein derartiger Zustand ist uns nur denkbar, wenn entweder kein reflektierendes Bewusstsein vorhanden ist, oder wenn die Reflexion ein bloß ohnmächtig Gegebenes und Mitvorkommendes darstellt. Ein Zustand, der solchermaßen beschaffen ist, kann nur als amoralisch bezeichnet werden.
[561] Wie die Menschen des Alten Testamentes ihren Gott empfanden, davon wissen wir durch die Zeugnisse der Heiligen Schrift. Doch nicht darum soll es sich hier handeln, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie ein christlich erzogener und gebildeter Mensch unserer Tage sich mit den göttlichen Finsternissen, die sich im Hiob-Buch enthüllen, auseinandersetzt, beziehungsweise wie diese auf ihn wirken. Es soll keine kühl abwägende, jeder Einzelheit gerecht werdende Exegese gegeben, sondern eine subjektive Reaktion dargestellt werden. Damit soll eine Stimme laut werden, die für viele, welche Ähnliches empfinden, spricht, und es soll eine Erschütterung zum Worte kommen, welche von dem durch nichts verschleierten Anblick göttlicher Wildheit und Ruchlosigkeit ausgelöst wird. Auch wenn wir um den Zwiespalt und das Leiden in der Gottheit wissen, so sind sie doch dermaßen unreflektiert und daher moralisch unwirksam, dass sie kein verständnisvolles Mitgefühl, sondern einen ebenso unreflektierten wie nachhaltigen Affekt erregen, welcher einer Wunde gleichkommt, die nur langsam heilt. Wie die Wunde der verletzenden Waffe entspricht, so der Affekt der verursachenden Gewalttat.
[562] Das Buch Hiob spielt nur die Rolle eines Paradigmas für die Art und Weise eines Gotteserlebnisses, das für unsere Zeit eine ganz besondere Bedeutung besitzt. Derartige Erfahrungen befallen den Menschen sowohl von innen wie von außen, und es hat keinen Zweck, sie rational umzudeuten und damit apotropäisch abzuschwächen. Man gibt sich besser den Affekt zu und unterwirft sich seiner Gewalt, als dass man sich seiner durch allerhand intellektuelle Operationen oder durch gefühlsmäßige Fluchtbewegungen entledigt. Obschon man durch den Affekt alle schlechten Eigenschaften der Gewalttat nachahmt und sich dadurch desselben Fehlers schuldig macht, so ist dies doch eben gerade der Zweck solchen Geschehens: es soll in den Menschen eindringen, und er soll dieser Wirkung unterliegen. Er muss daher affiziert sein, denn sonst hat die Wirkung ihn nicht erreicht. Er soll aber wissen oder vielmehr kennenlernen, was ihn affiziert hat, denn damit wandelt er die Blindheit der Gewalt einerseits und des Affektes andererseits in Erkenntnis.
[563] Aus diesem Grunde werde ich im Folgenden ungescheut und rücksichtslos dem Affekte das Wort lassen und auf Ungerechtigkeit Ungerechtes antworten, damit ich verstehen lerne, warum oder wozu Hiob verwundet wurde, und welche Folgen aus diesem Geschehnis für Jahwe sowohl wie für den Menschen erwachsen sind.
[564] Auf Jahwes Rede antwortet Hiob:
Siehe, ich bin zu gering, was soll ich dir antworten?
Ich lege die Hand auf meinen Mund.
Einmal habe ich geredet und wiederhole es nicht,
zweimal, und tue es nicht wieder.
(Hiob 39,34 f.)
[565] In der Tat, im unmittelbaren Anblick unendlicher Schöpferkraft ist dies für einen Zeugen, dem der Schreck beinahe völliger Vernichtung noch in allen Gliedern liegt, die einzig mögliche Antwort. Wie könnte ein im Staub kriechender, halb zertretener Menschenwurm unter den obwaltenden Umständen überhaupt vernünftigerweise anders antworten? Trotz seiner erbärmlichen Kleinheit und Schwäche weiß dieser Mensch, dass er einem übermenschlichen Wesen, das persönlich äußerst empfindlich ist, gegenübersteht und darum auf alle Fälle besser daran tut, sich aller kritischen Überlegungen zu enthalten, nicht zu sprechen von gewissen moralischen Ansprüchen, die man auch einem Gotte gegenüber glaubt haben zu dürfen.
[566] Jahwes Gerechtigkeit wird gepriesen. Vor ihm, als den gerechten Richter, könnte Hiob seine Klage und die Beteuerung seiner Unschuld wohl vorbringen. Aber er zweifelt an dieser Möglichkeit: »… wie kann ein Mensch Recht haben vor Gott?... Wollte ich ihn vor Gericht ziehen, er stünde nicht Rede... gilt es das Recht: wer will ihn vorladen?« Ohne Grund schlägt er ihm »viele Wunden... Schuldlose wie Schuldige vernichtet er! Wenn seine Geißel plötzlich tötet, so lacht er der Verzweiflung der Unschuldigen... ich weiß«, spricht Hiob zu Jahwe, »dass du mich nicht ledig sprichst. Ich soll ja (nun einmal) schuldig sein.« Wenn er sich schon reinigte, so würde Jahwe ihn »in Unrat tauchen... Denn er ist nicht ein Mensch, wie ich, dass ich ihm erwiderte, dass wir zusammen vor Gericht gingen« (Hiob 9,2-32). Hiob will aber seinen Standpunkt vor Jahwe erklären, seine Klage erheben, und sagt ihm, er wisse ja, dass er, Hiob, unschuldig sei, und dass ihn »niemand errettet aus deiner Hand« (Hiob 10,7). Es »gelüstet« ihn, »mit Gott zu rechten« (Hiob 13,3). Er will ihm »seine Wege ins Angesicht dartun« (Hiob 13,13). Er weiß, dass er »im Rechte« ist. Jahwe sollte ihn vorladen und ihm Rede stehen oder ihn wenigstens seine Klage vorbringen lassen. In richtiger Einschätzung des Missverhältnisses zwischen Gott und Mensch stellt er ihm die Frage: »Willst du ein verwehtes Blatt erschrecken und einen dürren Halm verfolgen?« (Hiob 13,25) Gott hat sein »Recht gebeugt« (Hiob 19,6). Er hat ihm sein »Recht genommen«. Er achtet nicht des Unrechtes. »… bis ich verscheide, beharre ich auf meiner Unschuld. An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht« (Hiob 27,2 und 5-6). Sein Freund Elihu glaubt nicht an die Ungerechtigkeit Jahwes: »Gott tut nicht Unrecht, und nicht verdreht der Allmächtige das Recht« (Hiob 34,12), und begründet diese Ansicht unlogischerweise mit dem Hinweise auf die Macht; man wird zum König auch nicht sagen: »Du Nichtswürdiger!« und »Du Gottloser!« zu den Edlen. Man müsse »die Person der Fürsten ansehen« und »des Hohen mehr achten als des Niederen« (Hiob 34,18f.). Aber Hiob lässt sich nicht erschüttern und spricht ein bedeutendes Wort: »Schon jetzt, siehe, lebt im Himmel mir ein Zeuge, mir ein Mitwisser in der Höhe... zu Gott blickt tränend auf mein Auge, dass er Recht schaffe dem Manne gegen Gott« (Hiob 16,19-21), und an anderer Stelle: »Ich aber weiß: mein Anwalt lebt, und ein Vertreter ersteht (mir) über dem Staube.« (Hiob 19,25)
[567] Aus den Worten Hiobs geht deutlich hervor, dass er, trotz seinem Zweifel, ob ein Mensch vor Gott Recht haben könne, nur schwer von dem Gedanken lassen kann, auf dem Boden des Rechtes und damit der Moral Gott gegenüberzutreten. Das Wissen, dass göttliche Willkür das Recht beugt, fällt ihm nicht leicht, denn er kann trotz allem seinen Glauben an die göttliche Gerechtigkeit nicht aufgeben. Aber andererseits muss er sich gestehen, dass niemand anders ihm Unrecht und Gewalt antut, als eben Jahwe selber. Er kann nicht leugnen, dass er sich einem Gotte gegenüber befindet, der sich um kein moralisches Urteil kümmert, beziehungsweise keine für sich verbindliche Ethik anerkennt. Das ist wohl das Größte in Hiob, dass er angesichts dieser Schwierigkeit nicht an der Einheit Gottes irre wird, sondern klar sieht, dass Gott sich in Widerspruch mit sich selber befindet, und zwar dermaßen total, dass er, Hiob, gewiss ist, in Gott einen Helfer und Anwalt gegen Gott zu finden. So gewiss ihm das Böse, so gewiss ist ihm auch das Gute in Jahwe. In einem Menschen, der uns Böses antut, können wir nicht zugleich den Helfer erwarten. Jahwe aber ist kein Mensch; er ist beides, Verfolger und Helfer in einem, wobei der eine Aspekt so wirklich ist wie der andere. Jahwe ist nicht gespalten, sondern eine Antinomie, eine totale innere Gegensätzlichkeit, die unerlässliche Voraussetzung seiner ungeheuren Dynamik, seiner Allmacht und Allwissenheit. Aus dieser Erkenntnis heraus hält Hiob daran fest, ihm »seine Wege darzutun«, das heißt ihm seinen Standpunkt klarzumachen, denn ungeachtet seines Zornes ist er sich selber gegenüber auch der Anwalt des Menschen, der eine Klage vorzubringen hat.
[568] Man könnte über die Gotteserkenntnis Hiobs noch mehr erstaunt sein, wenn man von der Amoralität Jahwes hier zum ersten Mal vernähme. Die unberechenbaren Launen und verheerenden Zornanfälle Jahwes waren aber seit alters bekannt. Er erwies sich als eifersüchtiger Hüter der Moral; insbesondere war er empfindlich in Bezug auf Gerechtigkeit. Er musste daher stets als »gerecht« gepriesen werden, woran ihm, wie es scheint, nicht wenig lag. Dank diesem Umstand, beziehungsweise dieser Eigenart, hatte er distinkte Persönlichkeit, die sich von der eines mehr oder weniger archaischen Königs nur durch den Umfang unterschied. Sein eifersüchtiges und empfindliches Wesen, das misstrauisch die treulosen Herzen der Menschen und ihre heimlichen Gedanken durchforschte, erzwang ein persönliches Verhältnis zwischen ihm und dem Menschen, der nicht anders konnte, als sich persönlich von ihm angerufen zu fühlen. Das unterschied Jahwe wesentlich vom allwaltenden Vater Zeus, der wohlwollend und etwas detachiert die Ökonomie der Welt auf altgeheiligten Bahnen abrollen ließ und nur das Unordentliche bestrafte. Er moralisierte nicht, sondern waltete instinkthaft. Von den Menschen wollte er nichts als die ihm gebührenden Opfer; mit ihnen wollte er schon gar nichts, denn er hatte keine Pläne mit ihnen. Vater Zeus ist zwar eine Gestalt, aber keine Persönlichkeit. Jahwe dagegen lag es an den Menschen. Sie waren ihm sogar ein Anliegen erster Ordnung. Er brauchte sie, wie sie ihn brauchten, dringlich und persönlich. Zeus konnte zwar auch Donnerkeile schmettern, aber nur auf einzelne unordentliche Frevler. Gegen die Menschheit im Ganzen hatte er nichts einzuwenden. Sie interessierte ihn auch nicht besonders. Jahwe dagegen konnte sich maßlos über die Menschen als Genus und als Individuen aufregen, wenn sie sich nicht so benahmen, wie er wünschte und erwartete, ohne sich dabei allerdings je Rechenschaft darüber zu geben, dass es ja in seiner Allmacht gelegen hätte, etwas Besseres zu erschaffen als diese »irden schlechten Töpfe«.
[569] Bei dieser intensiven persönlichen Bezogenheit auf sein Volk konnte es nicht ausbleiben, dass sich daraus ein eigentlicher Bund entwickelte, der sich auch auf einzelne Personen bezog, so zum Beispiel auf David. Wie der 89. Psalm berichtet, sagte Jahwe zu David:
... meine Treue will ich nicht brechen.
Ich will meinen Bund nicht entweihen,
und was meine Lippen gesprochen, nicht ändern.
Das eine habe ich bei meiner Heiligkeit geschworen –
nie werde ich David belügen.
(Psalm 89,34-36)
[570] Und dann ist es doch geschehen, dass er, der so eifersüchtig über Gesetzes- und Vertragserfüllung wachte, seinen Schwur brach. Dem empfindsamen modernen Menschen wäre der schwarze Abgrund der Welt aufgerissen, der Boden wäre unter seinen Fü ßen gewichen, denn das, was er von seinem Gott zumindest erwarten würde, wäre, dass er dem Sterblichen in jeglicher Hinsicht überlegen sei, und zwar im Sinne des Besseren, Höheren, Edleren, aber nicht in der Hinsicht moralischer Beweglichkeit und Unzuverlässigkeit, die selbst einen Meineid in Kauf nimmt.
[571] Man darf natürlich einen archaischen Gott nicht mit den Bedürfnissen moderner Ethik konfrontieren. Für den Menschen des frühen Altertums lag die Sache etwas anders: an seinen Göttern blühte und strotzte schlechthin alles, Tugenden und Laster. Man konnte sie daher auch bestrafen, anbinden, betrügen, sie aufeinander hetzen, ohne dass sie an Prestige einbüßten – wenigstens nicht auf lange Sicht hinaus. Der Mensch jener Äone war an die göttlichen Inkonsequenzen so gewöhnt, dass, wenn sie passierten, sie ihn nicht über Gebühr erschütterten. Bei Jahwe lag der Fall allerdings insofern etwas anders, als in der religiösen Beziehung schon sehr früh der Faktor der persönlich-moralischen Bindung eine bedeutende Rolle spielte. Unter diesen Umständen musste ein Vertragsbruch nicht nur persönlich, sondern auch moralisch verletzend wirken. Ersteres ersieht man aus der Art und Weise, wie David antwortet. Er sagt:
Wie lange, o Herr, willst du dich noch verbergen,
deinen Grimm lodern lassen wie Feuer?
Bedenke, o Herr: was ist doch das Leben!
Wie nichtig alle Menschenkinder, die du geschaffen!
Wo sind deine früheren Gnadenbeweise, o Herr,
Wie du sie David geschworen bei deiner Treue?
(Psalm 89,47-48 und 50)
[572] Wäre dies zu einem Menschen gesprochen, so würde es etwa lauten: »So nimm dich doch endlich zusammen, und höre auf mit deiner sinnlosen Wüterei. Es ist doch wirklich zu grotesk, wenn jemand wie du über die Pflänzchen, die nicht ohne deine Schuld nicht recht gedeihen wollen, sich in solchem Maße aufregt. Du konntest doch früher auch vernünftig sein und das Gärtlein, das du gepflanzt, richtig besorgen, statt es zu zertrampeln.«
[573] Der Interlocutor kann es allerdings nicht wagen, mit dem allmächtigen Partner wegen des Vertragsbruches zu rechten. Er weiß, was er zu hören bekäme, wenn er der bedauernswerte Rechtsbrecher wäre. Er muss sich, weil es sonst lebensgefährlich für ihn würde, auf das höhere Niveau der Vernunft zurückziehen und erweist sich damit, ohne es zu wissen und zu wollen, als dem göttlichen Partner in intellektueller sowohl als moralischer Hinsicht leise überlegen. Jahwe merkt es nicht, dass er »behandelt« wird, so wenig wie er versteht, warum er anhaltend als gerecht gepriesen werden muss. Er hat einen dringlichen Anspruch an sein Volk, in allen möglichen Formen »gepriesen« (oder gar »gesegnet« zu werden, was erst recht verfänglich ist) und propitiiert zu werden, mit dem offensichtlichen Zweck, ihn um jeden Preis bei Laune zu erhalten.
[574] Der hieraus sichtbar werdende Charakter passt zu einer Persönlichkeit, die nur vermöge eines Objektes sich ein Gefühl eigener Existenz verschaffen kann. Die Abhängigkeit vom Objekt ist absolut, wenn das Subjekt keinerlei Selbstreflexion und damit auch keine Einsicht in sich selbst besitzt. Es hat den Anschein, als ob es nur vermöge des Umstandes existiere, dass es ein Objekt hat, welches dem Subjekt versichert, es sei vorhanden. Wenn Jahwe, wie man wenigstens von einem einsichtigen Menschen erwarten dürfte, wirklich seiner selbst bewusst wäre, so hätte er, in Anbetracht der wirklichen Sachlage, den Lobpreisungen seiner Gerechtigkeit wenigstens Einhalt tun müssen. Er ist aber zu unbewusst, um »moralisch« zu sein. Moralität setzt Bewusstsein voraus. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass Jahwe etwa unvollkommen oder böse sei wie ein gnostischer Demiurg. Er ist jede Eigenschaft in ihrer Totalität, also unter anderem die Gerechtigkeit schlechthin, aber auch das Gegenteil, und dies ebenso vollständig. So wenigstens muss er gedacht werden, wenn man sich ein einheitliches Bild seines Wesens machen will. Wir müssen uns dabei nur bewusst bleiben, dass wir damit nicht mehr als ein anthropomorphes Bild entworfen haben, welches nicht einmal besonders anschaulich ist. Die Äußerungsweise des göttlichen Wesens lässt erkennen, dass die einzelnen Eigenschaften ungenügend auf einander bezogen sind, sodass sie in einander widersprechende Akte zerfallen. So zum Beispiel reut es Jahwe, Menschen gemacht zu haben, wo doch seine Allwissenheit von Anfang an genau im Bilde darüber war, was mit solchen Menschen geschehen wird.
[579] Das Buch Hiob stellt den frommen und treuen, aber von Gott geschlagenen Mann auf eine weithin sichtbare Bühne, wo er vor den Augen und Ohren der Welt seine Sache vorbringt. Erstaunlich leicht nämlich und grundlos hatte sich Jahwe von einem seiner Söhne, einem Zweifelsgedanken (Satan ist wohl eines der Gottesaugen, das »auf der Erde herumstreift und hin und her wandert«. (Hiob 1, 7) In der persischen Tradition ist Ahriman aus einem Zweifelsgedanken Ahuramazdas hervorgegangen.) beeinflussen und in Bezug auf Hiobs Treue unsicher machen lassen. Bei seiner Empfindlichkeit und seinem Misstrauen erregte ihn schon die bloße Möglichkeit eines Zweifels und verführte ihn zu jenem eigentümlichen Verhalten, von dem er schon im Paradies eine Probe gegeben hatte, nämlich zu einer zweideutigen Handlungsweise, die aus einem Ja und einem Nein besteht: Er machte die ersten Eltern auf den Baum aufmerksam und verbot ihnen zugleich, von ihm zu essen. Damit hat er den nicht beabsichtigten Sündenfall provoziert. Nun soll der treue Knecht Hiob grund- und nutzlos einer moralischen Belastungsprobe unterzogen werden, obschon Jahwe von dessen Treue und Standhaftigkeit überzeugt ist und überdies aufgrund seiner Allwissenheit – wenn er sie zu Rate zöge – in dieser Beziehung unzweifelhafte Sicherheit hätte. Warum soll dann trotzdem der Versuch gemacht und eine Wette ohne Einsatz mit dem gewissenlosen Einflüsterer auf dem Rücken der machtlosen Kreatur ausgetragen werden? Es ist in der Tat kein erhebender Anblick, wenn man sieht, wie rasch Jahwe seinen treuen Knecht dem bösen Geiste preisgibt und wie unbekümmert und mitleidlos er ihn in den Abgrund physischer und moralischer Qualen fallen lässt. Das Verhalten des Gottes ist, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, dermaßen empörend, dass man sich fragen muss, ob dahinter nicht ein tiefer reichendes Motiv verborgen liegt? Sollte Jahwe einen geheimen Widerstand gegen Hiob haben? Das könnte sein Nachgeben gegenüber Satan erklären. Was aber besitzt der Mensch, das der Gott nicht hat? Wegen seiner Kleinheit, Schwäche und Wehrlosigkeit dem Mächtigen gegenüber besitzt er, wie wir schon andeuteten, ein etwas schärferes Bewusstsein aufgrund der Selbstreflexion: Er muss sich, um bestehen zu können, immer seiner Ohnmacht dem allgewaltigen Gotte gegenüber bewusst bleiben. Letzterer bedarf dieser Vorsicht nicht, denn nirgends stößt er auf jenes unüberwindliche Hindernis, das ihn zum Zögern und damit zur Selbstreflexion veranlassen könnte. Sollte Jahwe Verdacht geschöpft haben, dass der Mensch ein zwar unendlich kleines, aber konzentrierteres Licht als er, der Gott, besitzt? Eine Eifersucht solcher Art könnte das Benehmen Jahwes vielleicht erklären. Es wäre begreiflich, wenn eine derartige, nur geahnte und nicht begriffene Abweichung von der Definition eines bloßen Geschöpfes das göttliche Misstrauen erregte. Schon zu oft haben sich ja die Menschen nicht voraussetzungsgemäß benommen. Auch der getreue Hiob könnte schließlich etwas im Schilde führen... daher die überraschende Bereitschaft, den Einflüsterungen Satans entgegen der eigenen Überzeugung zu folgen!
Lautenschlager: Wie kommt Jung dazu, in seinem hohen Alter, sich diesem schwierigen Thema zuzuwenden: Hiob – ein anstößiges Buch in der Bibel, an dem sich viele Jahrhunderte die Zähne ausgebissen haben?
Frick: Er schreibt das ja nur sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Sicher spielt die Katastrophe dieses großen Krieges eine Rolle, die Entfesselung der Gewalt, die Shoah, die atomare Bedrohung. In dieser Situation stellt sich neu die alte, aber nie beantwortete Frage der Theodizee. Zugleich greift Jung frühe Fragen aus der eigenen Lebensgeschichte wieder auf – Fragen, die er schon im Konfirmandenunterricht dem eigenen Vater stellte, Fragen, die der Vater nicht beantworten konnte: Was ist mit dem inneren Leben Gottes (Trinität und Bekenntnis zu dem einen Gott)? Wie steht es mit dem Verhältnis Gottes zu den Menschen?
Mir fällt auf, dass Jung den Gottesnamen inflationär und ohne jenen Respekt gebraucht, der für gläubige Juden selbstverständlich ist. Nach uralter Überlieferung wurde das Tetragramm JHWH nicht mit den Vokalen ausgesprochen, sondern umschrieben, zum Beispiel mit »Adonai« (mein Herr) beziehungsweise griechisch »Kyrios« (Herr). Jung hingegen verhält sich wie der Hohepriester, der den Gottesnamen im Allerheiligsten des Tempels aussprechen durfte, dies allerdings nur einmal im Jahr und nicht in jedem zweiten Satz. Ist es Intimität, Vertrautheit mit dem Gott Israels, die ihn so sprechen lässt, oder Blasphemie?