II

Als ich wieder in die meinige zurückgekehrt war, versank ich in Nachdenken, wollte beten und konnte es nicht, ich suchte mich zu beschäftigen, begann eine Arbeit, die ich mit einer anderen vertauschte, die ich wieder liegen ließ, um eine dritte vorzunehmen; meine Hände hielten von selbst inne, und ich war wie blöde, nie hatte ich etwas Ähnliches empfunden. Meine Augen schlossen sich von selbst, ich schlummerte ein wenig, obwohl ich sonst nie am Tage schlafe; als ich wieder erwacht war, fragte ich mich, was wohl zwischen mir und der Oberin vorgegangen war; ich prüfte mich und glaubte bei längerem Nachdenken dunkel zu erkennen ... doch das waren so verworrene, tolle und lächerliche Gedanken, daß ich sie weit von mir wies. Das Resultat meines Nachdenkens war, daß sie vielleicht einer Krankheit unterworfen wäre, dann kam mir ein anderer Gedanke, diese Krankheit wäre vielleicht ansteckend, Schwester Therese wäre davon befallen worden, und bei mir wäre es auch der Fall.

Am nächsten Tage nach dem Morgengottesdienst sagte unsere Oberin zu mir:

»Schwester Susanne, heute habe ich alles zu erfahren, was Ihnen zugestoßen ist; kommen Sie.«

Ich ging mit ihr, sie ließ mich in ihrem Sessel neben ihrem Bette Platz nehmen, während sie sich selbst auf einen niedrigen Stuhl setzte. Ich saß so nahe bei ihr, daß meine beiden Kniee in die ihrigen eingeklemmt waren, während sie sich mit den Ellenbogen auf ihr Bett stützte. Nach einer kleinen Pause sagte ich zu ihr:

»Obgleich ich sehr jung bin, so habe ich doch viel gelitten; seit fast zwanzig Jahren bin ich in der Welt, und seit zwanzig Jahren muß ich dulden. Womit, teure Mutter, soll ich also beginnen?«

»Erzählen Sie von Anfang an.«

»Aber, teure Mutter, das wird sehr lang und traurig sein, und ich möchte Sie nicht so lange betrüben.«

»Fürchte nichts; ich weine gern; es ist ein köstlicher Zustand für eine zärtliche Seele, Thränen zu vergießen; auch du mußt wohl gern weinen; du wirst meine Thränen trocknen, ich werde die deinen trocknen, und vielleicht werden wir bei der Erzählung deiner Leiden glücklich sein; wer weiß, wie weit uns die Rührung führen kann ...«

Während sie die letzten Worte sprach, blickte sie mich mit bereits feuchten Augen von unten bis oben an, dann ergriff sie meine beiden Hände und näherte sich mir noch mehr, so daß ich sie berührte und sie mich.

»Erzähle mein Kind, ich warte und verspüre die lebhafteste Neigung, mich von der Rührung überwältigen zu lassen; ich glaube, ich war noch nie in meinem ganzen Leben so mitleidsvoll und liebreich gestimmt.«

Ich begann also meine Erzählung, doch kann ich die Wirkung, die sie auf sie hervorbrachte, nicht beschreiben; die Seufzer, die sie ausstieß, die Thränen, die sie vergoß, die Zeichen der Entrüstung, die sie über meine grausamen Eltern, die gräßlichen Schwestern von Sainte-Marie und die von Longchamp zu erkennen gab. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie mich, erhob sich und ging hin und her, um sich dann wieder auf ihren Platz zu setzen. Dann wieder reckte sie ihre Arme gen Himmel, um darauf ihren Kopf zwischen meinen Knieen zu verbergen. Als ich zu Ende war, schwieg ich, und sie blieb einige Zeit mit dem Körper über ihr Bett gebeugt, das Gesicht in ihre Decke pressend und die Arme über ihren Kopf streckend, während ich zu ihr sagte:

»Teure Mutter, ich habe es Ihnen vorher gesagt, doch Sie haben es so gewollt.«

Sie antwortete mir nur mit den Worten: »Die boshaften Geschöpfe! die gräßlichen Weiber! nur in den Klöstern kann sich die Unmenschlichkeit bis zu diesem Punkte verirren. Zum Glück bin ich sanft; ich liebe alle meine Nonnen, sie haben alle mehr oder weniger meinen Charakter angenommen und lieben sich untereinander. Diese grausamen Geschöpfe! diese Arme mit Stricken einzuschnüren ...« Dabei drückte sie meine Arme und küßte sie ... »diesen Augen Thränen zu entlocken! ...« Dabei küßte sie sie ... »Klagen und Stöhnen diesem Munde zu entreißen!« Dabei küßte sie ihn ... »dieses reizende und heitere Gesicht unaufhörlich mit Wolken der Traurigkeit zu bedecken!« Dabei küßte sie es ... »Die Rosen dieser Wangen zum Welken zu bringen.« Dabei streichelte sie sie und küßte sie ... »Diese Haare auszuraufen und diese Stirn mit Sorgen zu beladen ...« Dabei küßte sie meinen Kopf, meine Stirn und meine Haare ... »Um diesen Hals einen Strick zu schlingen und diese Schultern mit Spitzen zu zerreißen ...« Dabei schob sie mein Hals- und Kopftuch zur Seite und öffnete mein Kleid: meine Haare fielen zerstreut auf meine entblößten Schultern, meine Brust war halb nackt, und ihre Küsse fielen auf meinen Hals, meine entblößten Schultern und meine halb nackte Brust.

Ich weiß nicht, was in mir vorging, doch ich wurde von Entsetzen, Zittern und Beben ergriffen und sagte zu ihr:

»Teure Mutter, sehen Sie in welche Unordnung Sie mich versetzt haben; wenn man käme ...«

»Bleib, bleib,« rief sie mir mit beklommener Stimme zu, »es wird niemand kommen.«

Indessen machte ich eine Anstrengung, um mich von ihr loszureißen und versetzte:

»Teure Mutter, nehmen Sie sich in acht, gestatten Sie mir, daß ich mich entferne.«

Ich wollte fort, doch ich war nicht dazu im stande, ich hatte nicht die geringste Kraft, und die Kniee brachen unter mir zusammen. Sie saß, ich stand, sie zog mich an sich; deshalb setzte ich mich auf den Rand ihres Bettes und sagte:

»Teure Mutter, ich weiß nicht, was mir ist; aber ich fühle mich unwohl.«

»Ich ebenfalls, doch ruhe dich einen Augenblick; es wird vorübergehen und nichts zu bedeuten haben.«

Wir waren beide niedergeschlagen, ich hatte den Kopf auf ihr Kissen geneigt, sie den ihrigen auf eins meiner Kniee, wahrend sie mit der Stirn auf einer meiner Hände lag; wir blieben einige Augenblicke in dieser Stellung, bis die Oberin zu mir sagte:

»Susanne, aus dem, was Sie mir gesagt, habe ich ersehen, daß Ihnen Ihre erste Oberin sehr teuer war.«

»Ja!« erwiderte ich.

»Sie liebte Sie nicht mehr als ich, doch sie wurde von Ihnen mehr geliebt ... Sie antworten mir nicht?«

»Ich war unglücklich, und sie linderte meine Leiden.«

»Aber woher kommt eigentlich Ihr Widerwille gegen das religiöse Leben, Susanne?«

»Von diesem Leben selbst; ich hasse die Pflichten, die Zurückgezogenheit, den Zwang; ich glaube, ich bin zu etwas anderem berufen.«

»Aber woraus ersehen Sie das?«

»Aus der Langeweile, die mich quält; ich langweile mich.«

»Auch hier?«

»Ja, auch hier, teure Mutter; trotz aller Güte, die Sie mir entgegenbringen.«

»Aber empfinden Sie nicht selbst Wünsche und Gelüste?«

»Nein.«

»Das glaube ich, Sie scheinen mir einen ziemlich ruhigen Charakter zu besitzen.«

»Ja.«

»Sie sind sogar kalt.«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie kennen die Welt nicht.«

»Ich kenne sie nur sehr wenig.«

»Welchen Reiz kann sie dann für Sie haben?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau erklären, doch es ist so.«

»Sehnen Sie sich nach der Freiheit zurück?«

»Das auch, und vielleicht noch vieles andere.«

»Und was ist das? Meine Freundin, sprechen Sie offen zu mir, möchten Sie verheiratet sein?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie wissen es nicht? Aber sagen Sie mir, welchen Eindruck macht die Anwesenheit eines Mannes auf Sie?«

»Gar keinen; wenn er Geist hat und gut spricht, so höre ich ihm mit Vergnügen zu; hat er ein schönes Gesicht, so fällt er mir auf.«

»Und Ihr Herz bleibt ruhig?«

»Bis jetzt, ja!«

»Wie? wenn die Männer ihre leidenschaftlichen Blicke auf Sie richteten, so haben Sie nichts empfunden?«

»Manchmal Verlegenheit, und dann mußte ich ihretwegen die Augen zu Boden schlagen.«

»Und Ihre Sinne sagten Ihnen nichts?«

»Ich weiß nicht so recht, was die Sprache der Sinne ist.«

»Wie, Sie ... das ist eine sehr süße Sprache, sollten Sie sie wirklich nicht kennen?«

»Nein, teure Mutter, wozu sollte sie mir auch dienen?«

»Nun, um Ihre Langweile wieder zu verscheuchen.«

»Vielleicht auch, um sie zu vermehren. Und dann, was bedeutet diese Sprache der Sinne ohne Gegenstand?«

»Wenn man spricht, so spricht man immer zu jemandem; das ist jedenfalls besser, als sich allein zu unterhalten, obgleich auch das nicht ohne Genuß ist.«

»Davon verstehe ich nichts.«

»Wenn du nur wolltest, liebes Kind, ich wollte dich bald aufklären.«

»Nein, liebe Mutter, nein, ich weiß nichts und will auch lieber nichts wissen, als Kenntnisse zu erwerben, die mich vielleicht noch beklagenswerter machen, als sich es ohnehin bin. Ich habe keine Wünsche und will auch keine suchen, die ich nicht befriedigen könnte.«

»Warum könntest du das nicht?«

»Wie sollte ich es denn können?«

»Wie ich!«

»Wie Sie? aber es ist ja niemand in diesem Hause.«

»Nun, ich bin doch da, teure Freundin, und Sie sind da.«

»Nun, was bin ich Ihnen, und was sind Sie mir?«

»Wie unschuldig sie ist!«

»Ja, das ist wahr, teure Mutter; ich bin es im höchsten Grade und würde lieber sterben, als aufhören, es zu sein.«

Ich weiß nicht, was die letzten Worte für sie Verletzendes haben konnten, doch ihr Gesicht veränderte sich plötzlich; sie wurde ernst und verlegen; ihre Hand, die sie auf das eine meiner Kniee gelegt, hörte auf, dasselbe zu drücken und zog sich dann zurück; sie schlug die Augen zu Boden, und ich sagte zu ihr:

»Meine teure Mutter, was ist mir denn geschehen? Ist mir etwa ein Wort entschlüpft, das Sie beleidigt hat? Verzeihen Sie mir; die Dinge, von denen wir uns unterhalten, find so seltsam; verzeihen Sie mir.«

Während ich die letzten Worte sprach, warf ich meine beiden Arme um ihren Hals und legte meinen Kopf auf ihre Schulter, während sie dasselbe that und mich zärtlich an sich drückte. So blieben wir einige Augenblicke, dann gewann sie wieder ihre Zärtlichkeit und Fröhlichkeit und sagte zu mir:

»Susanne schlafen Sie gut?«

»Sehr gut«, erwiderte ich, »besonders seit einiger Zeit.«

»Sie schlafen sogleich ein?«

»Meistens ja.«

»Aber wenn Sie nicht sogleich einschlafen, woran denken Sie dann?«

»An mein vergangenes Leben, an das, das ich jetzt führe, oder ich bete zu Gott, oder weine, was weiß ich!«

»Und morgens, wenn Sie frühzeitig erwachen?«

»Dann stehe ich auf.«

»Sogleich?«

»Sogleich.«

»Sie träumen also nicht gern?«

»Nein.«

»Sie haben nie daran gedacht, sich erst längere Zeit auf Ihrem Kissen auszuruhen?«

»Nein.«

Ich weiß nicht, wovon wir noch sprachen, als man ihr mitteilte, es wünsche sie jemand zu sprechen. Dieser Besuch schien ihr unangenehm zu sein, und sie hätte wohl lieber mit mir weitergeplaudert, obwohl das, was wir sprachen, nicht der Rede wert war; indessen trennten mir uns.

Der Scene, welche ich eben geschildert, folgte eine große Anzahl ähnlicher, die ich übergehe, um jetzt zu der Fortsetzung der eben geschilderten zu gelangen.

Die Unruhe begann sich der Oberin zu bemächtigen, sie verlor ihre Heiterkeit, ihre Körperfülle, ihre Ruhe. In der folgenden Nacht, als alles schlief, und das Haus in der tiefsten Stille lag, erhob sie sich, und nachdem sie einige Zeit in den Gängen umhergeirrt, kam sie auch an meine Zelle. Ich habe einen leichten Schlummer und glaubte sie zu erkennen; sie blieb stehen, und während sie scheinbar die Stirn gegen meine Thür lehnte, machte sie soviel Geräusch, daß ich erwacht wäre, wenn ich überhaupt geschlafen hätte. Ich verhielt mich ruhig, und es war mir, als hörte ich eine klagende Stimme und als seufzte jemand; zuerst überlief mich ein leises Schauern, dann entschloß ich mich, ein Ave zu sprechen. Anstatt mir zu antworten, entfernte man sich mit leisem Schritte; einige Zeit darauf kehrte man wieder, die Klagen und die Seufzer begannen von neuem, ich sprach wieder ein Ave, und man entfernte sich zum zweiten Male. Ich beruhigte mich und schlief ein. Während ich schlief, trat jemand ein und setzte sich an mein Bett; meine Vorhänge waren halb geöffnet, man hielt eine Kerze in der einen Hand, deren Licht auf mich fiel, während die, die sie trug, meinen Schlummer beobachtete; ich schlug die Augen auf, und vor mir stand die Oberin. Ich fuhr jäh empor; sie sah meinen Schreck und sagte zu mir:

»Beruhigen Sie sich, Susanne, ich bin es.«

Ich legte wieder den Kopf auf mein Kissen und erwiderte:

»Teure Mutter, was thun Sie hier in dieser Stunde, was führt Sie her, warum schlafen Sie nicht?«

»Ich kann nicht schlafen,« gab sie mir zur Antwort, »und werde lange Zeit dazu nicht im stande sein; schreckliche Träume quälen mich, kaum habe ich die Augen geschlossen, so erscheinen die Leiden, die Sie erduldet haben, wieder vor meiner Phantasie; ich will Ihnen zu Hilfe eilen, stoße ein Geschrei aus, erwache und erwarte umsonst, daß der Schlummer wiederkehrt. Das ist mir auch heute nacht passiert, ich fürchtete, der Himmel zeige mir damit ein Unglück an, das meiner Freundin zugestoßen ist; deshalb bin ich aufgestanden, habe mich ihrer Thür genähert und gelauscht. Ich sitze schon seit einiger Zeit neben Ihnen. Ich habe Sie betrachtet; wie schön sind Sie doch anzuschauen, selbst wenn Sie schlafen!«

»Teure Mutter, wie gut Sie sind!«

»Ich habe mich erkältet; doch ich weiß, ich habe nichts Unangenehmes für mein Kind zu fürchten, und glaube, ich werde nun schlafen. Geben Sie mir Ihre Hand.«

Ich gab sie ihr.

»Wie ruhig Ihr Puls ist, wie gleichmäßig, nichts regt ihn auf.«

»Ich habe in der That einen ziemlich ruhigen Schlaf.«

»Wie glücklich Sie sind!«

»Teure Mutter, Sie werden sich noch weiter erkälten.«

»Sie haben recht, schöne Freundin, leben Sie wohl; leben Sie wohl, ich gehe!«

Sie ging aber nicht, sondern sah mich weiter an, während zwei Thränen aus ihren Augen flossen.

»Teure Mutter,« sagte ich, »was ist Ihnen? Sie weinen? Wie leid thut es mir, Ihnen von meinen Leiden erzählt zu haben.«

In diesem Augenblick schloß sie meine Thür, löschte die Kerze aus und stürzte sich auf mich.

Sie umarmte mich und lag auf meiner Decke neben mir; ihr Gesicht preßte sich auf das meinige, ihre Thränen benetzten meine Wangen, sie seufzte und sagte mit klagender, gebrochener Stimme:

»Teure Freundin, haben Sie Mitleid mit mir!«

»Liebe Mutter,« entgegnete ich, »was ist Ihnen, sind Sie krank, was soll ich thun?«

»Ich zittere und bebe, eine tödliche Kälte hat sich meiner bemächtigt.«

»Soll ich mich erheben und Ihnen mein Bett abtreten?«

»Nein,« erwiderte sie, »es ist nicht nötig, daß Sie aufstehen, schieben Sie nur ein wenig die Decke zurück, damit ich mich Ihnen nähern kann; so werde ich mich wieder erwärmen und erholen.«

»Teure Mutter,« entgegnete ich, »das ist ja verboten; was würde man sagen, wenn man es erführe?«

»Liebe Freundin, alles schläft um uns her, und niemand wird etwas erfahren; und was ist denn auch dabei? Susanne, haben Sie niemals bei Ihren Eltern, mit Ihren Schwestern ein und dasselbe Bett geteilt?«

»Nein, niemals.«

»Wenn die Gelegenheit sich geboten hätte, hätten Sie es nicht ohne weiteres gethan? Wenn Ihre Schwester Sie um einen Platz neben Ihnen gebeten hätte, hätten Sie ihn ihr verweigert?«

»Ich glaube, nein.«

»Und bin ich nicht Ihre teure Mutter?«

»Ja, das sind Sie, doch es ist verboten!«

»Teure Freundin, ich will mich nur ein wenig aufwärmen und dann wieder gehen; reichen Sie mir Ihre Hand.«

Ich gab sie ihr.

»Hier,« sagte sie, »fühlen Sie, wie ich zittere und schaudere, ich bin wie Marmor.«

Dem war in der That so.

»Ach, die teure Mutter,« rief ich aus, »sie wird noch krank werden, doch warten Sie, ich werde mich bis an den Bettrand zurückziehen, damit Sie sich auf die warme Stelle legen können.« Ich rückte zur Seite, hob die Decke hoch, und sie legte sich an meine Stelle, dann sagte sie mit leiser Stimme:

»Meine Freundin, rücken Sie doch ein wenig näher.«

Sie streckte ihre Arme aus, ich drehte ihr den Rücken, sie erfaßte mich sanft und zog mich zu sich heran; dann legte sie den rechten Arm unter meinen Körper, den andern darüber und sagte:

»Ich bin eiskalt und empfinde eine starke Kälte, daß ich Sie zu berühren fürchte; ich glaube, Ihnen wehe zu thun.«

»Teure Mutter, fürchten Sie nichts.«

Sogleich legte sie eine ihrer Hände auf meine Brust, und die andere auf meine Hüften; ihre Füße waren unter die meinigen geklemmt, und ich drückte sie, um sie zu erwärmen, während die Oberin zu mir sagte:

»Sehen Sie, teure Freundin, wie schnell meine Füße warm geworden sind, weil nichts mehr da ist, was sie von den Ihrigen trennt.« Ich hatte mich umgewendet, als es plötzlich zweimal gegen die Thür schlug. Erschreckt sprang ich auf der einen Seite aus dem Bette, und die Oberin auf der andern; wir lauschten und hörten, wie jemand wieder auf den Fußspitzen in die Nebenzelle trat.

»Das ist Schwester Therese,« flüsterte ich ihr zu, »sie hat Sie über den Korridor gehen und bei mir eintreten sehen; was wird sie sagen?«

Ich war mehr tot als lebendig.

»Ja, sie ist's«, sagte die Oberin in zornigem Tone. »Sie ist's, ich zweifle nicht daran, doch sie soll noch lange Zeit an ihre Tollkühnheit denken.«

»Ach, teure Mutter,« entgegnete ich ihr, »thun Sie ihr nichts zu leide!«

»Susanne,« flüsterte sie mir zu, »leben Sie wohl. Legen Sie sich wieder nieder, schlafen Sie, ich dispensiere Sie vom Morgengebet. Ich gehe zu dieser kecken Person, reichen Sie mir Ihre Hand.«

Ich reichte sie ihr von einem Rand des Bettes zum andern, sie hob den Armel, der meinen Arm bedeckte, auf küßte ihn seufzend der Länge nach von den Fingerspitzen bis zur Schulter und verließ mich mit der Erklärung, die Tollkühne, die sie zu stören gewagt, solle dafür büßen. Sofort eilte ich nach der Thür und lauschte, und sie trat wirklich in die Zelle der Schwester Therese. Ich fühlte mich versucht, aufzustehen und dazwischen zu treten, falls die Szene heftig werden sollte, doch ich war so verwirrt und fühlte mich so unbehaglich, daß ich es vorzog, im Bett zu bleiben.

Am nächsten Morgen hatte ich große Lust, die mir gegebene Erlaubnis zu benutzen und im Bette liegen zu bleiben; doch es fiel mir ein, es wäre besser, das lieber nicht zu thun. Ich kleidete mich sehr schnell an und stellte mich als die erste im Chor ein; die Oberin und Schwester Therese erschienen nicht, was mir sehr angenehm war; doch kaum war der Gottesdienst beendet, als die Oberin mich holen ließ. Ich ging zu ihr, sie lag noch im Bett, sah sehr niedergeschlagen aus und sagte:

»Ich habe viel ausgestanden und gar nicht geschlafen, die Schwester Therese ist toll; wenn das noch einmal vorkommt, werde ich sie einsperren.«

»Oh, teure Mutter,« erwiderte ich, »thun Sie das nicht!«

»Das wird von ihrem Betragen abhängen. Und Sie, teure Susanne, wie befinden Sie sich?«

»Gut, liebe Mutter.«

»Haben Sie ein wenig geruht?«

»Sehr wenig!«

»Man hat mir gesagt, Sie wären im Chor gewesen; warum sind Sie nicht in Ihrem Bette geblieben?«

»Ich hätte mich dort nicht wohl gefühlt; und dann habe ich geglaubt, es wäre auch besser.«

»Nein, es hätte nichts geschadet; doch ich fühle einige Neigung zum Schlafen und rate Ihnen, es in Ihrer Zelle ebenso zu machen, wenn Sie sich nicht neben mich niederlegen wollen.«

»Teure Mutter, ich bin Ihnen unendlich dankbar; doch ich habe die Gewohnheit, allein zu schlafen, und wäre mit einer anderen nicht dazu imstande.«

»So gehen Sie denn, ich werde zum Essen nicht ins Refektorium kommen, man soll mir hier auftragen; vielleicht werde ich den Tag über nicht aufstehen. Sie werden mit einigen andern zu mir kommen, die ich habe rufen lassen.«

»Wird Schwester Therese auch dabei sein?« fragte ich sie.

»Nein,« erhielt ich zur Antwort, und verließ sie, um mich auszuruhen.

Am Nachmittag begab ich mich zur Oberin, wo ich eine ziemlich große Gesellschaft der hübschesten und jüngsten Nonnen des Klosters vorfand; die andern hatten bereits ihren Besuch gemacht und sich zurückgezogen. Ich saß auf dem Rand ihres Bettes, ohne irgend etwas zu thun; eine andere saß in einem Sessel mit einem kleinen Stickrahmen auf den Knieen, andere saßen an den Fenstern, machten Spitzenklöppeleien, wieder andere nähten, stickten oder setzten das Spinnrad in Bewegung. Die einen waren blond, andere brünett, keine sah der andern ähnlich, obwohl sie alle schön waren. Die Oberin blickte alle aufmerksam an, sie warf der einen ihren allzu großen Fleiß, der andern ihre Trägheit vor, jener machte sie ihre Gleichgiltigkeit, dieser wieder ihre Traurigkeit zum Vorwurf, ließ sich die Arbeit bringen, lobte und tadelte sie und verteilte so an eine jede leichte Vorwürfe oder leichte Liebkosungen.

Während sie so beschäftigt war, hörte ich leise an die Thür klopfen und ging, um nachzusehen, während die Oberin mir nachrief:

»Schwester Susanne, Sie werden doch wiederkommen?«

»Ja, liebe Mutter.«

»Kommen Sie ja wieder, denn ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Gewiß, gewiß.«

Es war die arme Schwester Therese. Sie blieb eine Weile sprachlos, und ich sagte zu ihr:

»Liebe Schwester, wollen Sie etwas von mir?«

»Ja.«

»Worin kann ich Ihnen dienen?«

»Das will ich Ihnen sagen; ich habe mir die Ungnade unserer teuren Mutter zugezogen, ich glaubte, sie hätte mir verziehen und hatte einigen Grund zu dieser Annahme; indessen sind Sie alle bei ihr versammelt, und ich bin nicht dabei und habe Befehl erhalten, in meiner Zelle zu bleiben.«

»Sie möchten gern hereinkommen?«

»Ja!«

»Warten Sie, teure Freundin, ich gehe zu ihr.«

»Sie wollen wirklich für mich sprechen?«

»Gewiß!«

»Oh,« rief sie, mich zärtlich anblickend, »ich verzeihe ihr die Zuneigung, die sie für Sie hegt; Sie besitzen alle Reize, die schönste Seele und den schönsten Körper.«

Ich war entzückt, daß ich ihr den kleinen Dienst erweisen konnte und ging wieder hinein; dann neigte ich mich sanft zu der Oberin, die sich ein wenig auf ihrem Kopfkissen aufgerichtet hatte, schwieg, sah sie aber dabei mit einem Blicke an, als ob ich eine Gunst von ihr zu fordern hätte.

»Nun,« sagte sie zu mir, »was giebt es denn? Sprechen Sie, was wollen Sie, kann ich Ihnen denn etwas verweigern?«

»Die Schwester Therese ...«

»Ich verstehe; ich bin sehr unzufrieden mit ihr, doch Schwester Susanne spricht für sie; und ich verzeihe ihr, sagen Sie ihr, daß Sie eintreten darf.«

Ich eilte zur Thür; die arme kleine Schwester wartete vor derselben, und ich forderte sie auf, näherzutreten.

Zitternd that sie es, hielt die Augen gesenkt und hatte einen langen Streifen Mousseline in der Hand, der ihr bei den ersten Schritten aus den Händen fiel; ich hob ihn auf, nahm sie unter den Arm und führte sie zur Oberin.

Sie warf sich zur Erde, erfaßte eine ihrer Hände, die sie seufzend küßte, während sie eine Thräne vergoß, dann bemächtigte sie sich einer der meinigen, die sie in die der Oberin legte und ebenfalls küßte. Die Oberin gab ihr ein Zeichen, sich zu erheben und sich irgend wohin zu setzen; sie gehorchte. Man trug einen Imbiß auf, die Oberin verließ das Bett, doch setzte sie sich nicht zu uns, sondern ging um den Tisch herum, legte bald der einen, bald der andern ihre Hand auf den Kopf, bog sie sacht zurück, küßte ihr die Stirn, hob wieder einer andern das Halstuch in die Höhe, legte ihre Hand darauf und blieb auf die Lehne gestützt stehen; dann ging sie zu einer dritten, ließ eine ihrer Hände auf ihr ruhen, oder legte sie ihr auf den Mund; kostete ein wenig von den Speisen, die man aufgetragen hatte und gab bald dieser, bald jener davon. Als das Mahl beendet war, setzte ich mich an das Klavier und begleitete zwei Schwestern, welche ohne Methode, doch geschmackvoll, richtig und angenehm sangen. Auch ich sang und begleitete mich dazu. Die Oberin saß am Klavier, und es schien ihr das größte Vergnügen zu bereiten, mir zuzuhören. Die andern lauschten stehend oder hatten sich an ihre Arbeit gemacht.

Endlich zogen sich alle zurück, und auch ich wollte mit den andern gehen, als die Oberin mich zurückhielt, indem sie sagte:

»Wieviel Uhr ist es?«

»Bald sechs Uhr.«

»Es werden gleich einige von unsern Rechtsbeiständen kommen, ich habe über das, was Sie mir über Ihren Aufenthalt in Longchamp gesagt, nachgedacht, habe ihnen meine Ideen mitgeteilt, sie haben dieselben gebilligt, und wir haben Ihnen einen Vorschlag zu machen. Dieser Plan muß uns gelingen, und wenn dies der Fall ist, so wird dabei ein kleiner Nutzen für unser Haus und auch ein Geschenk für Sie abfallen.«

Um sechs Uhr erschienen die Rechtsbeistände, ich erhob mich, sie setzten sich, und die Oberin sagte:

»Schwester Susanne, haben Sie mir nicht mitgeteilt, daß Sie dem Wohlwollen des Herrn Manouri die Ausstattung verdanken, die Sie hier erhalten haben?«

»Ja, teure Mutter!«

»Ich habe mich also nicht getäuscht; die Schwestern in Longchamp sind im Besitz der Mitgift geblieben, die Sie bei Ihrem Eintritt eingezahlt?«

»Ja, teure Mutter!«

»Sie haben Ihnen nichts zurückgezahlt?«

»Nein, teure Mutter.«

»Das ist nicht gerecht, ich habe es unseren Rechtsbeiständen mitgeteilt, und sie denken wie ich, daß Sie das Recht haben, gegen sie zu klagen, daß Ihnen entweder Ihre Ausstattung zum Vorteil unseres Hauses zurückerstattet wird, oder daß man Ihnen eine Rente aussetze. Deshalb haben wir Ihnen folgende Vorschläge zu machen; wir werden den Prozeß in Ihrem Namen gegen das Haus in Longchamp führen, wir werden die Kosten tragen, und wenn wir gewinnen, wird das Haus die Hälfte des Kapitals oder der Rente erhalten. Was meinen Sie dazu, teure Schwester? ... Sie antworten ja nicht, Sie träumen.«

»Ich denke daran«, versetzte ich, »daß die Schwestern in Longchamp mir viel Böses angethan haben, und ich wäre höchst unglücklich, wenn sie sich einbilden würden, ich wollte mich rächen.«

»Es handelt sich nicht um Rache, es handelt sich nur darum, das wieder zu erlangen, was Ihnen gehört.«

»So soll ich mich noch einmal dem Gerede der Welt aussetzen?«

»Das ist die kleinste Unannehmlichkeit; es wird von Ihnen fast gar nicht die Rede sein. Dann ist unsere Gemeinde auch arm und die von Longchamp reich, Sie werden unsere Wohlthäterin sein, so lange Sie leben. Doch wir bedürfen ja dieses Grundes nicht, um uns für Sie zu interessieren, denn wir lieben Sie alle ...«

»Liebe Mutter«, sagte ich zu ihr, »Ihre Gründe sind nicht zu verwerfen, doch ich bitte Sie nur um eins: nichts zu beginnen, bevor Sie nicht in meiner Gegenwart mit Herrn Manouri darüber konferiert haben.«

»Damit bin ich einverstanden; wollen Sie ihm selbst schreiben?«

»Gewiß!«

»Schreiben Sie ihm, um nicht zweimal darauf zurückzukommen; ich liebe derlei Geschäfte nicht, denn sie langweilen mich zum Sterben, schreiben Sie ihm daher gleich.«

Man gab mir Tinte, Feder, Papier, und ich bat auf der Stelle Herrn Manouri, sich nach Arvajon zu begeben. Das versammelte Konzil las den Brief, billigte ihn, und er wurde abgeschickt.