Cover

Autorenfoto: © Vania

DIE AUTORIN

Jennifer L. Armentrout hat es mit ihren Büchern bereits auf die Bestsellerliste von USA Today geschafft. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

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cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Erstmals als cbt Taschenbuch April 2014

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2011 by Jennifer L. Armentrout

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Half Blood«

bei Spencer Hill Press, Contoocook, USA

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Dr. Barbara Röhl

Lektorat: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: Incraft

Umschlagbild: © 2011 K. Kaynak with artwork by Misha

MG · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10740-6
V003

www.cbt-jugendbuch.de

Für Kathy

Viele vermissen und lieben dich

1. Kapitel

Ich riss die Augen auf, als mein verrückter sechster Sinn meinen Körper mit Adrenalin überschwemmte. In der feuchten Luft von Georgia und auf dem staubigen Boden bekam ich kaum Luft. Seit meiner Flucht aus Miami war ich nirgends mehr sicher gewesen. Auch in dieser verlassenen Fabrik fand ich keinen Schutz.

Die Daimonen waren hier.

Ich hörte sie auf der unteren Ebene. Systematisch durchsuchten sie jeden Raum, rissen Türen auf und knallten sie wieder zu. Bei diesem Geräusch fühlte ich mich um einige Tage zurückversetzt. Da hatte ich die Tür zu Moms Zimmer aufgestoßen und sie hatte in den Armen eines dieser Monster gelegen. Neben ihr ein zerbrochener Blumentopf mit Hibiskus. Purpurrote Blütenblätter lagen auf dem Boden verstreut und mischten sich mit dem Blut. Die Erinnerung durchfuhr mich wie ein scharfer Schmerz, aber im Augenblick wollte ich nicht daran denken.

Ich sprang auf, blieb in dem schmalen Gang stehen und lauschte angespannt. Wie viele Daimonen waren es? Drei? Mehr? Meine Finger krampften sich um den dünnen Stiel des Spatens. Ich hob ihn hoch und fuhr mit den Fingern über die mit Titan gehärtete scharfe Kante. Das erinnerte mich an mein Vorhaben. Daimonen verabscheuten Titan. Es gab zwei Möglichkeiten, ihnen den Garaus zu machen: sie zu köpfen – viel zu krass – oder mit Titan umzubringen. Das nach den Titanen benannte Edelmetall erwies sich als giftig für alle, die süchtig nach Äther waren.

Irgendwo in dem Gebäude gab eine Bodendiele knarrend nach. Ein tiefes Heulen durchbrach die Stille. Es begann als leises Jaulen und stieg zu einem durchdringend schrillen Ton an. Der Schrei hörte sich unmenschlich, krank und grauenerregend an. Nichts auf dieser Welt klang wie ein Daimon – wie ein hungriger Daimon.

Und er war in der Nähe.

Ich stürmte den Gang entlang, und meine zerschlissenen Turnschuhe polterten über die abgetretenen Bodenbretter. Geschwindigkeit lag mir im Blut. Mein schmutziges langes Haar flatterte hinter mir her. Ich bog um die Ecke und wusste, dass ich nur wenige Sekunden Zeit hatte

Der Daimon packte mein Shirt und knallte mich gegen die Wand. Schale Luft umwirbelte mich. Staub und Gips schwebten durch die Luft. Während ich mich wieder aufrappelte, tanzten schwarze Sterne in meinem Blickfeld. Diese seelenlosen, pechschwarzen Löcher in Höhe der Augen schienen mich anzustarren, als sollte ich die nächste Mahlzeit werden.

Der Daimon ergriff mich an der Schulter und ich ließ meinem Instinkt freien Lauf. Ich warf mich herum, und bevor ich zutrat, beobachtete ich den Bruchteil einer Sekunde lang die Verblüffung, die über sein bleiches Gesicht huschte. Mein Fuß traf ihn an der Schläfe. Er taumelte an die gegenüberliegende Wand. Ich fuhr herum und stieß zu. Sein Erstaunen verwandelte sich in Entsetzen, als er den Spaten entdeckte, der tief in seinem Leib steckte. Titan brachte einen Daimon immer um, ganz gleich, wo er getroffen wurde.

Ein kehliges Stöhnen drang aus seinem aufgerissenen Mund, dann explodierte er zu schimmerndem blauem Staub.

Den Spaten noch in der Hand, wandte ich mich um und rannte immer zwei Stufen auf einmal die Treppe hinunter. Auf den Schmerz in den Hüften achtete ich nicht. Ich würde es schaffen – ich musste es schaffen. Im nächsten Leben würde es mich furchtbar anöden, in diesem Rattenloch als Jungfrau gestorben zu sein.

»Wohin läufst du, kleines Halbblut?«

Ich stolperte zur Seite und fiel gegen eine große Stahlpresse. Mit heftig pochendem Herzen sah ich mich um. Der Daimon tauchte etwa zwei Meter hinter mir auf. Er sah aus wie ein Freak, genau wie der von oben. Sein Mund stand offen und ich entdeckte die scharf gezackten Zähne. Beim Anblick dieser tiefschwarzen Augenlöcher lief es mir kalt über den Rücken. Sie spiegelten weder Licht noch Leben, sie bedeuteten nur den Tod. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte unirdisch blass. Die Venen wölbten sich und krochen über das Gesicht wie tintenschwarze Schlangen. Er sah wirklich aus wie eine Erscheinung aus meinem schlimmsten Albtraum – wie etwas Dämonisches. Nur ein Halbblut war in der Lage, den Glanz, den sie verbreiteten, kurz zu durchschauen. Dann gewann die Elementarmagie die Oberhand und zeigte sie so, wie sie früher ausgesehen hatten. Dieser Daimon erinnerte mich an Adonis – einen umwerfend schönen blonden Mann.

»Was tust du denn hier so allein?«, fragte er mit tiefer, lockender Stimme.

Ich wich einen Schritt zurück und suchte nach einem Ausgang. Der Möchtegern-Adonis versperrte mir den Weg nach draußen, und ich wusste, dass ich nicht lange still stehen konnte. Daimonen herrschten immerhin über die Elemente. Wenn er mich mit Luft oder Feuer angriff, war ich erledigt.

Er lachte –, ein humorloser, lebloser Laut. »Wenn du mich anflehst – und ich meine, richtig anflehst –, bereite ich dir vielleicht einen raschen Tod. Ehrlich gesagt bringen Halbblütige mir nicht wirklich etwas. Reinblüter dagegen« – er stieß ein verzücktes Seufzen aus »sind wie ein Dreisternemenü. Aber Halbblüter? Ihr seid praktisch Fast Food.«

»Ein Schritt näher, und du endest wie dein Kumpel dort oben.« Hoffentlich klang ich bedrohlich genug! Eher unwahrscheinlich. »Probier’s aus!«

Er hob die Brauen. »Allmählich machst du mich wütend. Du hast schon zwei von uns getötet.«

»Führst du Buch darüber, oder was?« Der Boden hinter mir knarrte und mir blieb fast das Herz stehen. Als ich herumfuhr, entdeckte ich einen weiblichen Daimon. Sie rückte näher an mich heran und trieb mich auf den anderen zu.

Sie kesselten mich ein und ließen mir keinen Fluchtweg. Irgendwo in diesem Müllhaufen kreischte noch einer. Angst und Panik schnürten mir die Luft ab. Mein Magen krampfte sich heftig zusammen, und meine Finger zitterten, während sie den Spaten umklammerten. Bei den Göttern, am liebsten hätte ich gekotzt.

Der Anführer näherte sich mir. »Weißt du, was ich mit dir mache?«

Ich schluckte und setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. »Blabla. Du wirst mich töten, bla. Ich weiß.«

Das gierige Kreischen der Frau schnitt ihm die Antwort ab. Offenbar war sie sehr hungrig. Wie ein Geier umkreiste sie mich, um mich auf der Stelle zu zerreißen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich sie. Die Hungrigen waren immer die Dümmsten – die Schwächsten des Rudels. Die Legenden wussten zu berichten, dass die erste Kostprobe des Äthers – der Lebenskraft, die in unserem Blut fließt – einen Reinblütigen zum Besessenen machte. Ein einziger Schluck davon verwandelte ihn in einen Daimon und machte ihn lebenslang süchtig. Ich rechnete mir gute Chancen aus, an der Frau vorbeizukommen. Der andere allerdings … das würde schwieriger werden.

Ich täuschte einen Angriff auf die Frau vor. Wie eine Drogensüchtige auf der Suche nach ihrem Schuss steuerte sie geradewegs auf mich zu. Der Mann befahl ihr schreiend, sie solle stehen bleiben, doch es war zu spät. Wie ein Sprinter bei der Olympiade schoss ich in die entgegengesetzte Richtung davon und stürzte zu der Tür, die ich am Abend eingetreten hatte. Draußen hatte ich bessere Chancen. Ein winziger Hoffnungsfunke blitzte auf und trieb mich vorwärts.

Dann passierte das Schlimmste, das ich mir überhaupt vorstellen konnte. Eine Feuerwand stieg vor mir auf, brannte sich durch Werkbänke und schoss mindestens zweieinhalb Meter hoch in die Luft, und sie war keine Illusion. Die Hitze schwappte auf mich zu, das Feuer knisterte und fraß sich durch die Wände.

Vor mir kam er direkt durch die Flammen geschritten und sah genauso aus, wie ein Daimonenjäger aussehen sollte. Das Feuer versengte weder seine Hose, noch verschmutzte es sein Hemd. Die Flammen berührten kein einziges seiner dunklen Haare. Diese coolen Augen von der Farbe einer Sturmwolke richteten sich auf mich.

Er war es – Aiden St. Delphi.

Seinen Namen oder sein Gesicht werde ich nie vergessen. Als ich zum ersten Mal einen Blick auf ihn erhaschte, wie er vorn in der Trainingsarena stand, war eine alberne Schwärmerei in mir erwacht. Damals war ich vierzehn gewesen und er siebzehn. Bei keiner unserer Begegnungen auf dem Campus hatte es eine Rolle gespielt, dass er ein Reinblütiger war.

Aidens Anwesenheit konnte nur eines bedeuten: Die Wächter waren gekommen.

Unsere Blicke trafen sich und dann sah er mir über die Schulter. »Runter!«

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich warf mich zu Boden wie ein Profi. Die pulsierende Hitze schoss über mich hinweg und traf ihr Ziel. Der Boden erbebte vom wilden Umsichschlagen des weiblichen Daimons und ihre Schmerzensschreie erfüllten die Luft. Umzubringen war ein Daimon nur mit Titan, und es war bestimmt kein angenehmes Gefühl, bei lebendigem Leib zu brennen.

Ich stützte mich auf die Ellbogen hoch und spähte durch mein schmutziges Haar, während Aiden den Kopf senkte. Auf die Bewegung folgte ein leises Knallen, und die Flammen verschwanden so rasch, wie sie aufgelodert waren. Sekunden später gab es nur noch Rauch und den Geruch nach verbranntem Holz und Fleisch.

Zwei weitere Wächter eilten in den Raum. Einen von ihnen erkannte ich: Kain Poros, ein Halbblut und ungefähr ein Jahr älter als ich. Früher einmal hatten wir zusammen trainiert. Kain bewegte sich mit einer Grazie, die er früher nicht besessen hatte. Er ging auf die Frau zu und stieß ihr mit einer kurzen Bewegung einen langen, schmalen Dolch in die verbrannte Haut über der Brust. Auch sie löste sich in Staub auf.

Der andere Wächter wirkte wie ein Reinblütiger, aber ich hatte ihn noch nie gesehen. Er war stämmig – mit Muskeln, wie man sie durch Steroide kriegt – und nahm sich den Daimon vor, der sich meines Wissens irgendwo in der Fabrik herumtrieb, den ich aber noch nicht entdeckt hatte. Als ich beobachtete, wie elegant er seinen großen Körper bewegte, fühlte ich mich grässlich unzulänglich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich immer noch der Länge nach auf dem Boden lag. Mühsam kam ich auf die Füße und spürte, wie der durch das Entsetzen ausgelöste Adrenalinrausch verebbte.

Dann prallte meine Wange ohne Vorwarnung hart auf den Boden und mein Kopf explodierte vor Schmerz. In meiner Benommenheit und Verwirrung dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass der Möchtegern-Adonis mir die Beine weggezogen hatte. Ich zappelte, aber der widerliche Kerl packte mich am Haar und zerrte meinen Kopf nach hinten. Ich krallte ihm die Finger in die Haut, aber das linderte den Druck auf meinen Hals nicht. Erst glaubte ich voller Schrecken, er wolle mir den Kopf abreißen. Stattdessen schlug er mir seine rasiermesserscharfen Zähne in die Schulter, trieb sie durch Stoff und Haut ins Fleisch. Ich schrie, kreischte laut auf.

Ich stand in Flammen, anders konnte es gar nicht sein. Sein Saugen brannte mir durch die Haut, scharfe Stiche fuhren in jede Zelle meines Körpers. Auch wenn ich nur ein Halbblut war und nicht so randvoll mit Äther wie ein Reinblütiger, trank der Daimon doch von meiner Lebenskraft, als wäre ich einer von jenen. Er war nicht hinter meinem Blut her. Das würde er literweise schlucken, nur um an den Äther zu gelangen. Sogar mein Geist kippte weg, als er ihn einsog. Ich spürte nur noch Schmerz.

Plötzlich hörte der Daimon auf. »Was bist du?«, nuschelte er im Flüsterton.

Ich hatte nicht einmal Zeit, über die Frage nachzudenken. Er wurde von mir heruntergerissen und ich sank nach vorn. Ich rollte mich zu einer schmutzigen, blutenden Kugel zusammen und stöhnte eher wie ein verwundetes Tier als wie ein entfernt menschliches Wesen. Noch nie zuvor war ich gebissen worden – ausgesaugt von einem Daimon.

Durch mein leises Wimmern hindurch hörte ich ein ekelerregendes Knirschen und dann ein wildes Kreischen, aber der Schmerz hatte meine Sinne vollkommen übernommen. Allmählich zog er sich aus meinen Fingern zurück und verdichtete sich in meinem Rumpf, wo er weiterhin tobte. Ich versuchte darüber wegzuatmen, aber verdammt

Sanfte Hände drehten mich auf den Rücken und lösten meine Finger von der Schulter. Ich blickte zu Aiden auf.

»Geht es dir gut? Alexandria? Bitte, sag etwas!«

»Alex«, stieß ich erstickt hervor. »Alle nennen mich Alex.«

Er lachte kurz und erleichtert auf. »Okay. Gut. Kannst du aufstehen, Alex?«

Vermutlich nickte ich. Alle paar Minuten durchlief mich eine stechende Hitzewelle, aber der scharfe Schmerz hatte sich in ein dumpfes Pochen verwandelt. »Das war … richtig, richtig mies.«

Aiden gelang es, einen Arm um mich zu legen und mich hochzuziehen. Ich schwankte, während er mein Haar zurückstrich, um sich den Schaden anzusehen. »Lass dir ein bisschen Zeit! Der Schmerz vergeht.«

Ich hob den Kopf und sah mich um. Kain und der andere Wächter betrachteten stirnrunzelnd zwei fast gleich aussehende Häufchen aus blauem Staub. Der Reinblütige der beiden wandte sich an uns. »Das sollten alle gewesen sein.«

Aiden nickte. »Wir müssen aufbrechen, Alex. Sofort. Zurück zum Covenant.«

Zum Covenant? Als ich mich Aiden zuwandte, hatte ich meine Gefühle nicht ganz im Griff. Er war ganz in Schwarz gekleidet, in die Uniform der Wächter. Eine aufregende Sekunde lang stieg die mädchenhafte Schwärmerei von vor drei Jahren in mir auf. Aiden sah toll aus, aber meine Wut stampfte diesen lächerlichen Anflug in Grund und Boden.

Der Covenant hatte etwas mit der Sache hier zu tun – und kam mir zu Hilfe? Wo zur Hölle war er gewesen, als einer der Daimonen sich in unsere Wohnung geschlichen hatte?

Aiden näherte sich mir, aber ich sah nicht ihn – ich sah wieder den leblosen Körper meiner Mutter vor mir. Als Letztes auf dieser Welt hatte sie in das Gesicht eines gottverdammten Daimons geblickt. Und als Letztes in ihrem Leben hatte sie gefühlt … Ich erschauerte und dachte an den scharfen Schmerz, der den ganzen Körper zerriss, als mich der Daimon gebissen hatte.

Aiden kam einen weiteren Schritt auf mich zu, und meine Reaktion war eine Mischung aus Wut und Schmerz. Ich stürzte mich auf ihn und wendete Techniken an, die ich seit Jahren nicht mehr trainiert hatte. Einfache Tritte und Schläge waren schön und gut, aber richtige Angriffsmanöver hatte ich kaum gelernt.

Er packte meine Hand und schwang mich herum, bis ich in die andere Richtung sah. Innerhalb von Sekunden hielt er meine Arme fest umklammert. Aber der ganze Schmerz und der Kummer stiegen in mir auf und schalteten jede Vernunft aus. Ich beugte mich vor und wollte so viel Abstand zwischen uns schaffen, dass ich einen heftigen Tritt nach hinten anbringen konnte.

»Nicht«, warnte mich Aiden mit täuschend sanfter Stimme. »Ich möchte dir nicht wehtun.«

Mein Atem ging in scharfen Stößen. Ich spürte, wie mir das warme Blut am Hals hinablief und sich mit Schweiß vermischte. Obwohl sich in meinem Kopf alles drehte, wehrte ich mich weiter, und dass Aiden mich so leicht in Schach hielt, führte nur dazu, dass ich buchstäblich rot sah.

»Hey, stopp!«, schrie Kain, der abseits stand. »Du kennst uns doch, Alex! Erinnerst du dich nicht an mich? Wir wollen dir nichts tun.«

»Halt den Mund!« Ich befreite mich aus Aidens Griff und wich Kain und dem Muskelprotz aus. Keiner von ihnen rechnete damit, dass ich ihnen davonlief, aber genau das tat ich.

Ich schaffte es bis zur Tür, die aus der Fabrik hinausführte, schlängelte mich um das zerbrochene Holz herum und stürzte nach draußen. Meine Füße trugen mich zu dem freien Feld auf der anderen Straßenseite. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos. Warum lief ich davon? Hatte ich seit dem Daimonenangriff in Miami nicht versucht, zum Covenant zurückzukehren?

Mein Körper wollte nicht, aber ich rannte weiter durch die hohen Gräser und an den stacheligen Büschen vorbei. Hinter mir hörte ich schwere Schritte. Mein Blickfeld verschwamm ein wenig und mein Herz polterte in der Brust. Ich fühlte mich so verwirrt, so

Etwas Hartes knallte gegen mich und trieb mir die Luft aus den Lungen. Wild um mich schlagend ging ich zu Boden. Irgendwie drehte sich Aiden und bekam die größte Wucht des Aufpralls ab. Ich landete auf ihm und blieb kurz liegen, doch dann wälzte ich mich herum und hielt mich an dem kratzigen Gras fest.

Ich barst schier vor Panik und Wut. »Jetzt kommt ihr? Wo wart ihr vor einer Woche? Wo war der Covenant, als meine Mutter umgebracht wurde? Wo warst du?«

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr Aiden zurück. »Es tut mir leid. Wir «

Seine Entschuldigung brachte mich nur noch weiter in Rage. Ich wollte ihm wehtun. Ihn zwingen, mich loszulassen. Ich wollte … ich wollte … Keine Ahnung, was zur Hölle ich wollte, aber ich konnte nicht aufhören zu schreien, zu kratzen und zu treten. Ich gab erst auf, als Aiden seinen langen, schlanken Körper gegen mich presste. Sein Gewicht, seine Nähe hielten mich unbezwingbar fest.

Zwischen uns blieb kein Zentimeter Abstand. Ich fühlte, wie sich sein harter Waschbrettbauch gegen meinen Magen drückte, spürte, dass seine Lippen nur Zentimeter von meinem Mund entfernt waren. Mit einem Mal kam mir ein abgefahrener Gedanke. Ich fragte mich, ob seine Lippen sich wohl genauso gut anfühlten, wie sie aussahen … und sie sahen fantastisch aus.

Dieser Gedanke war falsch. Ich musste verrückt sein – das war die einzig mögliche Erklärung für mein Verhalten. Die Art, wie ich seine Lippen anstarrte, oder der Umstand, dass ich unbedingt geküsst werden wollte – all das war aus verschiedensten Gründen verkehrt. Abgesehen von der Tatsache, dass ich ihm gerade den Kopf hatte abreißen wollen, sah ich auch noch furchtbar aus. Mein Gesicht war so schmutzverkrustet, dass es sicher nicht mehr zu erkennen war. Ich hatte seit einer Woche nicht geduscht und stank vermutlich. Ekelhaft.

Aber so, wie er den Kopf senkte, schien er mich tatsächlich küssen zu wollen. Mein ganzer Körper spannte sich an, so als wartete ich auf meinen ersten Kuss. Natürlich war das nicht mein erster Kuss. Ich hatte schon eine Menge Jungs geküsst, nur ihn nicht.

Keinen Reinblütigen.

Aiden rückte herum und kam tiefer. Ich holte Luft, und meine Gedanken drehten sich in wahnwitziger Geschwindigkeit, förderten aber nichts Hilfreiches zutage. Er legte mir die rechte Hand auf die Stirn und in mir schrillten Alarmglocken.

Schnell, leise und so rasch, dass ich die Worte nicht verstand, murmelte er einen Spruch.

Der verdammte

Jäh überkam mich Dunkelheit, eine Leere ohne Gedanken oder Begriffe. Gegen einen so starken Einfluss konnte ich mich nicht wehren. Ohne ein einziges Wort des Widerspruchs versank ich in den trüben Tiefen.