Neumondschatten
© 2015 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein
Lektorat:
Jessica Idczak / Stilfeder
www.stilfeder.de
Covergestaltung:
Claudia Toman / Traumstoff Buchdesign
eBook Formatierung von SKY GLOBAL SERVICES
Alle Rechte vorbehalten
ISBN – 978-3-95869-035-6
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PROLOG
TEIL I SÖHNE DES SKIÀ
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
TEIL II TÖCHTER DER HEKATE
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
TEIL III KINDER DES ZEUS
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
EPILOG
Ihr Schrei hallte durch die Höhle, in der sie die letzten Jahrhunderte Zuflucht gefunden hatte. Wieder und wieder sah sie dieselbe Szene vor sich.
Den kurzen Moment, der alles verändern würde.
Den Kuss, der das Ende der Welt bedeutete.
Sie öffnete die Augen. Kummer spiegelte sich in ihnen.
Die Geisel der Schuld.
TEIL I
SÖHNE DES SKIÀ
Gänsehaut überzog ihre Arme, als Ella die dunkle Gasse entlangging. Gebäude, Autos, ja selbst die spärliche Bepflanzung lag grau in grau vor ihr. Einsam. Leblos. Doch das war ein Trugschluss. Die Neunzehnjährige wusste, dass hinter jedem Hindernis ein Schatten lauern konnte. Ein Schatten, der nicht vom zarten Schein des Neumonds verursacht wurde.
Als sie um die nächste Ecke bog, stieg ihr ein penetranter Geruch nach Fäulnis und verbranntem Fleisch in die Nase. Ella wappnete sich, indem sie nur noch durch den Mund atmete, um der aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden.
Er musste ganz in der Nähe sein.
Selbst durch den Mund nahm sie den Geruch von Verwesung wahr. Sie ging langsamer, ihr Blick glitt über jedes Hindernis, das auf ihrem Weg lag. Sie scannte die Schatten der Fahrzeuge, der Büsche, ja sogar des Briefkastens an der Ecke. War er dunkler als die anderen?
Der Verwesungsgeruch war nun dominant, löste in ihr den Drang aus, sich entweder zu übergeben oder davonzulaufen. Kam er aus der schmalen Gasse? Sie folgte dem Gestank und machte vor ein paar Kartons halt, die zwischen Müllcontainern gestapelt waren. Oh ja, sie war ganz in der Nähe. Langsam, die rechte Hand erhoben, schlich sie auf die Kisten zu. Ihre Atemzüge durchdrangen die Stille der dunklen Gasse.
Da! Eine Bewegung!
Sie wappnete sich für den Angriff. Ihre Rechte auf Augenhöhe, die Handfläche nach vorne gestreckt, ging sie weiter auf das mutmaßliche Ziel zu. Ihre linke Hand zog das Halstuch bis über die Nase. Ihre Notlösung, die durchaus ihr Ende bedeuten könnte. Ein Hindernis, das sie im Fall des Falles die Worte nicht klar genug artikulieren ließ. Ihr Todesurteil.
Erneut sah sie im Augenwinkel eine Bewegung. Er versuchte, sie zu verwirren. Bewegte sich in seiner unmenschlichen Geschwindigkeit.
Eine Wolke drängte vor die kaum sichtbare Mondsichel. Ella benötigte einen Moment, bis ihre Augen die neuen Grauschattierungen der Dunkelheit unterscheiden konnten. Als hätte er auf diesen Moment gewartet, erhob sich zwischen den Containern eine dunkle Gestalt.
Vor Schreck wich die junge Frau einen Schritt zurück. Ihre gesamte Haltung spannte sich an. In ihrem Kopf legte sie sich bereits den Zauber zurecht. Je näher sie dem Schemen vor sich kam, desto ruhiger wurde sie. Beruhigt nahm sie das zarte Glühen wahr, das von dem Herz des Mannes ausging. Ein untrügliches Zeichen. Er war ein Mensch. Er besaß in der realen Welt eine Seele, war keiner von denen, die sie jagte.
Skouros, die dunklen Söhne Skiàs, hatten ihre Seele verloren, weil sie sich zu lange in der Schattenwelt aufgehalten hatten. Der Schemen vor ihr besaß eine Seele. Die Anzahl von Ellas Herzschlägen verringerte sich vor Erleichterung.
Doch dann ...
Sie hätte es besser wissen müssen. In dem Moment, in dem sie ihre Hand gesenkt hatte, sah sie den dunklen Schemen erneut. Noch in ihrer Drehung zerrte sie das Halstuch vom Mund. Der penetrante Gestank trieb ihr Tränen in die Augen. Schnell sog sie die Luft durch den Mund ein und stieß ihn durch die Nase wieder aus. Ein Umstand, der sie Zeit kostete.
»Fos!« Durch das geflüsterte Wort begann ihre Hand zu leuchten. Nur ein zarter, bläulich-weißer Schimmer, der den Skouro jedoch sofort zurückweichen ließ.
Sie konnte ihn nicht entkommen lassen. Schritt für Schritt trat sie auf ihn zu. Der Seelenlose jedoch entglitt ihr immer weiter. Ihr Tempo erhöhte sich, sie joggte beinahe schon.
Die Gasse schien kein Ende zu nehmen. Sie wollte den Skouro festnageln. Doch um ihn zu zerstören, musste sie ihn berühren. Nie zuvor war sie ihm so nahe gewesen wie heute. Ella konnte nicht sagen, warum sie es wusste. Warum sie sich so sicher war, dass sie dem einen gegenüberstand, der ihr Jeremy genommen hatte. Oder war es nur Einbildung? Seit er Jeremys Körper verlassen hatte, war sie ihm nicht mehr so nahe gewesen.
Der Schatten wich immer weiter zurück, dem Ende der Gasse entgegen, aus dem es kein Entkommen gab. Dieser Umstand ließ Ella zweifeln, ob tatsächlich sie die Jägerin in diesem Spiel war. Sie schien direkt in eine Falle zu tappen.
Als hätten ihre Freunde dasselbe gedacht, tauchten plötzlich zwei Gestalten vor Ella auf. Schatten wie sie, jedoch mit einem zarten Silberglanz ums Handgelenk - die Verbindung zu ihren Körpern außerhalb von Skiàs Welt.
»Das ist ein Hinterhalt, Ella!«, rief Jan. Doch die Warnung kam zu spät. Er deutete in Richtung des offenen Endes der Sackgasse. Ella fuhr ihren Schattenkörper herum und entdeckte sofort die vier Schemen, die lautlos und unverborgen auf sie zukamen. Tiefdunkle Schatten, die keinerlei Verbindung zu einem Körper aufwiesen, wie menschliche Jäger oder Wandler sie besaßen: Skouros.
Kim fixierte weiterhin den Skouro, den Ella gejagt hatte. Eigentlich war es Ellas Prüfung. Jan und Kim sollten lediglich ihren Körper in der echten Welt begleiten, wie es für Jäger Vorschrift war. Niemand durfte ohne Etairos überwechseln und sich Skiàs dunklen Söhnen stellen. Doch zum Glück hatten sich Jan und Kim dafür entschieden, einzuspringen.
Sie pressten sich Rücken an Rücken. Kim visierte den einzelnen Skouro an, Jan und Ella wollten die anderen vier abwehren. Nahezu zeitgleich erhoben sie ihre rechten Hände und sprachen den Fos. Ihre Hände wurden sofort von dem Zauber umgeben und das Licht drängte die Schatten zurück. Für den ersten Moment. Denn plötzlich wuchsen ihnen aus den Händen Schwerter, die sie auf Ella, Jan und Kim richteten. Mit jedem Wimpernschlag kamen sie näher und Ella wagte es nicht mehr, zu blinzeln.
»Weiß einer von euch, wie man so ein cooles Lichtschwert materialisiert, wie Nikolaos es letztens vorgeführt hat?«, murmelte Jan. Nikolaos hatte ihnen demonstriert, welche Waffen den Jägern zur Verfügung standen. Da sie alle jedoch noch nicht wirkliche Kämpfe bestreiten sollten, gehörte das zum späteren Teil der Ausbildung. Nach der Eignungsprüfung, die heute für Ella stattfand.
Auch wenn Ella nicht wusste, ob Jan sie sehen konnte, schüttelte sie lediglich den Kopf. Die Skouros waren nur noch einen Meter von ihnen entfernt, die dunklen Schwerter durchbrachen bereits das Leuchten, das von Ellas Handfläche ausging.
»Du meinst so etwas Cooles wie das hier?«, rief eine Stimme aus dem Nichts und ein Licht durchschnitt zuerst die Luft und dann den Skouro links außen. Er zerbarst in einem Leuchtregen. Ein weiterer Dolch aus purem Schein schoss auf den mittleren Skouro zu und zerstörte auch ihn.
Nun waren die anderen gewarnt, wichen zur Seite, versteckten sich in den echten Schatten der Mülltonnen und waren mit bloßem Auge nicht mehr auszumachen, so sehr Ella auch die Augen zusammenkniff.
Mit einem Sprung landete Nikolaos genau neben ihnen. Sein Körper war dermaßen durchtrainiert, dass man selbst an seinem Schatten jeden einzelnen Muskel der Oberarme erkennen konnte. Auch an seinem Handgelenk funkelte der Lichtreif seiner Seele, die Verbindung zu seinem Körper.
Plötzlich durchschnitt ein Schrei die Stille. Sofort wirbelte Nikolaos, beweglicher als man es von einem so großen Körper erwarten würde, an Kims Seite. Ihr Fos war bereits erloschen, völlig von dem Skouro eingesaugt.
»Oplo!«, rief ihr Ausbilder laut und hielt im selben Moment ein weißglühendes Langschwert in der Hand. Doch der Skouro bewegte sich in unmenschlicher Geschwindigkeit. Er wich zurück, sprang auf einen Glascontainer am Ende der Gasse und überwand mit einem großen Satz die Mauer zum angrenzenden Grundstück. Er war ihnen entwischt.
Schnell durchforsteten Ella und Jan die Schatten neben den Mülltonnen, um die beiden übrig gebliebenen Skouros zu suchen, jedoch ohne Erfolg. Sie hatten mit der Ankunft von Nikolaos das Weite gesucht.
Die Umgebung gesichert, eilte Jan zu Kim, die ihren rechten Arm an den Oberkörper gepresst hatte und vor Schmerzen aufstöhnte. Beruhigend fuhr Jan ihr über den Rücken. »Zum Glück ist er nicht noch näher gekommen«, flüsterte er, als wäre er sich eben erst der Gefahr bewusst geworden, in der sich die drei Neolaias befunden hatten.
Gemeinsam mit Nikolaos, oder auch Nik, wie er sich zu Beginn ihrer Ausbildung vorgestellt hatte, trat Ella zu den beiden.
»Kehrt zurück. Die Wunde muss schnellstmöglich versorgt werden«, befahl er.
Ella sprach den Diavasi laut und deutlich, wie es jedem Neolaia beigebracht wurde. Sofort war der Übertritt geschafft und ihr Bewusstsein war wieder in ihrem echten Körper. Auch ihre Freunde waren zurückgekehrt.
Nikolaos nahm Kims rechte Hand vorsichtig in seine, streckte ihren Arm und untersuchte die Wunde. Ella war immer wieder schockiert, was die Verletzungen in Skiàs Reich dem Körper in der echten Welt antun konnten. Kims Arm war von der Hand ausgehend dunkelrot gefärbt, als hätte sie starke Verbrennungen erlitten. Doch es waren keine Verbrennungen. Es war die beginnende Verwesung der berührten Körperteile. Kim musste schnellstmöglich behandelt werden.
Nik zog ein kleines Päckchen aus seiner Gesäßtasche und packte es aus. Ein Verband befand sich darin, der vom Magos mit einem Zauber versehen worden war. Auch Ella hatte einen solchen in der Tasche. Ohne dieses Hilfsmittel müssten verletzte Jäger den Schmerz bis zur Behandlung durch den Heiler ertragen. Früher oder später würden sie vor Qual zusammenbrechen. Kaum waren Kims Hand und ihr Arm eingewickelt, entspannte sich ihr Gesicht. Die Magie darin wirkte sofort.
Ella war bisher von einer Verletzung durch Skouros verschont geblieben. Bis auf heute, dem Tag ihrer Prüfung, hatte sie stets Nik an ihrer Seite im Skià gehabt und die Schatten waren vernichtet gewesen, ehe sie Ella zu nahe rücken konnten.
Dankbar sah Kim Nikolaos hinterher, der die Gasse entlangging. Als keiner von den Neolaias Anstalten machte, ihm zu folgen, rief er, ohne sich umzudrehen: »Der SUV parkt in der nächsten Straße. Oder wollt ihr etwa laufen?« Mit einem lauten Lachen, als wäre nichts geschehen, lief er weiter.
So war Nik. Seit sie ihn vor knapp drei Monaten kennengelernt hatten, konnte ihn nie etwas aus der Fassung bringen. Er war die Ruhe in Person, ein Fels in der Brandung. Ganz gleich, ob man einen ruhigen Pol im Kampfgeschehen benötigte oder beim Training, das ihn sicher das eine oder andere Mal zum Verzweifeln brachte. Er blieb stets die Ruhe selbst.
»Los! Gehen wir, damit Kim schnellstmöglich vom Magos behandelt werden kann«, motivierte Ella Jan und seine Freundin. Die beiden hatten nie auch nur daran gedacht, Ella in der ganzen Zeit hängen zu lassen. Eigentlich war es ihr Kampf. Sie selbst wollte dem Schatten entgegentreten, der ihr Jeremy genommen hatte. Ihr Wille war groß genug gewesen, um ihr altes, verträumtes und alles andere als selbstbewusstes Ich zu Rapunzel in den Turm zu sperren und die Rolle des tapferen Ritters zu übernehmen. Die Retterin, die ihren schlafenden Prinzen aufwecken würde.
Doch dazu musste sie die Prüfung bestehen, bei der sie nicht gerade erfolgreich gewesen war. Kim war verletzt, sie und Jan hätten gar nicht erst eingreifen dürfen. Von Nikolaos’ Auftritt ganz zu schweigen. Ella verzog den Mund und ließ sich etwas zurückfallen. Während sie weiter ihren Gedanken nachhing, beobachtete sie Kim und Jan. Er hatte seinen Arm um Kims Hüfte gelegt. Sie fest an sich gepresst, gingen sie nebeneinander her.
Ella spürte ein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust, das unwillkürlich das Bild von Jeremy in ihren Geist projizierte. Sie sah den leichenblassen Körper vor sich, wie er aufgebahrt in den Räumen des Magos’ lag, sein kaum mehr sichtbarer Schatten wie graue Spinnweben neben sich.
Ella schüttelte den Kopf. Sie verbot sich diese Gedanken, die sie in den trüben Sumpf aus Schuldgefühlen stürzten, weil sie ihm nicht helfen konnte. Sie versuchte, stark zu sein. Sie musste stark sein. Für Jeremy. Für ihre Freunde. Kim war verletzt und musste geheilt werden. Was Ella unweigerlich mit den Bildern konfrontieren würde, die sie soeben aus ihrem Geist verbannt hatte.
Thara sah zum Fenster hinaus. Grün, wohin das Auge blickte. Rasen, Bäume, Wiesen, Felder, noch mehr Bäume, noch mehr Wiesen.
Selbst heute wusste die Achtzehnjährige nicht, warum ihre Mutter damals gewünscht hatte, dass sie ausgerechnet diese Schule im Süden Deutschlands besuchte, weit entfernt von ihrem Wohnort in London und ebenso dem Land ihrer Vorfahren.
Ihre Eltern waren beide griechischer Abstammung und hatten ihre Tochter auf den wohlklingenden Namen Tharalea getauft. Thara empfand ihn als zu lang, daher wurde sie von ihren Mitschülern nur Thara genannt. Ihr Vater - wenn sie ihn denn mal zu Gesicht oder auch nur ans Telefon bekam - nannte sie Lea.
Ihr Name war eine Art Kompromiss gewesen, hatte er ihr irgendwann erzählt. Der Wunschname ihrer Mutter war Thara gewesen, ihr Vater hatte für Lea gestimmt. Wie er jedoch später dem letzten Wunsch seiner verstorbenen Frau nachgekommen war und Thara für das Abschlussjahr auf die Schule in Salem geschickt hatte, hatte er damals auch nicht auf seinen Namenswunsch beharrt. Nachdem Tharas Mutter kurz nach der Entbindung gestorben war, hatte er ihr einen Doppelnamen gegeben.
Da stand sie nun: ihr Name ein Kompromiss, ebenso ihr ganzes Leben. Sie war während der Unterrichtszeiten hier im Internat, während der Ferien in London. Doch ganz gleich, wo sie war, ihren Vater sah sie so gut wie nie.
Sie hatten sich auch vorher schon auseinandergelebt, ihr Umzug vor fünf Monaten hatte diesen Zustand nicht einmal verschlechtert.
Tharas Blick fiel auf ihre Mitschülerinnen zwei Stockwerke unter sich. Heute Nachmittag war Yoga angesagt. »Die beste Möglichkeit, seine Energien zu fokussieren«, wie die Schulleiterin immer zu sagen pflegte. Das ganzheitliche Getue und die Naturverbundenheit waren das Einzige, das Thara am »Mädcheninternat Salem« störte. Anstelle von Yoga nutzte sie den Trainingsraum im Keller und übte die Kampftechniken, die sie von klein auf von ihrem Vater beigebracht bekommen hatte.
Auch wenn sie sich gegen dieses Leben entschieden hatte, wollte sie doch gewappnet sein, sollte sie einmal auf einen seelenlosen Schatten treffen.
Wie erstarrt blickte Ella auf den Körper, der am Ende des Raumes aufgebahrt war. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, wie schnell Jeremys Verfall vonstattengehen würde. Selbst der Magos hatte immer wieder beteuert, dass Ella noch viele Wochen Zeit hätte. Da musste er sich getäuscht haben.
Beinahe paralysiert ging Ella den langen Raum entlang, der mit seinen weißen Wänden und der kühlen Beleuchtung so kalt wirkte wie ein Operationssaal im Krankenhaus. Der starke Kontrast zum hinteren Bereich, in dem Jeremy lag, war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das Feldbett unter Jeremy war mit altem Leder überzogen, das alles andere als steril sein dürfte. Kerzen und Duftöle waren auf kleinen Tischen rund um Jeremy aufgebaut und verströmten nicht nur einen penetrant süßen Duft, sondern tränkten die Luft um den scheinbar leblosen Körper mit echter Magie.
Ella biss die Zähne zusammen, um nicht sofort ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Das Training mit den anderen in den letzten Monaten hatte sie stärker gemacht, als sie immer geglaubt hatte, zu sein. Doch angesichts der Bilder vor ihr bekam die Mauer der Stärke um sie herum Risse, begann zu bröckeln und drohte, jeden Moment einzustürzen. Jeremys Schatten lag blass neben seinem Körper. Beide leblos, wie tot. Wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg. Ella würde nur zu gerne den giftigen Apfel aus seinem Inneren schütteln.
Wenn Jeremy damals doch nicht so neugierig gewesen wäre und sie in Schattengestalt besucht hätte! Dann würde er nun nicht so vor ihr liegen. Ella machte sich immer noch Vorwürfe, ganz gleich, wie oft ihr Jeremy in der vorletzten Vollmondnacht beteuert hatte, dass er selbst schuld war. Ella verzog gequält das Gesicht.
Vollmond. Neben dem Neumond die einzige Zeit, in der die Grenze zwischen Skiàs Welt und der Welt der Menschen verwischte und durchlässig genug war, um ganz besondere Dinge zu tun.
Ella erinnerte sich an den ersten Schock, den Jeremy ihr verpasst hatte, nachdem er bei Neumond zu ihrem Schatten wurde und wild gestikulierte, um sich ihr zu offenbaren. Sie hatte es anfangs für ein Hirngespinst gehalten, so sehr sehnte sie sich nach Jeremys Nähe. Doch er hatte sich zu der Zeit so stark verändert gehabt, dass sie eine Trennung für unausweichlich hielt. Aus dem netten Jungen von nebenan, der Ellas Herz mit seinen strahlenden Augen zum Aussetzen brachte - ganz zu schweigen von dem besonderen Lächeln, das er ihr von Anfang an geschenkt hatte - war ein echtes Ekelpaket geworden, das jedes Mädchen ausnutzte, das nicht bei drei verschwunden war.
Sein Körper baute ab, zerfiel beinahe. Er sah krank aus, hatte stark abgenommen, sein Gesicht war eingefallen und die Augen waren von dunklen Schatten umrandet. Was jedoch das Schlimmste war: Er hatte keinerlei Glanz mehr in den Augen. Ella hatte die ganze Zeit über gewusst, dass etwas nicht stimmte. Doch wer hätte ihr geglaubt? Jan und Kim nahmen zu der Zeit an einem Schüleraustausch teil und so konnte Jan Ella lediglich am Telefon beistehen. Sie selbst jedoch war gewillt herauszufinden, was mit Jeremy passiert war. Und sie hatte es geschafft. In der Neumondnacht, in der Jeremy Walker zu ihrem Schatten wurde, der in Vollmondnächten in der Lage war, mit ihr zu sprechen, sie sogar zu berühren!
Die Sehnsucht brachte Ella beinahe um. Die sechs Monate, die sie zusammen gewesen waren, hatten vor allem aus Lernen und Abiturprüfungen bestanden. Nach der letzten Klausur hatten sie sich für das Wochenende verabredet gehabt, doch der seelenlose Schatten kam ihnen zuvor, hatte all die Magie zerstört, die zwischen ihnen immer stärker geworden war, für die Küsse das reinste Benzin waren.
Nun blieb Ella nur, die kalte Hand auf dem Feldbett zu ergreifen, deren Puls kaum spürbar war. Zärtlich streichelte sie über den Handrücken und unterdrückte nur mühsam die Tränen.
Warum nur hatte Jeremy seinen Körper verlassen, ohne ihn zu versiegeln? Die Frage hatte Nikolaos ihr oft gestellt. Die Antwort war einfach. Jeremy hatte es nicht besser gewusst. Er besaß die Fähigkeit, in die Schattenwelt zu wechseln, jedoch keinerlei Wissen über all die Hintergründe des Erbes, das er angetreten hatte. Sein Vater war von einem Skouro besetzt und zugrunde gerichtet worden, als Jeremy zwölf gewesen war. Noch bevor er seinem Sohn etwas über Skià und die Schattenwelt erzählen konnte. Bevor er ihn warnen konnte, nicht ohne Sfragisi seinen Körper zu verlassen. Jeremy erhielt Ratschläge nur von seiner Mutter, die diese Kräfte selbst nicht besaß und vor lauter Angst um ihren Mann nie weiter in diese Welt hineingezogen werden wollte. Und nun lag Jeremy hier, sein Schatten nur ein Hauch von Nebel, trotz all der Lampen im restlichen Teil des Raumes.
Der Magos sagte, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ginge. Wie hasste Ella diesen Spruch!
Sie drückte Jeremys Hand ein letztes Mal, ließ ihre Finger anschließend vorsichtig über das bleiche Gesicht gleiten, das ihr so viel bedeutete, und stand von dem kleinen Hocker auf, der neben dem Lager stand.
Jan und Kim traten in diesem Moment zu ihr. »Er sieht noch schlimmer aus als gestern«, sprach Ella eher zu sich selbst als zu ihren Freunden. Sie konnte sich noch nicht von Jeremy lösen. Jan legte ihr die Hand auf die Schulter: »Wir werden diesen Mistkerl kriegen!«, versprach er Ella.
Ohne Jan und Kim hätte Ella diese Zeit niemals durchgestanden. Sie gaben ihr Halt und unterstützen sie - selbst in einem Kampf gegen Wesen, die nicht von dieser Welt waren: Skiàs dunkle Erben. Jene Wesen, die das Blut der Schattenwandler in sich trugen und so lange in der Parallelwelt verblieben waren, dass ihr eigener Körper, der ohne seine Seele nicht lange überleben konnte, verstorben war.
Ohne ihre Freunde könnte sie auch nicht an diesem Feldbett sitzen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen.
Letzten Neumond war es so weit gewesen. Jeremys Körper hatte die Strapazen durch den Schatten nicht länger ertragen können und war zusammengebrochen. Der Schatten war im letzten Moment aus ihm gewichen und hatte das Weite gesucht. In diesem Moment war Ella außer Stande gewesen, ihm entgegenzutreten. Sie war auf Jeremy zugeeilt, bettete seinen blassen Kopf auf ihrem Schoß und schrie verzweifelt um Hilfe. Es war der Tag von Kims Prüfung gewesen, daher war Nik vor Ort, hatte Jeremy über die Schulter gehievt und Jan via Handy kontaktiert. Er sollte Kim aus der Schattenwelt holen und zurück zum Zentrum kommen.
Ella vermutete, dass seit Jeremys Zusammenbrechen keine fünf Minuten vergangen waren, dennoch fühlte sich die Reise zum Institut an, als würde sie Jahre andauern. Der Magos, der Magier des Instituts, der nie beim Namen genannt wurde, versuchte sofort, Jeremys Schatten von Ellas Körper zu lösen und ihn seinem eigenen zuzuführen. Leider ohne Erfolg. Die Versiegelung durch den Skouro war selbst mit der starken Magie des Magos’ nicht zu brechen. Sein Körper wäre ohne Geist und Seele gestorben. Daher schuf der Magos eine synthetische Verbindung zwischen Schatten und Körper, die jedoch nicht so stark war, dass die Symbiose den Körper wieder zum Leben erwecken würde. Daher war es dringend nötig, den Schatten zu finden, der seinen Körper besetzt und die Versiegelung, den Sfragisi, nicht aufgehoben hatte. Sein Tod würde ihn brechen und Jeremys Schatten, seine Seele, könnte sich wieder mit dem Körper verbinden. So zumindest hatte es der Magos Ella erklärt.
Doch zuerst mussten sie den Schatten finden und ihn dann auch noch besiegen. Die Zeit lief ihnen davon.
Schon wieder war Thara von ihren Albträumen aufgeschreckt worden. Ihr Herz klopfte im Rhythmus eines Trommelwirbels. Hatte sie geschrien?
Glücklicherweise besaß hier in Salem jeder ein Einzelzimmer, wenngleich es winzig und so spartanisch eingerichtet war wie zu den Zeiten, als das Mädcheninternat noch ein Kloster und von zahlreichen »Schwestern St. irgendwas« bewohnt gewesen war. Ein Blick auf ihren Wecker auf dem schmalen Holzbrett, das neben dem Bett angebracht war und als Nachtschrank diente, verriet ihr, dass es zwei Uhr nachts war.
Thara rieb sich über das Gesicht. Um diese Zeit wollte sie eigentlich noch nicht aufstehen, einen erneuten Albtraum wollte sie jedoch vermeiden. Kurz überlegte sie, sich ihre Schulbücher von dem Schreibtisch in der Ecke zu holen und für die Biologie-Prüfung nächste Woche zu lernen, verwarf den Gedanken aber schnell. Sie musste die durch den Traum angestaute Energie loswerden! Also ging sie kurzerhand zu dem kleinen Schrank, der ebenso aus Buchenholz bestand wie der Rest der Einrichtung, und zog ihre Trainingsklamotten heraus. In Windeseile hatte sie sich umgezogen und war auf dem Weg in den Keller.
Manche ihrer Mitschülerinnen nannten ihn das Verlies und den Sportraum die Folterkammer. Daher war der Raum auch nur selten besucht. Die Mädchen des Internats waren alle eher Yoga- und Pilates-Typen - ganz im Gegensatz zu Thara. Eigens für sie war von der Schulleiterin ein Boxsack in der hintersten Ecke angebracht worden. Eigentlich hielt Frau Grünberg nichts von Gewalt, war aber durch eine Spende in Form neuer Trainingsgerätschaften milde gestimmt worden. Tharas Vater war jedes Mittel recht gewesen, seiner Tochter weiterhin die Möglichkeit der körperlichen Ertüchtigung zu bieten. Vielleicht hoffte er, dass sie irgendwann in seine Fußstapfen trat?
Thara wunderte sich immer wieder, dass er dem letzten Wunsch ihrer Mutter nachgegeben und sie hierher geschickt hatte - in ein altes Kloster mitten im Wald, neben einem kleinen Ort, dessen neuenglischer Namensvetter sich in die Geschichtsbücher als Ursprung der Hexenverfolgungen geschrieben hatte.
Heute dachten bei der Erwähnung von Salem nur noch Wiccas an die dunkle Geschichte. Als ihr Vater ihr offenbart hatte, dass Thara auf ein Mädcheninternat nach Salem sollte, war sie vorerst in dem Glauben, in das Salem zu reisen, und umso erstaunter gewesen, als sie die Broschüre und ein Wörterbuch überreicht bekommen hatte, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Auch wenn sie nicht an Hexen und all das Zeug glaubte, hatte sich in ihrem Inneren etwas bei der Erwähnung des geschichtsträchtigen Ortes gerührt. Etwas, das seltsamerweise auch beim ersten Betreten der Mädchenschule in ihr aufbegehrt hatte.
Der Zeremoniensaal war in Kerzenlicht getaucht, das tanzende Schatten auf die Wände warf. Laurenz, der Leiter des hiesigen Instituts, saß bereits im Schneidersitz auf einem der Kissen, die kreisförmig in der Raummitte ausgelegt waren. Sein Blick richtete sich auf die Kerzen vor ihm, er schien zu meditieren. Der Magos saß zu seiner Rechten, Nikolaos nahm auf der anderen Seite Platz. Die Neolaias, Neulinge wie Jan, Kim und Ella , mussten so lange stehen, bis auch der letzte aktive Jäger sich im Kreis befand, hatte Nik ihnen eingetrichtert. Dies zeugte von Respekt und würde das Ansehen der jungen Leute steigern. Auch wenn Nik selbst nicht viel älter aussah als seine Trainees , könnte er doch ihr Vater sein und hatte bereits eine machtvolle Position inne. Laurenz vertraute ihm mindestens genauso wie dem Magos.
Endlich konnten auch die drei Freunde ihre Plätze gegenüber dem Meister einnehmen. Ella war sehr nervös, spielte ununterbrochen mit ihren Fingern herum und konnte Laurenz nicht in die Augen sehen. Genauso wenig wie Nik, der selbst Zeuge ihrer verpatzten Prüfung war. Ella konnte nur noch auf eine Chance hoffen, den letzten Trainingsmonat wiederholen zu dürfen und nicht aus dem Kreis ausgestoßen zu werden. Alles in ihr schrie danach, dass es die einzige Chance war, Jeremy zu retten. Dachte sie, sie wäre motivierter, weil sie den leblosen Körper zwei Räume weiter liebte? Sie vertraute Jan, Kim und auch Nik, dennoch zweifelte irgendetwas in ihr, dass Jeremy ohne sie gerettet werden könnte. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass sie weitermachen, für ihre Liebe kämpfen müsste.
Mit einem lauten Räuspern unterbrach Laurenz ihre Gedanken. Der Magos hob die Hand, die Flammen in ihrer Mitte schossen kurz in die Höhe, ließen die gekrümmten Schattengestalten an den Wänden einen wilden Tanz aufführen. Hitze schlug Ella entgegen, die ihr das Atmen erschwerte. Magie lag in der Luft, verdickte sie und legte sich auf Ellas Haut nieder. Ein Prickeln fuhr durch ihre Arme, kroch weiter über ihren gesamten Körper, bis ihr Herz in einem schnelleren Takt schlug.
»Nicht oft begleiten wir in unserem kleinen Institut Neolaias bis zu ihrem Abschluss. Die großen Institute übernehmen diese Verantwortung. Doch in eurem Fall«, er sah nacheinander Ella, Jan und Kim in die Augen, »war es eine solch besondere Angelegenheit, dass der Schattenrat uns einen Ausbilder an die Seite gestellt hat.« Er nickte Nikolaos an seiner Seite zu.
»Aber beginnen wir, wie es diese Zeremonie verlangt: mit der Geschichte einer großen Göttin und eines Gottes, die in dieser Form nie zueinander hätten finden sollen. Unsere Legende besagt, dass Apollon, der Gott des Lichts, sich vor den anderen Göttern brüstete, selbst die dunkle Nacht zum Erleuchten zu bringen. Nyx, die Göttin der Nacht, lebte abgeschieden in der Dunkelheit, kümmerte sich nicht um die anderen ihrer Art. So nahm Apollon den Weg auf sich, verführte die Personifikation der Nacht und ließ sie danach sitzen. Die Schmach brachte Nyx dazu, alle zu töten, die Zeuge dieser Demütigung wurden, weshalb nur Apollon die Konsequenz dieser Nacht kannte: den Sohn, den Nyx in Dunkelheit vor sich hinvegetieren ließ. Ohne Zuneigung, ohne Essen und Trinken. Das Kind verfolgte die Nacht wie ein Schatten, weshalb sie ihn Skià nannte - Schatten.
Während er zu einem jungen Mann heranwuchs, entdeckte Skià die besonderen Fähigkeiten, die ihm seine Eltern in die Wiege gelegt hatten. Er war fähig, seine Seele in seinen Schatten zu legen und auf diese Weise nahezu unbemerkt auf der Welt zu wandeln. Schnell begriff er, dass der Kontakt zu Menschen ihn stärkte, die Nahrung war, die ihm sein bisheriges Leben lang vorenthalten wurde. Und so nährte er sich, wurde stärker und stärker, während die Menschen immer kränker wurden - denn die Nahrung, die er aufnahm, war die menschliche Seele.«
Die Jäger neben Ella stimmten mit Nicken und Murmeln zu, während Ellas Herz immer schneller schlug. Laurenz stellte dar, was auch mit Jeremy passiert war, und sofort lag Ella wieder der Verwesungsgeruch in der Nase, der die Gegenwart des Skouros in Jeremy aufgezeigt hatte. Nur dass es bei einem Schattenwandler selbst noch schneller vonstattenging. Ein Schaudern durchfuhr ihren Körper.
»Der Göttervater Zeus wurde auf den Umstand aufmerksam und stellte die Götter zur Rede. Keiner wusste etwas über die Gestalt, die das Sterben der Menschen zu verantworten hatte, bis Apollon sich meldete und das Techtelmechtel mit Nyx gestand. Zeus sandte daraufhin Boten aus, die Skià zu ihm bringen sollten. Doch dieser war längst mächtiger als der Göttervater selbst und hatte sich sein eigenes Refugium erschaffen, in dem er sich versteckt hielt: Skiàs Reich, die Schattenwelt. Zeus’ Zorn war übermächtig und er versiegelte diese neue Welt und gebot, dass niemand jemals über die Grenze schreiten und sie öffnen durfte. Womit er nicht gerechnet hat, waren die zahlreichen Nachkommen Skiàs, die er mit menschlichen Frauen gezeugt hatte. Schattenwandler wie er, die abhängig von der Mondphase in sein Reich übertreten konnten und sich, wie ihr Vater, von der Seele der Menschen ernährten.«
Die Jäger im Kreis rutschten nervös hin und her, während die Spannung im Raum immer weiter anstieg. Jeder von ihnen musste die Geschichte schon unzählige Male gehört haben, doch die hypnotische Stimme von Laurenz übertrug all das Leid der Menschen auf sie. Ella hatte inzwischen Gänsehaut am ganzen Körper.
»Jahrhundertelang lebten die Söhne und Töchter Skiàs ohne Kontakt zu demjenigen, der sie erschaffen hat , und keiner weiß, was wirklich mit dem Gott selbst geschehen ist.
Einige der Söhne, von Hunger und der Gier nach Macht getrieben, gingen auf die Suche nach ihrem Vater, ihre Schatten übertraten die Grenze zu seinem Reich für zu lange Zeit und ihre Körper verstarben. Sie wurden zu dem, was wir am meisten hassen und bekämpfen müssen: Skouros, seelenlose Schatten, die sich unabhängig von der Mondphase nähren können.«
Die Skouros besaßen keine Seele mehr, die sie einschränkte. Zum Schatten eines anderen zu werden, war Wandlern wie Nikolaos nur in Neumondnächten möglich. Sie hielten ihren Hunger auf die Seele der Menschen durch die Aufnahme von Emotionen in Zaum, wollten verhindern, dass Skià erneut in ihre Welt trat und die Menschheit ins Unheil stürzte. Die Verbundenheit zu ihnen, in deren Mitte sie aufgewachsen waren, war stärker als die zu ihrem Vater. Sie wurden die Verteidiger der Menschen, stellten die Krieger gegen die dunklen Skouros der Welt.
Der Jäger neben Ella, er hieß Sam, ballte beide Hände zu Fäusten, bis die Sehnen weiß hervortraten. Sie waren von unzähligen Narben bedeckt, wie auch die meisten anderen sie mit Stolz trugen. Unzählige Verletzungen nach Kämpfen in der Schattenwelt, die zu spät behandelt wurden. Ella konnte sich das Ausmaß der Schmerzen nicht vorstellen. Sie schüttelte hastig den Kopf, um die Gedanken daran zu vertreiben. Nun kam der beste Teil der Legende und Ella hing erneut wie gebannt an Laurenz’ Lippen:
»Wir, die lichten Söhne Skiàs, haben eine Möglichkeit gefunden, auch die Menschen in diesem Kampf zur Unterstützung mit einzubeziehen. Die Magier aus unseren Reihen haben den Diavasi entwickelt, den Zauber für den Übertritt, und so gibt es jährlich unzählige Neolaias , menschliche Jäger, die sich dem Kampf gegen die Schatten anschließen.« Laurenz ließ die Worte ausklingen, ein Echo breitete sich in dem kahlen Zeremoniensaal aus. Das Prickeln wurde zu einem positiven Schauer, der sich wie eine Energiespritze durch Ellas Körper bewegte.
Laurenz erhob sich von dem Kissen und ging auf Jan zu. »Du bist der erste Neolaia, der die Prüfung an unserem Institut bestanden hat. Du hast deine Kraft und Stärke erkennen lassen, hast gezeigt, wie du auf Unvorhersehbarkeiten reagierst und damit bewiesen, dass du würdig bist, die wahren Zauber gelehrt zu werden. Wir freuen uns, dich in den Kreis der Jäger aufzunehmen.« Laurenz legte Jan die Hand auf den Kopf, den dieser demütig gesenkt hatte.
Erneut spürte Ella die Hitze der Flammen, die in dem Moment zu unnatürlicher Größe heranwuchsen. Als sie sich beruhigt hatten, ging Laurenz weiter zu Kim. Er wiederholte die Worte nahezu identisch und lobte Kims Loyalität und das Talent, Gefahren einschätzen zu können. Wenn sie ihre Ausbildung fortsetzte, würden solche Unglücke wie in der letzten Nacht nicht mehr vorkommen.
Zum Schluss trat der Meister zu Ella. Sie malte sich bereits aus, was sie erwidern würde, wenn er ihr die Absage erteilte. Die Worte lagen bereits auf ihrer Zunge. Sie würde flehen, betteln, ganz gleich, was nötig war, um eine Jägerin zu werden und das wahre Kämpfen zu erlernen. Sie würde es tun. Sie blickte auf Laurenz’ nackte Füße und spürte die Hand auf ihrem Kopf, wappnete sich für seine Rede.
»Ella, du bist der Grund, warum wir überhaupt hier vor Ort ausbilden. Du bist zu den Vertretern in London gegangen, um Hilfe zu erbitten und hast sie in einer Form erhalten, die vermutlich keiner von euch vorher erwartet hätte.«
Ella schüttelte den Kopf. Die Klassenfahrt nach London, die ihre Mutter mühsam zusammengespart hatte, hatten sie, Jan und Kim dazu genutzt, den Hinweisen zu folgen, die sie in den Tagebüchern von Jeremys Vater gefunden hatten. Diese hatten sie wenige Tage zuvor von Jeremys verzweifelter Mutter erhalten. Nachdem sie schon ihren Mann an die Skouros verloren hatte, fürchtete sie das Schlimmste. Daher unterstützte sie die drei Freunde mit allen Informationen, die sie hatte - in Form der Tagebücher. So fanden Ella, Jan und Kim die ersten Hinweise auf einen hohen Rat, folgten während der Klassenfahrt den Anhaltspunkten vor Ort, bis sie von einem jungen Mann nahezu überfallen wurden. Er hatte gespürt, dass der Schatten eines Wandlers Ella folgte. Dann ging es Schlag auf Schlag, eine Sitzung wurde einberufen, die jungen Leute vorgestellt und eine schnelle Strategie entwickelt, die beinhaltete, dass Nikolaos, einer der dortigen Ausbilder, die drei begleitete und der Gruppierung vor Ort vorstellte. Laurenz war ganz angetan von der Idee und so waren sie hier gelandet.
Ein Räuspern von Laurenz brachte sie auch wieder an Ort und Stelle. Zu den Worten, die sie nicht hören wollte. Zu ihrem Meister, der ihr gleich eine Absage erteilen würde. Ella wurde eiskalt, sie zitterte trotz der aufsteigenden Flammen in der Kreismitte, die sie kurz zuvor noch gewärmt hatten.
»Ella, auch wenn deine heutige Prüfung nicht gerade dem normalen Hergang entsprach und du dich selbst in Gefahr gebracht hast, kannst du nichts für das Einschreiten deiner Freunde. Im Gegenteil: Ihnen ist es zu verdanken, dass wir nicht schon während der ersten Prüfung eine Neolaia verloren haben.« Laurenz machte eine kurze Pause, die Kerzenflammen stiegen höher und höher. »Wir heißen auch dich im Kreis der Jäger willkommen und freuen uns, dass du uns im Kampf gegen die Skouros unterstützt. Sie dürfen Skià niemals die Tore öffnen.«
Eine Stichflamme schoss aus den Kerzen empor, als der Meister auch seine zweite Hand auf Ellas Kopf legte. Ihr Blut schien mit einem Mal zu brodeln. Kurz blitzte ein Gedanke in ihr auf: weiße Flammen, die dem Fos ähnelten. Flammen, mit denen sie die Schatten besiegen konnten. Nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei. Laurenz nahm seine Hände von Ellas Haar, ging gemächlich zu seinem Platz zurück und setzte sich in ebenso trägen Bewegungen. Hatte ihn die Zeremonie angestrengt?
»Auch ich heiße die neuen Jäger im Kreis willkommen«, begann der Magos. Sein Tonfall spiegelte nicht wie erwartet seine Worte. Er schien alles andere als begeistert über die Entwicklung zu sein. Vielleicht war er Magos in diesem Institut geworden, weil er nichts mit der Ausbildung der Neolaias zu tun haben wollte? »Möge euer Licht die Schatten der Welt vertreiben!«, setzte er hinzu.
Die Jäger im Kreis rissen ihre rechten Hände empor, ballten sie zu Fäusten und wiederholten den gemeinsamen Leitspruch: »Möge euer Licht die Schatten der Welt vertreiben!«
Anschließend erhoben sich alle, auch Ella und ihre Freunde, um die Glückwünsche der Jäger entgegenzunehmen. Stolz blitzte in deren Augen auf, Freude über die neue Unterstützung.
Doch Ella wusste, dass noch ein langer Weg vor ihnen lag. Sie mussten hart trainieren, bis sie annähernd an die Künste der ausgebildeten Jäger herankamen. Ella freute sich auf diesen Weg. Denn ganz gleich, wie viele Hürden er ihr bot, er würde sie unwillkürlich ihrem Ziel näher bringen: gegen den Schatten zu bestehen, der Jeremys Körper und Geist gefangen hielt.
Schweiß lief ihr in kleinen Rinnsalen zwischen den Schulterblättern und ihren Brüsten entlang. Hieb für Hieb schlug Thara auf den roten Sandsack ein. Der Glanz des Leders war an manchen Stellen schon abhandengekommen, Thara bemühte sich nun, auch den Rest zu treffen. Rechts - links - Kick. Sie achtete sorgfältig auf ihre Beinarbeit, wie ihr Vater es ihr stets vorgepredigt hatte, ehe sie zu dem hölzernen Stock griff, den sie heimlich hier nach unten geschmuggelt hatte. Waffen, so sagte die Hausleitung, waren strengstens untersagt. So sehr Tharas Vater auch gebeten hatte, eine Ausnahme zu machen, er konnte sich nicht durchsetzen und Tharas hölzerne Trainingswaffen waren in London geblieben.
Nun vollführte sie den Tanz mit dem Stock, wie sie es gelehrt worden war. In gleitenden Schrittfolgen umrundete sie ihren roten Gegner, preschte die Waffe immer wieder aus dem Nichts hervor und setzte gezielte Schläge.
Erst als sie sich völlig verausgabt hatte, versteckte sie ihre »Waffe« wieder. Sie hatte keine Angst, dass sie beim verbotenen Training entdeckt wurde, denn üblicherweise kam nie jemand in den Keller. Abgesehen von den Reinigungskräften, denen Thara einfach nicht zutraute, ihre sorgfältig gewählte Waffe aufzufinden und der Hausleitung Meldung zu erstatten.
Beim Hinausgehen schnappte sie sich ihre Flasche Wasser und ihr Handtuch, wischte sich damit übers Gesicht und leerte das gesamte Getränk auf der Treppe nach oben. Der Gang zu ihrem Zimmer führte über einen langen Flur mit zahlreichen Fenstern, die auf den Innenhof blickten. Dort fand gerade die morgendliche Meditationsrunde statt. Thara schüttelte nur den Kopf. Zum Glück wussten sie alle hier nichts von Skiàs Welt und seinen Söhnen - denn die könnten sie nicht wegmeditieren oder mit dem Morgengruß oder einem Baum besiegen. Wie selig doch die Unwissenheit war.
Verdammt, tat das weh! Nik hatte seine Drohungen wahr gemacht und behandelte die drei nun wie richtige Jäger. Er nahm sich im Übungskampf nicht mehr zurück, wie er es in den letzten Monaten getan hatte. Softie-Behandlung hatte er es genannt. Wie viel Unterschied zwischen einem Softie-Training und dem für Jäger bestand, musste Ella am eigenen Leib erfahren. Der Holzstab, den sie im Nahkampf als Ersatz für die Lichtwaffen benutzten, war hart gegen ihren Oberschenkel geknallt, als sie für einen kurzen Moment ihre Deckung vernachlässigt hatte. Sie rieb über die schmerzende Stelle, als könnte sie die Nervenenden so dazu bewegen, sich nicht mehr gegen sie und ihre Konzentration zu erheben.
»Ella, ich habe schon Schnecken gesehen, die schneller reagieren als du«, rief Nikolaos ihr zu, während er seinen Stab verteidigend gegen Jan richtete.
Nik kämpfte gegen alle drei Neolaias auf einmal und doch hatten die Neulinge keine Chance. Immer wenn Ella dachte, sie hätte eine Lücke in seiner Deckung oder einen wunden Punkt anvisiert, bereit, auszuholen und zu treffen, hatte Nik sich bereits gedreht. Er war stets in Aktion, wirbelte herum, dass einem schwindelig werden konnte. Dabei waren seine Bewegungen so geschmeidig, als würde er tanzen.
Ella ließ den Holzstab sinken und beobachtete den Kampf fasziniert. Was war sein Geheimnis? Die fließenden Sprünge und Drehungen? Die Bewegung des Stabes, hoch und runter, dann von der einen zur anderen Seite geneigt. Ella war sich sicher, dass allein dieser wie mechanisch vonstattengehende Rhythmus für einen Teil seines Erfolges verantwortlich war. Sicher, er reagierte auch auf die Angriffe von Jan und Kim - dies waren jedoch nur wenige Momente.
»Au!«, schrie Kim auf, während ihr Stab davonflog und sie mit schmerzverzogenem Gesicht ihren linken Oberarm hielt. Kim war Linkshänder, ein absoluter Vorteil im Kampf, wie Nik behauptete. Dieser hatte sich aber noch in keinem Moment gezeigt.
»Du kämpfst wie ein Mädchen«, neckte sie der Trainer, während er Jans unkoordinierte Schläge parierte.
»Ich bin ein Mädchen«, schnaubte Kim, während sie zu ihrem Kampfstab stapfte, der am Ende des Trainingsraumes lag. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, der nun von einer zur anderen Seite schwang. Mit Kim hatte Jan wirklich eine gute Partie gemacht. Sie war eines der hübschesten Mädchen des Abschlussjahrgangs gewesen und im Gegensatz zur Schulzicke Michelle, die ihr rein vom Äußeren her sehr ähnelte, zeigte sie auch eine innere Schönheit. Sie war gerecht und zu jedem freundlich, stand für ihre Freunde ein, ganz gleich, wie lange sie schon an ihrer Seite waren. Ella hätte nie gedacht, dass Kim gemeinsam mit Jan und ihr die Ausbildung zum Jäger absolvieren und den Studienplatz zur Tarnung annehmen würde. Der Schattenrat hatte großen Einfluss und vermittelte ihnen allen ihr Wunschstudium, in Wahrheit büffelten sie dort jedoch Theorie, wälzten alte Bücher über Mythologie und halfen so, noch mehr über die Geschichte Skiàs herauszufinden. Dieser Teil, das Opfer für das Wissen des Rates, war Pflichtteil der Ausbildung und jeder Neolaia musste daran teilnehmen.
Hier zeigte sich wöchentlich, dass Kim nicht nur hübsch und nett, sondern auch sehr klug war. Ella machte das Forschen mit Kim Spaß, sie war zu einer echten Freundin geworden und sie ergänzten sich wunderbar. Die Befürchtung, Kim könnte Ella ihren besten Freund Jan wegschnappen, hatte sich schnell in alle Winde verstreut. Kim neckte ihn ebenso gerne wie Ella und so waren sie ein tolles Team.
Auch wenn Jan oft mit mieser schauspielerischer Leistung versuchte, den Eingeschnappten zu spielen, wusste seine beste Freundin doch, dass er tief im Herzen ebenso froh war wie sie, dass sich alle so nahtlos zusammengefunden hatten.
Ella beobachtete Jan, der im Moment eisern Niks Schläge parierte. Bis er besiegt war, mussten die Mädchen vom Rand des Kreises zuschauen. Jan nutzte ebenfalls Niks Technik, fiel Ella auf. Nur dass ihm die Anstrengung auf die Stirn geschrieben stand. Zwischen zwei Schlägen wischte er mit dem Handrücken über die Schweißperlen und strich sich die blonden Fransen aus dem Gesicht. Ella fing Kims Blick auf, die für einen kurzen Moment ihre Augen klärte, ehe sie wieder dem Muskelspiel ihres Freundes zusah. Jans Körper war schon vor all dem hier gut trainiert gewesen. Als Hobby-Fußballer und Trainer des Nachwuchses war er mindestens zweimal die Woche auf dem Fußballplatz gewesen. Das Muskeltraining unter Niks Aufsicht hat seinen schmalen Körper etwas breiter gemacht, jede einzelne Erhebung an den Armen war wohldefiniert.
Es gab eine Zeit, vor vielen, vielen Jahren, da hatten Ella und Jan gedacht, sie würden mehr als Freundschaft füreinander empfinden und versuchten sich an einem Remake der Sandkastenliebe. Schon am nächsten Tag war klar, dass der Vorabend besser aus dem Kalender gestrichen gehörte und sie einen solchen Versuch niemals wieder wagen sollten. In Kim hatte er nun letztendlich die perfekte Partnerin gefunden und Ella wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihr Glück für immer anhalten würde.
Jan schien Kims Blick auf sich zu spüren und er sah für einen kleinen Moment zu ihr an den Rand des Kreises. Und schon segelte sein Stab nach einer kleinen Handbewegung von Nik hinfort und prallte an der holzgetäfelten Wand ab.
Ein Grinsen stahl sich auf Niks Gesicht: »Dasselbe gilt übrigens für dich. Auch wenn du dich etwas besser geschlagen hast.«
»Willst du etwa behaupten, dass ich wie ein Mädchen kämpfe?« Seinem Tonfall nach zu urteilen, nahm Jan die Stichelei mit Humor.
»Nicht nur.« Nik wischte sich theatralisch über die Stirn und strich sich imaginäre Haarsträhnen aus dem Gesicht, wobei er den Kopf nach hinten warf.
Jan verzog sein Gesicht zur Grimasse. »Es kann nicht jeder so haarlos sein wie du, Meister Propper«, konterte er.
»Selbst die Mädels«, Nik deutete mit seinem Kampfstab auf Kim und Ella, »haben kein Problem damit, ihre Haare unter Kontrolle zu bekommen. Das könnte im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden. Ich habe es dir mehr als einmal gesagt. Ich glaube nicht, dass die Skouros warten, bis du wieder etwas sehen kannst.«
Wie ertappt strich Ella sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. Ganz gleich, wie stark sie ihren roten Mob auf dem Kopf zu zähmen versuchte, sie versagte. Sie dachte an einen Traum zurück, den sie in der Nacht nach der Offenbarung von Jeremys gemeinsamen Urlaubsplänen gehabt hatte.
Die einsame Bucht, in der sie sich befunden hatten, glich einem Paradies. Von hohen Bergen umrandet, die auf dem sanft ansteigenden Bereich der ersten Meter von majestätischen Bäumen bewachsen war, glich die Bucht einem Nest. Es war nahezu windstill. Nur geringfügig stieg ihr der Duft des Meeres in die Nase. Zu ihrer Rechten neigten sich Palmen dem Wasser entgegen. Deren Schatten erreichten mit Hilfe der untergehenden Sonne beinahe das Ende des weißen Sandes, als würden sie versuchen, die anderen Pflanzen zu berühren. Das Wasser der Bucht wurde nur von zarten Wellen bewegt, die das noch vorhandene Sonnenlicht in sämtlichen Rottönen widerspiegelten.
»Es lässt deine Haare rötlicher erscheinen, als sie sind. Wie ein Flammenmeer«, bemerkte Jeremy, während er mit seiner Hand eine Strähne ihrer Haare einfing und beinahe ehrfurchtsvoll die Reflexion der Sonne betrachtete, die bei jeder kleinen Bewegung entstand.
Die beiden lagen einander zugewandt auf einer schneeweißen Decke, deren Farbe sich kaum von dem karibischen Sand abhob. Ella atmete tief ein, um seinen Geruch zu genießen. Er duftete nach Sonne und einem Hauch Meer, in das sich das Aroma eines sportlichen Aftershaves mischte. Die nicht allzu dominante, fein-süßliche Note darin untermalte ihre Gefühle in diesem Moment perfekt.
Jeremy ließ ihre Haare aus seinen Fingern gleiten, ehe er weitere widerspenstige Strähnen aus ihrem Gesicht streifte. In Erwartung der Berührung hielt sie den Atem an. Als seine Finger ihre Schultern streiften, tobte eine Welle Endorphine durch ihre Adern. Gänsehaut überzog ihre Arme, die feinen Härchen darauf richteten sich auf, als wetteiferten sie gegenseitig um eine Wiederholung. Der Kontakt mit dieser nun sensibilisierten Haut ließ sie positiv erschaudern. Wieder und wieder glitten Jeremys Finger sanft von ihrem Nacken bis zu ihrem Handgelenk. Ihr Herz schlug immer schneller, als sich sein Gesicht näherte. Millimeter für Millimeter, Atemzug für Atemzug überwand er die kurze Distanz zwischen den beiden. Ella kostete seinen Atem, genoss die Wärme, die er ihr bescherte, sonnte sich in der Vorfreude dieses besonderen Kusses. Selbst die Schmetterlinge in ihrem Bauch verharrten für einen Moment. Für diesen kurzen und zugleich unendlichen Augenblick, ehe seine Lippen auf ihre trafen. Die Woge der Vorfreude wurde zu einem Tsunami an Gefühlen. Wie in einem Rausch kostete sie von ihm, genoss die Liebkosung seines Kusses, ließ sich auf den stürmischen Wellen ihres Verliebtseins treiben. Sie sehnte sich bereits nach mehr, als sein Mund sie plötzlich wieder freigab. Der Kuss war vorüber. Ella hielt ihre Augen weiterhin geschlossen, um diesen Moment fest in ihren Erinnerungen zu verankern, während sie leise seinen Namen flüsterte.
In diesem Moment war sie erwacht und hatte gehofft, dass diese Berührung, dieser Kuss am Strand nach ihrem Abschluss Wirklichkeit wurde. Aber es war nie dazu gekommen. Am nächsten Tag war Jeremy von dem Schatten besetzt und knutschte mit sämtlichen Mädchen der Schule herum. Die Oberzicke Michelle war dabei Favoritin gewesen.