Während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861 – 1865) hielt die Armee der Konföderierten Tausende Soldaten der Nordstaaten nahe Andersonville, Georgia, in Haft. Von diesen Häftlingen starben über 13 000 in den Jahren 1864 und 1865 an Misshandlung und Unterernährung.
Angloamerikanische Maßeinheit für Flüssigkeiten und Trockensubstanzen. 1 amerikanischer Quart (dry quart) entspricht etwa 1,1 Kubiklitern.
Anderson nimmt hier auf einen Mordfall Bezug, der sich tatsächlich in Chicago zugetragen hat. Dr. Patrick Cronin, Mitglied eines irischen Immigrantenclans oder Geheimbunds, wurde im Mai 1889 von einem rivalisierenden Clan ermordet. Einem der Mordverdächtigen gelang es, sich vor Prozessbeginn abzusetzen.
1889 durch Fusion entstandene Bahngesellschaft mit Hauptsitz in Indianapolis. Der vollständige Name lautete «Cleveland, Cincinnati, Chicago and St. Louis Railway» (CCC&StL.). Ihr Netz verband weite Teile der Bundesstaaten Ohio, Indiana und Illinois, einige Zweigstrecken führten auch nach Kentucky und Michigan. 1906 erwarb die «New York Central Railroad», Eigentum der Familie Vanderbuilt, die «Big Four».
Leichter, gefederter, meist offener Einspänner mit vier hohen Rädern und einer Sitzbank.
Von malaisch ging-gang («gestreift») abgeleitet. Ein Kleid aus strapazierfähigem Baumwollgewebe in Leinwandbindung. Das Muster besteht aus farbig gewebten Längs- und Querstreifen, die sich auf weißem Untergrund kreuzen und Karos ohne erkennbare Vorder- oder Rückseite bilden.
Altes Flächenmaß; ursprünglich die Fläche, die mit einem einscharigen Pferde- oder Ochsenpflug an einem Vormittag bearbeitet werden konnte. 1 Morgen entspricht etwa 4047 Quadratmetern.
Meist kleine, zweiachsige Kutsche, die nicht von einem Bediensteten, sondern vom Herrn oder der Dame selbst gefahren wurde. Der Bedienstete saß auf einer Bank mit Blick nach hinten.
Edward Franklin Geers (1851 – 1924), genannt «Pop», war ein erfahrener Jockey und Pferdetrainer. Er veröffentlichte 1901 das Buch Ed Geers’ Experiences with Trotters and Pacers.
Nach Herodot (5. Jh. v. Chr.) war ein Bote dieses Namens im Vorfeld der Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) von Athen nach Sparta geschickt worden, um Hilfe im Kampf gegen die Perser zu erbitten. Er erreichte sein Ziel nicht rechtzeitig. Dennoch errangen die zahlenmäßig weit unterlegenen Griechen mit viel Glück und strategischem Geschick den Sieg. – Anderson bezieht sich offenbar auf die späteren Überlieferungen von Plutarch und Lukian von Samosata (1. und 2. Jh.). Beide verschmolzen Pheidippides mit dem Marathonläufer, der die Nachricht vom Sieg überbringt, dessen Historizität aber infrage steht, da er ausschließlich bei diesen Autoren vorkommt.
Gemeinschaft junger Methodisten, benannt nach der Pfarre im englischen Lincolnshire, in der John Wesley (1703 – 1791), der Gründer des Methodismus, in jungen Jahren als Gehilfe seines Vaters tätig war. Die «Epworth League» ermutigt zu einem redlichen Leben, zum Dienst an der Gemeinschaft und missionarischen Einsatz.
Marcus Alonzo «Mark» Hanna (1837 – 1904), republikanischer Geschäftsmann und Abgeordneter aus Ohio, war Wahlkampfleiter seines Freundes William McKinley (1843 – 1901). McKinley wurde zum republikanischen Gouverneur von Ohio (1892 – 1896) gewählt, Hanna wurde sein Chefberater. Als sich McKinley um das Amt des Präsidenten bewarb, verhalf ihm Hanna dank riesiger angeworbener Geldsummen und eines großen Stabs von Mitarbeitern zu einem – anfangs für unwahrscheinlich gehaltenen – Sieg und zur Präsidentschaft (1897 – 1901). Hannas Maßnahmen gelten als wegweisend für den modernen Wahlkampf.
Englischer Dichter, Essayist und Kritiker (1775 – 1834) der Frühromantik, Pseudonym Elia. Lamb begründete mit seinen Essays of Elia (1823 – 1833), die er für das London Magazine verfasste, die Tradition des humoristischen plaudernden Essays als literarische Kunstform. Gemeinsam mit seiner psychisch kranken Schwester Mary Lamb (1764 – 1847) schrieb er zudem Tales from Shakespeare (1807) – eine Prosafassung von Shakespeares Dramen für junge Leser – sowie Poetry for Children und Adventures of Ulysses. Zu den literarischen Freunden, die regelmäßig in seinem Haus verkehrten, gehörten William Wordsworth und seine Schwester Dorothy, Samuel Taylor Coleridge, Robert Southey und William Hazlitt.
Italienischer Goldschmied, Bildhauer, Musiker und Dichter (1500 – 1571); führte ein unstetes, von spektakulären Zwischenfällen geprägtes Wanderleben. In seiner Vita (1558 – 1582) beschrieb er seine Abenteuer. Tatsächlich verband Cellini mehr mit Rom, Florenz und Paris als mit Mailand.
Stufenförmige Plattform, von der aus man leichter auf ein Pferd und wieder herunter steigen kann.
Erbsen- bis hühnereigroße, gutartige Haut- bzw. Unterhautgeschwulst, von den Medizinern Atherom (von griechisch«Weizengrütze») genannt.
Auf den ersten Blick gehört Winesburg, Ohio in die Tradition des realistischen amerikanischen Erzählens – ein Vorläufer von Raymond Carver, vielleicht auch ein Äquivalent zu Edward Hoppers in den Popkanon eingegangenen Bildern von Verlassenheit und traurig leerer Provinz. In Wahrheit aber hat dieses eigentümliche Buch, das weder Roman ist noch Erzählband, viel von den Surrealisten, von Gertrude Stein und den Modernisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Man vergisst in Europa leicht, dass es neben der realistischen Schule, die so gierig von den Creative-Writing-Instituten aufgesogen wurde, noch jene des halluzinogenen Flirrens gibt, jene der Träumer und Verrückten, in die Kerouac, Burroughs, Norman Mailer und in unseren Tagen Denis Johnson gehören. Wie bei Johnson lernen wir bei Anderson ein Amerika des Wahns kennen, ein weites Land voll Verwirrung, Einsamkeit und sehnsüchtigen Philosophierens. Man kann es auch nüchterner formulieren: Winesburg, eine Kleinstadt voll Verrückter.
Sherwood Anderson wurde 1876 in Camden im Bundesstaat Ohio geboren und wuchs im Städtchen Clyde in ärmsten Verhältnissen auf. Er arbeitete zunächst als Zeitungsjunge, Tagelöhner und Stallarbeiter, später als Soldat und Werbetexter, dann als Unternehmer, der seine Versandfirma für Dachlacke, die «Anderson Manufacturing Company» zu mäßigem Erfolg führte. Er heiratete viermal, hatte drei Kinder und begann nebenbei und, wie so mancher Unternehmer, heimlich mit dem Schreiben. Er veröffentlichte Romane, Gedichtbände und Erzählsammlungen, aber sein Ruhm ruht bis heute auf einem schmalen Klassiker: Winesburg, Ohio, veröffentlicht 1919. Im Jahr 1941 verstarb Anderson auf einer Schiffsreise nach Südamerika: Er hatte das Hölzchen verschluckt, das in der Olive seines Martinis steckte, und sich so die Magenwand perforiert. Ein Jahr später wurden aus dem Nachlass seine Memoiren veröffentlicht.
«Es waren die Wahrheiten», heißt es an einer viel zitierten Stelle von Winesburg, Ohio, «die die Leute zu grotesken Gestalten machten. Der alte Mann hatte dazu eine ziemlich ausgefeilte Theorie. Seiner Vorstellung nach wurde einer in dem Augenblick, in dem er eine der Wahrheiten für sich in Anspruch nahm, sie seine Wahrheit nannte und versuchte, danach zu leben, grotesk und die Wahrheit, die er sich zu eigen gemacht hatte, wurde unwahr.» Es ist naheliegend, diese gleich am Anfang stehenden Sätze als programmatisch zu lesen, und viele Kommentatoren haben es getan, aber es könnte eine Falle sein. Denn so überzeugend Andersons Theorie des Grotesken ist, soviel man der Idee auch abgewinnen kann, dass jeder Mensch sich ein Prinzip sucht, das er mit fortschreitendem Lebensalter über alles andere stellt und eben dadurch zu etwas Lebensfeindlichem macht, das seine Entwicklung hemmt und seine Freiheit blockiert, sowenig ist diese Idee doch der Schlüssel zum Buch. Denn Winesburg, das einen mehr an Juan Rulfos von Untoten erfülltes Dorf Comala in Pedro Páramo erinnert als an Thornton Wilders lebensvoll-friedliches Grover’s Corners aus Unsere kleine Stadt, wird nicht bewohnt von Menschen, die für ins Groteske gesteigerte Ideen leben, sondern von traurigen Wesen voller Sehnsucht und leiser Verzweiflung, die jede Orientierung verloren haben. Sie haben eben keine Wahrheiten gefunden, sie haben lange schon die Suche danach aufgegeben.
Winesburg, Ohio begründete die Gattung der interlinking short stories, also der Geschichtenreihe, deren einzelne Episoden, wiewohl in sich abgeschlossen, miteinander verbunden sind. Bei jedem Vertreter dieser Form lässt sich von Neuem die müßige Diskussion darüber führen, ob es sich «nur» um eine durch Querverweise aufgewertete Sammlung oder «schon» um einen Roman handelt – als wäre ein Roman an sich schon etwas Besseres, als wäre er die Königsdisziplin, der alle anderen Formen nahezukommen suchen. Das entscheidende – und doch wiederum recht vage – Kriterium könnte sein, dass bei verbundenen Kurzgeschichten jedes einzelne Kapitel für sich stehen kann, ohne auf die vorangegangenen angewiesen zu sein. Und das trifft bei Sherwood Anderson zweifellos zu. Anderson bringt das Kunststück zustande, dass die Geschichten in der Kombination mysteriöser wirken als für sich allein: Der Leser versucht unablässig, den Verbindungen nachzuspüren und das Rätsel zu lösen, und zwar auch dann, wenn er schon längst begriffen hat, dass das Rätsel keine Lösung hat und der Weg nicht an ein Ziel führen kann. Die Geschichten kommentieren einander, eine führt zur anderen, zugleich aber scheinen die Gewissheiten darüber, welche Bewandtnis es mit den Figuren hat, beim Lesen immer weiter zu schwinden. So will es die Natur dieser Gattung, so verhält es sich von Winesburg, Ohio über J. D. Salingers Geschichten von der Familie Glass bis hin zu Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad, und so ist es auch bei den großen Episodenfilmen. Denn nicht in der Literatur, sondern im Film hat Winesburg, Ohio seine deutlichsten Spuren hinterlassen: in Robert Altmans Short Cuts von 1993 etwa (denn die Vorlage Raymond Carvers weist eben keine Verknüpfung zwischen den Geschichten auf), in Paul Thomas Andersons Magnolia von 1999 oder in Paul Haggis’ L. A. Crash aus dem Jahr 2004.
All diese Beispiele stammen aus den Vereinigten Staaten. Ist das ein Zufall? Oder ist der «Roman in Episoden» wie auch der «Film in Episoden» eine zutiefst amerikanische Form? Ist Winesburg, Ohio ein amerikanischer Klassiker, weil er die geeignete Form gefunden hat, etwas Existenzielles über ein Land zu erzählen, das ständig die Gemeinschaft beschwört und doch so viel mehr als das alte Europa ein Land der Einsamkeit und der Melancholie ist? Der klassische Gesellschaftsroman spürt den hundertfachen Vernetzungen jedes Menschen mit der Gemeinschaft nach, der Episodenroman aber hat es mit Einzelschicksalen zu tun, die für sich stehen und sich nur nach und nach auf hintergründige Weise als miteinander verbunden entpuppen.
Winesburg, Ohio ist ein verwirrendes Buch über verwirrte Leute, dessen scheinbar einfacher Stil darüber hinwegtäuscht, dass man ständig aufpassen und sehr genau lesen muss, um nicht den Faden und die Übersicht zu verlieren. Es gibt über hundert Figuren, dreiunddreißig davon kommen in mehr als einer Geschichte vor, und nur eine, der junge George Willard, in fast allen – und niemals erfahren wir, wer denn nun eigentlich der alte Mann mit dem weißen Bart ist, der uns zu Anfang seine Theorie des Grotesken vorstellt; es könnte sowohl Anderson selbst sein als auch ein gealterter George Willard oder vielleicht einfach eine Parodie auf die Idee auktorialer Allwissenheit; denn der Episodenroman ist immer nahe an der Metafiktion angesiedelt. Leicht entstehen spielerische Verknüpfungen, indem Figuren in mehreren Geschichten auftreten oder aus der Figur einer Geschichte der Autor einer anderen wird. Auch ist es, genau genommen, nicht ganz richtig, von «Geschichten» zu sprechen, manche der Texte bleiben Essays, die sich plötzlich und für einige Absätze zu Handlungsabläufen verdichten, andere sind nur meisterhaft knappe Charakterbeschreibungen. Oft geschieht wenig, manchmal gar nichts, und kaum je kommt es zu einer echten Konfrontation zweier Figuren. Die Bewohner von Winesburg sind nicht kämpferisch, dazu sind sie zu allein, zu verloren und zu sehr Bewohner ihrer eigenen Illusionswelten.
Niemand in dieser kleinen Stadt scheint wirklich am Leben zu sein, keiner ist wirklich in seinem Dasein zu Hause. Nur der junge George Willard, den man wohl als die Hauptperson bezeichnen kann, wächst auf sich gestellt unter all diesen Phantomen zum Erwachsenen und Schriftsteller heran. Denn in der unauffälligsten Weise ist Winesburg, Ohio auch ein Entwicklungsroman, der George allerdings weder zu einer Epiphanie noch zur Reife führt, sondern zu etwas viel Einfacherem und sehr Traurigem. «Er stand im Begriff, Winesburg zu verlassen», heißt es im vorletzten Kapitel, «und in eine größere Stadt zu gehen, wo er Arbeit bei einer Zeitung zu bekommen hoffte, und er fühlte sich erwachsen. Die Stimmung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, war Männern bekannt, Jungen dagegen nicht. Er fühlte sich alt und ein wenig müde.» Und dann, kurz bevor er Winesburg für immer den Rücken kehrt, entsteht vor George eine flüchtige Vision seiner Heimatstadt: «Ist er ein phantasievoller Junge, wird eine Tür aufgestoßen, und zum ersten Mal blickt er auf die Welt und sieht, als marschierten sie in einer Prozession an ihm vorüber, die zahllosen Männergestalten, die vor seiner Zeit aus dem Nichts in die Welt getreten sind, ihr Leben gelebt haben und wieder im Nichts verschwunden sind. Die Traurigkeit der Erfahrenheit hat den Jungen erreicht.
Am Anfang also ein alter Mann, der begreift, wie das Leben jeden zur Karikatur macht, am Schluss ein junger Mann, der sich an die lange schon ins Nichts verschwundenen Menschen seiner Kindheit erinnert. Winesburg, Ohio gehört wie Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Nabokovs Die Gabe in die Reihe jener Bücher, die sich gewissermaßen selbst erzeugen, indem sie eine Figur bis an den Punkt führen, da sie durch eine plötzliche Explosion der Erkenntnis imstande ist, ebenjenes Werk zu verfassen, das wir gerade lesen. Auch George Willard, so wird uns zu vermuten nahegelegt, wird einst wie sein Autor ein Buch schreiben, und es wird die Kleinstadt seiner Herkunft in ihrer eigentümlichen Tragik, Leere und Verlassenheit zeigen.
Einstweilen aber beendet Georges Abreise ins sogenannte reale Leben, also in die Welt der menschlichen Verwicklungen und Schicksale, in die Welt der Großstadt, eines der schönsten und melancholischsten Werke der amerikanischen Literatur. Amerika, schrieb George Steiner viele Jahrzehnte später, sei nahe seiner Mitte das traurigste Land der Erde. Es ist diese Traurigkeit einer gottgläubigen und zugleich gottverlassenen Provinz, einer ewigen Gegenwart ohne Geschichte oder Hoffnung, von der Sherwood Andersons schmales und perfektes Buch erzählt.
Daniel Kehlmann
Winesburg, Ohio ist ein sprödes Werk, sprachlich passend zu seinen ungewöhnlichen, schweigsamen oder um Worte ringenden Akteuren – ein Werk der Abweichung. Sherwood Anderson verzichtet im Englischen vielfach auf geläufige Idiomatik und üblichen Satzbau oder wählt ungewöhnliche, teilweise veraltete Vokabeln. In Sätze von karger Schlichtheit und Klarheit mischen sich abstrakte, expressive Bilder. Betont künstliche Dialoge stehen neben solchen, die der Straße abgelauscht scheinen. Oft wiederholt Anderson Wendungen oder einzelne Wörter über mehrere Sätze hinweg. Die Nähe zum Duktus der Bibel ist über weite Strecken unverkennbar.
Insofern ist die Sprache von Winesburg, Ohio gleichermaßen schmucklos und hochartifiziell, archaisch und modern, zwischen Tradition und Aufbruch angesiedelt wie die Menschen von Winesburg. Diese Spannung zu halten war erklärtes Ziel bei der Übersetzung, die der für jede werkgetreue Übertragung geltenden Regel folgt: nicht der Versuchung zu erliegen, den Text gefälliger oder raffinierter zu gestalten als das Original. So behält die Übersetzung auch für den «Anderson-Sound» konstitutive Wiederholungen bei, soweit es im Deutschen möglich ist.
Unsere Übersetzung folgt der bei B. W. Huebsch in New York erschienenen Erstausgabe von 1919. Inkonsequenzen bei der Schreibung der Eigennamen wurden stillschweigend verbessert. Das Register mit Titeln und Akteuren der einzelnen Geschichten – vergleichbar der Dramatis Personae eines Bühnenstücks – wurde dem Buch wie in der Erstausgabe vorangestellt. Auch die Karte der Stadt Winesburg auf Seite 5, gezeichnet von Harald Toksvig, entstammt der Ausgabe von 1919. Die dazugehörige Legende wurde für den deutschsprachigen Leser angepasst.
Auf der halb verrotteten Veranda eines kleinen Holzhauses, das am Rande einer Schlucht nahe der Stadt Winesburg, Ohio, stand, lief ein dicker kleiner alter Mann nervös auf und ab. Am anderen Ende eines langen Felds, das mit Klee eingesät war, aber nur eine dichte Fülle gelben Ackersenfs hervorgebracht hatte, konnte er die Landstraße sehen, auf der ein Wagen voller Beerenpflücker fuhr, die von den Feldern heimkehrten. Die Beerenpflücker, Jungen und Mädchen, lachten und schrien ausgelassen. Ein Junge in einem blauen Hemd sprang vom Wagen und versuchte, eines der Mädchen mitzuziehen, doch die kreischte und protestierte schrill. Die Füße des Jungen wirbelten auf der Straße eine Staubwolke auf, die der scheidenden Sonne übers Gesicht wehte. Über das lange Feld hinweg erklang eine mädchenhafte Stimme. «Ach, du, Wing Biddlebaum, kämm dir die Haare, sie fallen dir ja in die Augen», befahl die Stimme dem Mann, der eine Glatze hatte und dessen nervöse kleine Hände auf der kahlen weißen Stirn herumfuhren, als wollten sie eine wirre Lockenflut ordnen.
Wing Biddlebaum, ständig verängstigt und verfolgt von einer gespenstischen Gedankenschar, betrachtete sich in keiner Weise als Teil des Lebens dieser Stadt, in der er schon seit zwanzig Jahren lebte. Unter allen Menschen Winesburgs war ihm lediglich einer nahe gekommen. Mit George Willard, Sohn von Tom Willard, dem Besitzer des «New Willard House», verband ihn so etwas wie Freundschaft. George Willard war der Reporter des «Winesburg Eagle», und er ging manchmal abends die Landstraße entlang zu Wing Biddlebaum. Während der alte Mann also auf der Veranda auf und ab lief und nervös mit den Händen herumfuchtelte, hoffte er, George Willard käme und verbrächte den Abend mit ihm. Als der Wagen mit den Beerenpflückern fort war, ging er durch das Feld mit dem hohen Ackersenf, kletterte über einen Lattenzaun und spähte sehnsüchtig die Straße hinunter in Richtung Stadt. Einen Augenblick stand er so da, rieb sich die Hände und schaute die Straße hinauf und hinab, dann überkam ihn Furcht, und er lief wieder zurück zum Haus und stieg die Stufen zur Veranda hoch.
In Gegenwart George Willards verlor Wing Biddlebaum, der für die Stadt seit zwanzig Jahren ein Mysterium war, ein wenig von seiner Verzagtheit, und sein schattenhaftes Wesen, das sonst in einem Meer von Zweifeln trieb, tauchte auf und betrachtete die Welt. Den jungen Reporter an seiner Seite, wagte er sich bei Tageslicht auf die Main Street oder schritt auf der wackligen Veranda seines Hauses auf und ab und redete erregt. Die Stimme, die sonst leise und zittrig war, wurde schrill und laut. Die gebeugte Gestalt richtete sich auf. Zappelnd wie ein Fisch, der vom Angler in den Bach zurückgeworfen wird, redete Biddlebaum der Stumme auf einmal, mühte sich, die Ideen, die sich während langer Jahre des Schweigens in seinem Kopf angesammelt hatten, in Worte zu fassen.
Wing Biddlebaum redete viel mit den Händen. Die schmalen, ausdrucksstarken Finger, immerzu geschäftig, immerzu bemüht, sich in den Taschen oder hinter seinem Rücken zu verbergen, kamen hervor und wurden zu den Kolbenstangen seiner Ausdrucksmaschine.
Die Geschichte des Wing Biddlebaum ist eine Geschichte über Hände. Deren ruhelose Geschäftigkeit, ähnlich dem Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels, hatte ihm seinen Namen gegeben. Ein obskurer Dichter in der Stadt hatte ihn sich ausgedacht. Die Hände alarmierten ihren Besitzer. Er wollte sie versteckt halten und betrachtete voller Verwunderung die ruhigen, ausdruckslosen Hände anderer Männer, die neben ihm auf dem Feld arbeiteten oder mit verschlafenen Gespannen über Landstraßen an ihm vorüberfuhren.
Wenn er mit George Willard redete, ballte Wing Biddlebaum die Fäuste und schlug damit auf einen Tisch oder gegen die Wände seines Hauses. Davon wurde ihm wohler. Überkam ihn das Verlangen zu reden, wenn die beiden über die Felder wanderten, dann suchte er sich einen Stumpf oder die oberste Latte eines Zauns und redete, heftig darauf hämmernd, mit frischer Ungezwungenheit.
Die Geschichte von Wing Biddlebaums Händen ist allein schon ein Buch wert. Einfühlsam dargestellt, würde sie so manche merkwürdigen, schönen Eigenschaften unbedeutender Männer erschließen. Das ist eine Aufgabe für einen Dichter. In Winesburg hatten die Hände lediglich wegen ihrer Lebhaftigkeit Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit ihnen hatte Wing Biddlebaum an einem Tag bis zu einhundertvierzig Quart Erdbeeren gepflückt. Sie wurden sein kennzeichnendes Merkmal, die Quelle seines Ruhms. Auch machten sie eine ohnehin schon groteske und schwer fassbare Persönlichkeit noch grotesker. Winesburg war auf Wing Biddlebaums Hände in derselben Weise stolz, wie es stolz auf das neue Steinhaus von Bankier White war und auf Wesley Moyers braunen Traberhengst Tony Tip, der beim Herbstrennen von Cleveland den Zwei-fünfzehn-Lauf gewonnen hatte.
George Willard hatte sich schon viele Male nach den Händen erkundigen wollen. Zuweilen hatte eine nahezu überwältigende Neugier von ihm Besitz ergriffen. Er spürte, dass es für ihre merkwürdige Geschäftigkeit und ihre Neigung, sich versteckt zu halten, einen Grund geben musste, und nur wachsender Respekt vor Wing Biddlebaum hielt ihn davon ab, mit den Fragen herauszuplatzen, die ihm häufig durch den Kopf gingen.
Einmal war er schon im Begriff gewesen, ihn zu fragen. Die beiden spazierten an einem Sommernachmittag durch die Felder und hatten haltgemacht, um sich auf eine Grasböschung zu setzen. Den ganzen Nachmittag hatte Wing Biddlebaum wie beseelt geredet. An einem Zaun war er stehen geblieben und hatte wie ein riesiger Specht auf die oberste Latte eingehämmert, dabei auf George Willard eingeschrien und seine Neigung verurteilt, sich von den Leuten um ihn herum zu sehr beeinflussen zu lassen. «Du zerstörst dich selbst», rief er. «Du neigst zum Alleinsein und zum Träumen, und du fürchtest dich vor Träumen. Du willst wie die anderen in der Stadt hier sein. Du hörst sie reden, und du versuchst, sie nachzuahmen.»
Auf der Grasböschung hatte Wing Biddlebaum dann erneut versucht, ihm seinen Standpunkt klarzumachen. Seine Stimme wurde weich und schwelgend, und mit einem zufriedenen Seufzer hub er zu einer langen, weitschweifigen Rede an und sprach, als wäre er in einem Traum verloren.
Den Traum formte Wing Biddlebaum für George Willard zu einem Bild. In dem Bild lebten die Menschen wieder in einer Art idyllischem goldenem Zeitalter. Über ein grünes, weites Land kamen junge Männer mit wohlgeformten Gliedern, manche zu Fuß, manche zu Pferd. In Scharen kamen die jungen Männer, um sich zu Füßen eines alten Mannes zu sammeln, der in einem winzigen Garten unter einem Baum saß und mit ihnen sprach.
Wing Biddlebaum war nun richtig beseelt. Ausnahmsweise vergaß er einmal seine Hände. Langsam stahlen sie sich fort und legten sich George Willard auf die Schultern. Etwas Neues und Kühnes trat in die Stimme, die da sprach. «Du musst versuchen, alles, was du gelernt hast, zu vergessen», sagte der alte Mann. «Du musst anfangen zu träumen. Von nun an musst du die Ohren vor dem Gebrüll der Stimmen verschließen.»
Wing Biddlebaum unterbrach seine Rede und betrachtete George Willard lang und ernst. Seine Augen loderten. Erneut hob er die Hände, um den Jungen zu streicheln, dann strich ihm Entsetzen übers Gesicht.
Mit einer krampfartigen Körperbewegung sprang Wing Biddlebaum auf und stieß die Hände tief in die Hosentaschen. Tränen stiegen ihm in die Augen. «Ich muss mich auf den Heimweg machen. Ich kann nicht weiter mit dir sprechen», sagte er nervös.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, war der alte Mann den Hügel hinab über eine Wiese gehastet, und George Willard blieb verblüfft und verängstigt auf dem Grashang sitzen. Zitternd vor Furcht erhob sich der Junge und ging auf der Straße zurück in die Stadt. «Ich werde ihn nicht nach seinen Händen fragen», dachte er, berührt von der Erinnerung an das Entsetzen, das er in den Augen des Mannes gesehen hatte. «Da stimmt etwas nicht, aber was genau, möchte ich nicht wissen. Seine Hände haben etwas mit seiner Angst vor mir und vor allen anderen zu tun.»
Und George Willard hatte recht. Betrachten wir doch kurz die Geschichte dieser Hände. Vielleicht vermag es, wenn wir darüber reden, den Dichter zu wecken, der dann die verborgene Wundergeschichte von dem Einfluss erzählt, unter dem die Hände bloß flatternde Fähnchen der Verheißung waren.
In seiner Jugend war Wing Biddlebaum in einer Stadt in Pennsylvania Lehrer gewesen. Damals kannte man ihn noch nicht als Wing Biddlebaum, vielmehr trug er den weniger euphonischen Namen Adolph Myers. Als Adolph Myers war er bei den Jungen an seiner Schule sehr beliebt.
Adolph Myers war von der Natur zum Lehrer der Jugend bestimmt. Er war einer jener seltenen, kaum verstandenen Männer, die mit einer so sanften Macht herrschen, dass sie als liebevolle Schwäche angesehen wird. In ihren Gefühlen für die ihnen anvertrauten Jungen sind solche Männer dem feineren Geschlecht der Frauen in deren Liebe zu Männern nicht unähnlich.
Und dennoch erklärt es das nur grob. Hier ist der Dichter gefragt. Mit den Jungen seiner Schule war Adolph Myers des Abends ausgegangen oder hatte bis zur Dämmerung, verloren in einer Art Traum, auf den Stufen der Schule gesessen. Hierhin und dahin wanderten seine Hände, streichelten die Schultern der Jungen, umspielten die zerzausten Köpfe. Wenn er redete, wurde seine Stimme weich und klangvoll. Auch darin lag Zärtlichkeit. In gewisser Weise waren Stimme und Hände, das Streicheln der Schultern und das Berühren der Haare Teil der Bemühungen des Lehrers, den jungen Köpfen einen Traum einzugeben. Die Zärtlichkeit in seinen Fingern war seine Art, sich auszudrücken. Er gehörte zu jenen Männern, in denen die Kraft, die Leben schafft, diffus ist, nicht gebündelt. Unter der Zärtlichkeit seiner Hände wurde der Geist der Jungen frei von Zweifel und Unglauben, und sie begannen ebenfalls zu träumen.
Und dann die Tragödie. Ein schwachsinniger Junge an der Schule verliebte sich in den jungen Lehrer. Nachts im Bett stellte er sich unsagbare Dinge vor, und am Morgen erzählte er dann seine Träume als Tatsachen. Seltsame, widerliche Anschuldigungen flossen ihm über die losen Lippen. Ein Schauder durchlief die pennsylvanische Stadt. Verborgene, schattenhafte Zweifel, welche die Männer, Adolph Myers betreffend, zuvor schon gehabt hatten, verhärteten sich zu Überzeugungen.
Die Tragödie ließ nicht auf sich warten. Zitternde Jungen wurden aus dem Bett gezerrt und befragt. «Er hat den Arm um mich gelegt», sagte einer. «Seine Finger haben immer mit meinem Haar gespielt», ein anderer.
Eines Nachmittags kam ein Mann aus der Stadt, Henry Bradford, ein Saloonbesitzer, an die Tür des Schulhauses. Er rief Adolph Myers auf den Schulhof und schlug ihn mit den Fäusten. Während seine harten Knöchel in das angstvolle Gesicht des Lehrers droschen, wurde sein Zorn immer schrecklicher. Kreischend vor Bestürzung rannten die Kinder wie aufgestörte Insekten durcheinander. «Ich werde dich lehren, die Hände an meinen Jungen zu legen, du Tier», brüllte der Saloonwirt, der den Lehrer nun, als er genug hatte vom Schlagen, mit den Füßen über den Hof stieß.
In jener Nacht wurde Adolph Myers aus der pennsylvanischen Stadt gejagt. Mit Laternen in der Hand kam ein Dutzend Männer an die Tür des Hauses, in dem er allein lebte, und forderte ihn auf, sich anzuziehen und herauszukommen. Es regnete, und einer der Männer hatte einen Strick in Händen. Sie hatten beabsichtigt, den Lehrer aufzuhängen, doch etwas an seiner Gestalt, so klein, weiß und bedauernswert, rührte sie am Herzen, und sie ließen ihn gehen. Als er in das Dunkel lief, bereuten sie ihre Schwäche und rannten ihm hinterher, fluchten und warfen Stöcke und dicke, weiche Matschklumpen nach der Gestalt, die schrie und immer schneller in das Dunkel rannte. Seit zwanzig Jahren lebte Adolph Myers allein in Winesburg. Er war erst vierzig, aber er sah aus wie fünfundsechzig. Den Namen Biddlebaum hatte er von einer Kiste mit Waren, die er an einem Güterbahnhof entdeckt hatte, als er durch eine Stadt im östlichen Ohio lief. In Winesburg hatte er eine Tante, eine schwarzzähnige alte Frau, die Hühner züchtete, und bei ihr lebte er bis zu ihrem Tod. Nach dem Vorfall in Pennsylvania war er ein Jahr lang krank, und nach seiner Genesung arbeitete er als Tagelöhner auf den Feldern, wobei er zaghaft zu Werke ging und sich mühte, seine Hände zu verbergen. Obwohl er nicht begriff, was geschehen war, spürte er, dass die Hände schuld gewesen sein mussten. Immer wieder hatten die Väter der Jungen von den Händen gesprochen. «Lass deine Hände bei dir», hatte der Saloonwirt gebrüllt, als er wie ein Rasender auf dem Schulhof herumtanzte.
Auf der Veranda seines Hauses bei der Schlucht ging Wing Biddlebaum weiter auf und ab, bis die Sonne verschwunden war und die Straße hinterm Feld sich in den grauen Schatten verlor. Dann trat er ins Haus, wo er sich Brotscheiben abschnitt und mit Honig bestrich. Als das Rumpeln des Abendzugs, der die Expresswaggons mit der Tagesernte Beeren fortbrachte, verklungen und die Stille wieder in der Sommernacht Einzug gehalten hatte, machte er sich erneut auf seinen Gang über die Veranda. In dem Dunkel konnte er die Hände nicht sehen, und sie wurden ruhig. Obwohl er sich weiter nach dem Jungen sehnte, der das Medium war, durch das er seine Menschenliebe ausdrückte, wurde die Sehnsucht wie früher Teil seiner Einsamkeit und seines Wartens. Wing Biddlebaum entzündete eine Lampe und spülte das wenige Geschirr, das durch sein schlichtes Mahl beschmutzt war, dann stellte er an der Fliegentür, die auf die Veranda führte, ein Faltbett auf und entkleidete sich für die Nacht. Ein paar versprengte Weißbrotkrümel lagen auf dem sauber gewischten Fußboden neben dem Tisch; er stellte die Lampe auf einen niedrigen Schemel und machte sich daran, die Krümel aufzulesen und sie einen nach dem anderen mit unglaublicher Geschwindigkeit an den Mund zu führen. In dem dichten Lichtfleck unter dem Tisch sah die kniende Gestalt wie ein Priester aus, der in eine Art Gottesdienst seiner Kirche vertieft war. Die nervösen, ausdrucksvollen Finger, die unablässig durchs Licht zuckten, hätten gut und gern für die eines Eiferers gehalten werden können, der eilig Perle um Perle seines Rosenkranzes abspult.
Er war ein alter Mann mit weißem Bart, einer riesigen Nase und mächtigen Händen. Lange vor der Zeit, in der wir ihn kennenlernen, war er Arzt und lenkte ein müdes weißes Pferd von Haus zu Haus durch die Straßen Winesburgs. Später heiratete er eine Frau, die Geld hatte. Beim Tod ihres Vaters hatte sie eine große, fruchtbare Farm geerbt. Die Frau war still, groß und dunkel, und viele fanden sie sehr schön. Jeder in Winesburg fragte sich, warum sie den Arzt geheiratet hatte. Binnen eines Jahres nach der Heirat starb sie.
Die Knöchel der Hände des Arztes waren außergewöhnlich groß. Waren die Hände geschlossen, sahen die Knöchel aus wie Reihen unlackierter Holzkugeln, die groß wie Walnüsse und durch Stahlstangen verbunden waren. Er rauchte Maispfeife, und nach dem Tod seiner Frau saß er den ganzen Tag in seiner leeren Praxis an einem Fenster, das mit Spinnweben überzogen war. Nie öffnete er das Fenster. Einmal, an einem heißen Tag im August, versuchte er es, doch es klemmte, und danach vergaß er es vollkommen.
Winesburg hatte den alten Mann vergessen, dabei lag in Doktor Reefy die Saat von etwas sehr Schönem. Allein in seiner muffigen Praxis im Heffner-Block über der Kurzwarenfirma «Paris», arbeitete er unablässig, baute auf, was er selbst zerstört hatte. Kleine Wahrheitspyramiden errichtete er, und nachdem er sie errichtet hatte, stieß er sie wieder um, um die Wahrheiten zu erhalten, mit denen er andere Pyramiden errichten konnte.
Doktor Reefy war ein hochgewachsener Mann, der seit zehn Jahren nur einen einzigen Anzug trug. Der war an den Ärmeln abgewetzt, und an den Knien und Ellbogen zeigten sich kleine Löcher. In der Praxis trug er außerdem einen Leinenkittel mit riesigen Taschen, in die er beständig Papierschnipsel stopfte. Nach einigen Wochen wurden aus den Papierschnipseln kleine, harte, runde Kugeln, und wenn die Taschen voll waren, leerte er sie auf den Fußboden. Seit zehn Jahren hatte er nur einen einzigen Freund, einen weiteren alten Mann mit Namen John Spaniard, der eine Baumschule besaß. Zuweilen nahm der alte Doktor Reefy, wenn er zu Späßen aufgelegt war, eine Handvoll der Papierkugeln aus seinen Taschen und bewarf den Baumzüchter damit. «Verflixt noch eins, du sentimentaler alter Quatschkopf», rief er dann und schüttelte sich vor Lachen.
Die Geschichte von Doktor Reefy und seinem Werben um die große dunkle Frau, die seine Frau wurde und die ihm ihr Geld vermachte, ist sehr eigenartig. Sie ist köstlich wie die verwachsenen kleinen Äpfel in Winesburgs Obstgärten. Spaziert man im Herbst in die Obstgärten, ist der Boden hart vom Frost. Die Äpfel sind von den Pflückern schon von den Bäumen gezupft. Sie wurden in Fässer gelegt und in die Städte verschickt, wo sie in Wohnungen gegessen werden, die voller Bücher, Zeitschriften, Möbel und Menschen sind. An den Bäumen hängen nur noch einige wenige schrumplige Äpfel, die die Pflücker verschmäht haben. Sie sehen aus wie die Knöchel an Doktor Reefys Händen. Knabbert man daran, schmecken sie köstlich. In einer kleinen runden Stelle außen am Apfel hat sich dessen ganze Süße gesammelt. Man läuft über den gefrorenen Boden von Baum zu Baum, pflückt die schrumpligen, verwachsenen Äpfel und füllt sich damit die Taschen. Nur wenige kennen die Süße der verwachsenen Äpfel.
Die Frau und Doktor Reefy begannen ihr Werben an einem Sommernachmittag. Er war fünfundvierzig und hatte bereits die Angewohnheit, seine Taschen mit den Papierschnipseln zu füllen, die dann zu harten Kugeln und weggeworfen wurden. Die Gewohnheit war entstanden, während er auf dem Wagen hinter dem müden weißen Pferd saß und langsam die Landstraßen entlangfuhr. Auf den Papierchen waren Gedanken notiert, Schlüsse von Gedanken, Anfänge von Gedanken.
Diese Gedanken erzeugte, einen nach dem anderen, Doktor Reefys Kopf. Aus vielen davon hatte er eine Wahrheit geschaffen, die sich riesengroß in seinem Kopf erhob. Die Wahrheit verdunkelte die Welt. Sie war dann schrecklich anzusehen und verblasste, worauf es wieder mit den kleinen Gedanken begann.
Die große dunkle Frau kam zu Doktor Reefy, weil sie in anderen Umständen war und Angst bekommen hatte. In diesem Zustand war sie wegen einer Reihe von Geschehnissen, die ebenfalls merkwürdig waren.
Der Tod ihres Vaters und ihrer Mutter sowie die fruchtbaren Morgen Land, die ihr zugefallen waren, hatten ihr eine Reihe von Freiern an die Fersen geheftet. Zwei Jahre lang traf sie sich beinahe jeden Abend mit einem. Bis auf zwei waren sie alle gleich. Sie sprachen zu ihr von Leidenschaft, und in ihren Stimmen und Augen lag, wenn sie sie ansahen, etwas Angestrengtes, Begieriges. Die beiden, die anders waren, waren einander sehr unähnlich. Der eine, ein schlanker junger Mann mit weißen Händen, der Sohn eines Juweliers aus Winesburg, redete unablässig von Jungfräulichkeit. War er mit ihr zusammen, ließ ihn das Thema nie los. Der andere, ein schwarzhaariger Junge mit großen Ohren, sagte gar nichts, sondern schaffte es immer, sie ins Dunkel zu locken, wo er sie dann küsste.
Eine Zeit lang dachte die große dunkle Frau, sie werde den Juwelierssohn heiraten. Stundenlang saß sie schweigend da und hörte sich an, was er zu ihr sagte, und dann bekam sie es mit der Angst. Hinter seinem Gerede von Jungfräulichkeit steckte, wie sie zunehmend glaubte, eine Begierde, die größer war als bei allen anderen. Zuweilen erschien es ihr, als hielte er, wenn er redete, ihren Körper in Händen. Sie stellte sich vor, wie er ihn in seinen weißen Händen langsam drehte und betrachtete. Nachts träumte sie, er habe in ihren Körper gebissen und dass sein Kinn triefte. Diesen Traum hatte sie dreimal, dann geriet sie in andere Umstände von dem, der gar nichts sagte, sondern sie im Augenblick seiner Leidenschaft tatsächlich in die Schulter biss, sodass der Abdruck seiner Zähne noch tagelang zu sehen war.
Nachdem die große dunkle Frau Doktor Reefy kennengelernt hatte, war ihr, als wollte sie ihn nie wieder verlassen. Eines Vormittags ging sie in seine Praxis, und ohne dass sie etwas sagte, schien er zu wissen, was mit ihr geschehen war.
In der Praxis des Arztes war eine Frau, die Ehefrau des Mannes, der die Buchhandlung von Winesburg führte. Wie alle altmodischen Landärzte zog Doktor Reefy auch Zähne, und die Frau, die da wartete, hielt sich ein Taschentuch an die Zähne und stöhnte. Ihr Mann war bei ihr, und als der Zahn gezogen wurde, schrien beide, und Blut rann auf das weiße Kleid der Frau. Die große dunkle Frau beachtete es gar nicht. Als die Frau und der Mann gegangen waren, lächelte der Arzt. «Ich fahre jetzt mit Ihnen hinaus aufs Land», sagte er.
Mehrere Wochen lang waren die große dunkle Frau und der Arzt fast täglich zusammen. Die Umstände, die sie zu ihm geführt hatten, vergingen mit einer Krankheit, doch die Frau glich nun einem, der die Süße der verwachsenen Äpfel für sich entdeckt hat, für sie gab es nun nicht mehr nur die runde, vollkommene Frucht, wie sie in den Stadtwohnungen gegessen wird. Im Herbst nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft heiratete sie Doktor Reefy, und im darauffolgenden Frühjahr starb sie. Den Winter hindurch las er ihr alle kleinen Gedankenschnipsel vor, die er auf die Papierchen notiert hatte. Nachdem er sie vorgelesen hatte, lachte er und steckte sie in seine Taschen, wo sie dann zu harten, runden Kugeln wurden.