Theorie für das Anthropozän
Für Vera:
Hoc et cogitatione et realitate vera est.
Mutter Geschichte hat aus vielen
von uns Monster gemacht!
– Andrej Platonow
Nicht alles Nichtmenschliche ist grausam.
– Donna Haraway
Vorwort
Teil I. Arbeit und Natur
1. Alexander Bogdanow
Arbeiten der Welt
Lenins Rivale
Roter Mars
Die Philosophie der lebendigen Erfahrung
Für eine kameradschaftliche Poetik des Wissens und der Arbeit
Roter Hamlet: Von Shakespeare zu Marx
Von Marx zum Proletkult
Vom dialektischen Materialismus zur Tektologie
Tektologie als metaphorische Maschine
Blutaustausch
2. Andrej Platonow
Ein proletarisches Schreiben
Sohn des Proletkults
Tschewengur als historischer Roman
Tschewengur als Utopie
Die Baugrube: Unmögliche Infrastruktur
Die glückliche Moskwa: Überbau-Menschen
Die Menschenseele im Kommunismus
Sozialistische Tragödie
Die Literaturfabrik
Teil II. Wissenschaft und Utopie
3. Cyborg Donna Haraway
Technowissenschaftliche Welten und Wesen
Die kalifornische Ideologie
Von Mach zu Feyerabend
Von Marx zu Haraway
Von Bogdanow zu Barad
Klimatologie als Tektologie
4. Kim Stanley Robinson
Die Notwendigkeit der Schöpfung
Rückkehr zu Roter Mars
Grüner Mars: Tektologie als Revolution
Blauer Mars: Nach der Utopie
Fazit
Anmerkungen
Danksagung
Arbeiten der Welt enteinigt euch! Ihr habt einen Gewinn zu welten!
– Die Cyborg-Internationale
Neue Zeiten verlangen neue Methoden. Sagen wir einfach, dies ist das Ende der Vorgeschichte, der Moment, an dem die Grenzen des Planeten tatsächlich Einfluss haben auf das sich ständig ausdehnende Universum umfassender Kommerzialisierung. Das ist die das Weltbild verändernde Erkenntnis, die heute von manchen als Anthropozän bezeichnet wird. Aber nicht verzweifeln. Die größten Beschleunigungen, die unser Gattungswesen im Lauf seines Bestehens erlebt hat, sind immer dann aufgetreten – obgleich niemals zuvor in solchem Ausmaß –, wenn es an seine Grenzen stieß.
Der Begriff Anthropozän bezeichnet das gegenwärtige geologische Erdzeitalter und stammt im Wesentlichen von Paul Crutzen, der schreibt:
Zwischen dreißig und fünfzig Prozent der Erdoberfläche werden heute bereits vom Menschen ausgebeutet (…). Über die Hälfte des verfügbaren Süßwassers wird von der Menschheit genutzt. Die Fischerei entnimmt den Auftriebsgebieten der Ozeane 25 Prozent der Primärproduktion (…). Der Energieverbrauch hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts versechzehnfacht (…). In der Landwirtschaft kommt eine größere Menge an Stickstoffdünger zum Einsatz, als auf natürliche Weise in den Ökosystemen der Erde gebunden ist.1
Das ist nicht das Ende der Welt, aber das Ende der Vorgeschichte. Es ist an der Zeit, auf dem Marktplatz der sozialen Medien zu verkünden, dass jener Gott, der sich noch in der Weltanschauung versteckt hielt, derzufolge die Ökologie sich schon selbst korrigieren, ins Gleichgewicht bringen und heilen würde, tot ist. »Das Anthropozän stellt eine neue Phase in der Erdgeschichte dar, in der die Kräfte der Natur und die des Menschen so miteinander verflochten sind, dass sich ihr Schicksal gegenseitig bestimmt. Geologisch gesehen haben wir es mit einer bemerkenswerten Periode in der Geschichte des Planeten zu tun.«2 Der Mensch ist nicht mehr länger die Figur im Vordergrund, die ihr Eigeninteresse vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, organizistischen Kreislaufs verfolgt, eines Kreislaufs, den er zwar stören, mit dem er aber letztlich in Gleichgewicht und Harmonie leben könnte, indem er sich einfach aus bestimmten Exzessen zurückzöge.
Es handelt sich hier aber nicht um das Ende der Vorgeschichte, das die Hauptströmungen der Kritischen Theorie auszumachen glaubten. Vielleicht brauchen wir also eine neue Kritische Theorie. Oder eine neu-alte, denn wie sich herausstellt, gab es bereits einmal eine kraftvolle und originelle Denkströmung, die in einem früheren, gescheiterten Versuch, die Vorgeschichte zu beenden, beinahe ausgelöscht worden wäre. Möglicherweise hat es sogar mehrere solcher Strömungen gegeben. Doch die, die ich hier im ersten Teil des Buchs im Kapitel »Arbeit und Natur« anzubieten habe, trägt die Namen zweier marxistischer Schriftsteller, der Russen Alexander Bogdanow und Andrej Platonow.
Haben wir uns erst einmal mit diesem Denken der Vergangenheit gerüstet, können wir es seine Arbeit verrichten lassen. Im zweiten Teil, »Wissenschaft und Utopie«, reisen wir aus der Kälte und dem Hunger der frühen Sowjetunion in das sonnenverwöhnte und im Überfluss lebende Kalifornien am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Die feministische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway und der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson verkörpern zwei Denk- und Schreibhaltungen am Ende dieser Vorgeschichte, in denen Bogdanow und Platonow nachhallen und die sie für das seiner selbst bewusste Anthropozän fruchtbar machen.
Das Alltagsdenken nimmt an, dass der Kalte Krieg vorbei sei, dass die Sowjetunion verloren habe und die Vereinigten Staaten gewonnen haben. Manche mögen sich vielleicht wünschen, in einer Art »psychischem Sowjet« zu überwintern, doch die vorherrschende Stimmung sagt, dass der dominierende amerikanisch geprägte Kapitalismus einen weltweiten Sieg davongetragen hat. Der historische Bogen, den Molekulares Rot schlägt versucht, verläuft anders. Hier nimmt der Kollaps des Sowjetsystems den Zusammenbruch des amerikanischen Systems lediglich vorweg. Während die Ruinen des Ersteren real und erschütternd sind, ist bei Letzterem noch nicht ganz verstanden worden, um welche Ruinen es sich handelt.3
Ein Reisender, der durch die antiken Ruinen geht, stößt auf die geborstene Klappe eines rostigen, halb im Sand versunkenen Schiffs. Rund um das riesige, verrottende Wrack ist nichts; nur Verzweiflung, grenzenlos und nackt. Der Name des Schiffs ist abgeblättert, aber es könnte sehr wohl nach Ozymandias, dem legendären ägyptischen König aus Shelleys gleichnamigem Gedicht, und seiner Provokation benannt sein: »Seht meine Werke, Mächtige, und erbebt!«
Um diesen rostenden Rumpf liegen noch zahlreiche weitere. Er ist eine moderne Ruine, aus der Zeit der Massenproduktion. Und es sind nicht nur Sand und Zeit, die ihn haben verrotten lassen. Diese staubige Marslandschaft ist eines der Sieben Weltwunder – negativ gesehen. Die immense und nun verschwundene Wassermasse, die diese Schiffe einst trug, war einmal der Aralsee, der heute nur noch ein Zehntel seiner einstigen Größe besitzt.4
Es gab hier auch einmal pharaonengroße Statuen. Der Aralsee liegt im Gebiet der einstigen Sowjetunion. Vielleicht waren es Lenin-Statuen, die auf eine Zukunft wiesen, die der hier sich zeigenden ziemlich fern war. Das Schiff ist jedoch ein Wrack, das an eine Kraft ganz anderer Art denken lässt: an die kapriziöse Widerspenstigkeit der Natur.
In jener Region nahm der Baumwollanbau seinen Anfang, als Russland wegen des amerikanischen Bürgerkriegs von der Baumwollversorgung abgeschnitten war. Nach der Revolution zapften sowjetische Ingenieure den in den Aralsee fließenden Amudarja als Quelle für das Wasser an, das für den Aufbau der Baumwollindustrie benötigt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg weiteten die Sowjets die für den Export bestimmte Baumwollproduktion enorm aus und bauten zu diesem Zweck gewaltige Bewässerungsanlagen. Unmengen an mit Erde, Saatgut und Düngemitteln vermischtem Wasser flossen auf die Baumwollfelder. Die Ingenieure wussten, dass der Aralsee verschwinden würde. Der Zusammenbruch der Fischereiflotte war ein Kollateralschaden und so vielleicht auch das Verschwinden der vielen Pflanzen- und Tierarten, die hier nun versteinern.
Der Aralsee ist ein gutes Beispiel für das, was wir nach Marx als metabolischen Bruch bezeichnen könnten.5 Arbeit zerschlägt und behandelt Steine und Boden, Pflanzen und Tiere, um ihnen die molekularen Flüsse, aus denen unser gemeinsames Leben aufgebaut ist, zu entziehen. Aber diese Molekülflüsse kehren nicht dorthin zurück, woher sie kamen. Das Wasser, das aus dem Aralsee auf die Baumwollfelder umgelenkt wurde, floss nicht wieder dorthin zurück. Marx wusste, dass die Landwirtschaft Wüsten schafft.
Als Beispiel für den metabolischen Bruch führte er an, wie im neunzehnten Jahrhundert die englische Landwirtschaft Nährstoffe, etwa Nitrate, aus dem Boden zog, die die Pflanzen für ihr Wachstum aufnahmen, die die Bauern als Feldfrüchte ernteten, die die Arbeiter in den Städten verzehrten, um sich für ihre Arbeit in der Industrie zu stärken, und die dann die Abfallprodukte aus ihrem individuellen Stoffwechsel ausschieden. Diese Abfallprodukte flossen samt Nitraten durch Abwasserrohre und Kanäle und ergossen sich ins Meer. Um diesem Bruch zu begegnen, entstanden in der Folge ganze Industrien zur Herstellung künstlicher Düngemittel, die ihrerseits anderswo metabolische Brüche verursachten.6
Das Anthropozän besteht aus einer Reihe metabolischer Brüche, bei denen ein Molekül nach dem anderen durch Arbeit und Technik extrahiert wird, um den Menschen mit Dingen zu versorgen; aber die Abfallprodukte kehren nicht zurück, damit sich der Kreislauf erneuern kann. Die Böden verarmen, die Meere ziehen sich zurück, das Klima wandelt sich, der nordpazifische Wirbel wird größer: eine Welt in Flammen. Erde, Wasser, Luft: Ein metabolischer Bruch besteht, wo es sich bei den aus dem Gleichgewicht gekommenen Molekülen wie in Marx’ Landwirtschaftsbeispiel um Natriumnitrat handelt; oder wie beim Aralsee um Dihydrogenmonoxid; oder wie im aktuellen Szenario des Klimawandels um Kohlendioxyd.
Eine Zeitlang schien es, als sei ein ausgelaugter Boden hier oder umgeleitetes Wasser dort ein lokales Problem. Im Anthropozän herrscht dagegen das Bewusstsein, dass metabolische Brüche bisweilen globalen Maßstabs sind.7 Stickstoff und Kohlenstoff sind von ihren alten Kreisläufen beurlaubt. Der Klimawandel scheint die weltweite Verteilung des Wassers bereits in entscheidender Weise zu beeinflussen. Wie ein Mikrokosmos nimmt die zu Sowjetzeiten gemachte Erfahrung mit dem Aralsee jenes globale Experiment vorweg, das wir heute mit dem metabolischen Bruch machen. Die Entwässerung des Aralsees stellte so etwas wie ein umgekehrtes Terraforming dar: Anstatt die Wüsten des Mars zu einer neuen Erde umzuformen, machte sie die Erde zu einer Marswüste.8
Marx: »Alles Ständische und Stehende verdampft.«9 Heute verweist diese schäumende Sentenz auf etwas anderes. Unter allen Befreiungsbewegungen des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts war nur eine einzige uneingeschränkt erfolgreich. Sie hatte nichts mit der Befreiung einer Nation, einer Klasse, einer Kolonie, eines Geschlechts oder der Sexualität zu tun. Obwohl sie dem Menschen fernlag, brachte sie weder Tieren noch gar Cyborgs die Freiheit. Sie befreite ein chemisches Element: Kohlenstoff. Die Geschichte der Kohlenstoffbefreiungsfront ist ein zentrales Thema des Anthropozäns und wird es bleiben.
Die Kohlenstoffbefreiungsfront sucht nach all dem vergangenen Leben, das sich in fossiles Karbon verwandelt hat, fördert es zutage und verbrennt es, um seine Energie freizusetzen. Das Anthropozän läuft mit Kohlenstoff.10 In ihm findet keine Umverteilung von Wohlstand, Macht oder Anerkennung statt, sondern von Molekülen. Diese Moleküle, als Kohlendioxyd in die Atmosphäre entlassen, binden Wärme, sie verändern das Klima. Jetzt, wo der in der Erde gebundene Kohlenstoff knapp wird und freigesetztes Karbon das Klima in die rote Zone treibt, erscheint das Ende der Vorgeschichte am Horizont.11
Noch immer wird die Existenz der Kohlenstoffbefreiungsfront von mächtigen Interessengruppen geleugnet.12 Jene Instanzen aber, die die Evidenz dieses metabolischen Bruchs im Blick haben, stellen sich gemeinhin vier Methoden zur Abmilderung seiner Auswirkungen vor. Eine lautet: Der Markt wird schon alles regeln. Eine zweite redet davon, dass wir lediglich eine neue Technologie benötigen. Die dritte malt sich einen gesellschaftlichen Wandel aus, in dessen Folge jeder Einzelne von uns dafür einsteht, seinen eigenen CO2-Fußabdruck zu messen und zu begrenzen. Eine vierte besteht in einer romantischen Abkehr von der Moderne, von Technologie, als ob der Bruch geheilt werden könnte, wenn ein paar privilegierte Menschen auf dem Bauernmarkt handgeschöpften Käse kaufen.13 Keine dieser vier Lösungen scheint es so richtig zu bringen.
Eine erste Kritik müsste darin liegen, die Dürftigkeit dieser Optionen aufzuzeigen.14 Als Nächstes müsste die Kritik einen Raum schaffen, in dem sehr unterschiedliche Wissens- und Praxisformen aufeinandertreffen können. Ökonomische, technische, politische und kulturelle Transformationen sind ratsam, doch ihre Beziehungen untereinander stellen zumindest einen Teil des Problems dar. Die Freisetzung von Kohlenstoff verändert die Gesamtheit, innerhalb derer jede dieser Denk- und Seinsweisen zur Ausübung kommen könnte. Das verlangt nach neuen Methoden der Wissensorganisation.
Hegel, der große Systematisierer des Wissens, hielt die Französische Revolution für einen welthistorischen Moment, doch von unserer geschichtlichen Warte aus gesehen lag er falsch.15 Ein weltgeschichtliches Ereignis von erheblich größerer Allgemeinbedeutung ist die Entdeckung, dass die Aktivitäten, die der Mensch für seine materielle Versorgung unternimmt, sich in ihrer Gesamtheit auf das, was wir Biosphäre nennen, auswirken.16 Alle und wirklich alle aus einem Arbeitsprozess hervorgehenden Produkte müssen wieder in diese zurückgerechnet werden. Das ist eine Aufgabe, die weder von einem Meisterdenker noch von einem Generalplan bewältigt werden kann und die die Zauberkräfte des Marktes oder die Möglichkeiten der Computersimulation übersteigt. Wie ist über die zur Abmilderung eines solchen Bruchs zu entwerfenden Ad-hoc-Praktiken nachzudenken? Molekulares Rot hat sich die bescheidene Aufgabe gestellt, vergessene Geschichten, vernachlässigte Konzepte und nebensächliche Anekdoten aufzuspüren, die das Denken wieder sinnvoll auf eine solche Agenda ausrichten könnten.
Es mangelt weder an umfassenden Darstellungen des Verlaufs der Oktoberrevolution noch an solchen eines epochalen, seit dem Untergang der Sowjetunion unangefochtenen Kapitalismus.17 Darin unterscheidet sich die Linke nicht allzu sehr von der Rechten. Es handelt sich um dramatische Ereignisse, die als molar bezeichnet werden können – große Gebilde, die als Protagonisten und Antagonisten aufeinanderprallen. Die interessanten Prozesse jedoch dürften subtiler und nicht direkt wahrnehmbar sein – sie finden auf der molekularen Ebene statt. Félix Guattari:
Die in Strömen, Schichten und Zusammensetzungen vorkommenden Elemente können auch in einer molaren oder molekularen Weise organisiert sein. Die molare Ordnung korrespondiert mit der Bedeutung, die Objekte, Subjekte, Repräsentationen und ihre Referenzsysteme definiert, während die molekulare Ordnung eine der Ströme, des Werdens, der Phasenübergänge und der Intensitäten ist.18
Das Molekulare ist weniger offensichtlich, aber ebenso real wie das Molare. In den Poren jener gewaltigen Dramen, die sich um Klassen und Parteien, Nationen und Geschichte ranken, haust eine andere Art von Erzählung: die Kohlenstoffbefreiungsfront und der metabolische Bruch. Es geht darum, molares Drama und molekulare Geste gleichzeitig wahrnehmen zu können, sich nicht von der Bühnenkunst der molaren Zusammenstöße leibhaftig gewordener Ideen ablenken zu lassen.
Wie kann der Mensch durch die Organisation von Wissen und Arbeit aus der Natur seine Lebensgrundlage beziehen, wenn genau dieser Prozess Sekundäreffekte zeitigt, die sein weiteres Überleben gefährden? Nimmt man sich der Kohlenstoffbefreiungsfront an, verlangt dies nicht nur verschiedene Maßnahmen; diese müssen zudem aufeinander abgestimmt werden. Wir benötigen eine Art low theory, um, auf den Erfahrungen zahlreicher Menschen mit dem Wirken des Molekularen aufbauend, eine gemeinschaftliche Basis integrierter Lösungen entwickeln zu können.19
Kein Mensch möchte allzu lang über den Klimawandel nachdenken.20 Es ist einfach zu deprimierend! Liest man darüber, fühlt man sich, als wäre man Zeuge eines schrecklichen Zugunglücks und sähe in Zeitlupe das schlingernde Entgleisen der Waggons. Aber wir sollten den welthistorischen Moment lieber als eine Gelegenheit begreifen, zu überdenken, was die gemeinsamen Anstrengungen all derer, die arbeiten, aus der Welt machen und als Welt ausmachen könnten.
Der Fahrplan für Molekulares Rot: Unsere Geschichte beginnt mit Alexander Bogdanow. Anfänglich ein Rivale Lenins um die Führung der Bolschewiki, ging er später daran, eine radikale Wissenspraxis zu erarbeiten und verschiedentlich sogar umzusetzen. Er machte den Standpunkt der Arbeit zum Kern des Marxismus. Er dachte, wenn Arbeit die Welt organisiert, muss sie ihre eigene Wissensorganisation, die er Tektologie nannte, und ihr eigenes Mittel der kulturellen Entfaltung, den Proletkult, entwickeln.
Bogdanow erkannte eine positive Rolle der Ideologien in ihrer Eigenschaft als Weltanschauungen, die den emotionalen Widerstand überwinden, auch die menschliche Seite der kollektiven Arbeit zu organisieren. Er bezog sich auf den Philosophen und Wissenschaftler Ernst Mach, wobei seine eigene Weltanschauung einem Empiriomonismus entsprach, der seine Metaphern avancierten Arbeitspraktiken einschließlich der Wissenschaften entlieh und sämtliche geistigen Verdoppelungen der Welt ablehnte. Er begriff den emotionalen Reiz des Geistigen und sah in der Utopie eine alternative Möglichkeit, Bedürfnisse und Wünsche von kollektiven Aufgaben bestimmter Arbeit zu motivieren.
Bogdanow grenzt die Kategorie der Natur auf sinnvolle Weise ein. Für ihn ist sie bestimmt als das, womit Arbeit aneinandergerät. Dies stellt eine zugespitzte und doch offene Möglichkeit dar, einen Begriff, der so schnell aus dem Ruder läuft, zu handhaben. Doch Bogdanow ging noch von der Vorherrschaft der Arbeit über die Natur aus. Hier kommen wir zu dem vielleicht größten Proletkult-Schriftsteller, zu Andrej Platonow, der allerdings in den schlimmsten Jahren des russischen Bürgerkriegs das Schreiben aufgab, um Ingenieur zu werden. Bei Platonow erscheint die Natur als rau und unerbittlich, und er gelangt früh zu der Einsicht, dass die Arbeit zwar die Natur, die Natur aber weit schwerer die Arbeit belaste. Gewöhnlich gilt Platonow als literarischer Autor; ich behandle ihn jedoch als Theoretiker, der nicht nur den Standpunkt der Arbeit im Blick hat, sondern auch den Standpunkt des Genossen.
Für Platonow sind wir erst Genossen, wenn wir denselben Gefahren begegnen. Diese Gefahren nehmen ihren Anfang bei der Hungersnot und in dem Bemühen, eine Infrastruktur zu erstellen, die die großen Projekte der frühen Sowjetperiode untermauern würde. Platonow erweitert die Idee einer Wissensorganisation durch und für die Arbeit zu seiner Vision einer Literaturfabrik, die in der Lage wäre, aus dem Alltagsleben der arbeitenden Bevölkerung gemeinschaftlich ein Verständnis für die kollektive Arbeit und ihre Aufgaben herauszufiltern.
Bogdanow war weithin vergessen und Platonow meistenteils unbekannt bei jenen Autoren aus dem Dunstkreis der Philosophie, der Kulturkritik oder des politisch normativen Denkens, die in der Nachkriegszeit den Marxismus zur Kritischen Theorie umarbeiteten. Im zweiten Teil von Molekulares Rot knüpfe ich mit Donna Haraway und Kim Stanley Robinson bei Schriftstellern an, die, auch wenn sie mit Bogdanow und Platonow wenig gemeinsam haben, zumindest an den Grenzen zwischen Kultur und Wissenschaften gearbeitet und sowohl essayistisch als auch literarisch geschrieben haben. Dabei verschiebt sich unser Thema von Arbeit und Natur zu Wissenschaft und Utopie.
Die von Bogdanow angestrebte Synthese von Ernst Mach und Karl Marx hat nur wenige Nachfolger gefunden. Ich beginne Teil II mit Paul Feyerabend, einem Verfechter Machs, der in Mach alles andere als einen unbedarften »Empiriker«, sondern vielmehr den Praktiker einer Entdeckungskunst erkennt, in der der Hang der Philosophie zur reinen Theorie stillgestellt ist, die experimentelle Umlenkung wissenschaftlicher Konzepte von einer wissenschaftlichen Verfahrensweise auf eine andere aber Teil einer Dada-Methode darstellt. Darin zeigt sich ein Weg, die Neigung der Spracharbeit zur Extravaganz auf das Nächstliegende ausgerichtet zu halten.
Als zentraler Sprossknoten, dem Feyerabend und alle weiteren Autoren in Teil II aufgepropft sind, dient das Werk von Donna Haraway, die dem metaphorischen Potenzial der Sprache eine freiere Hand lässt, etwa wie es Bogdanow in seiner Tektologie unternommen hat, auch wenn Haraway sehr nahe an den biologischen Wissenschaften bleibt. Haraway aktualisiert Bogdanows Interpretation von Weltanschauung als Mittel und Begrenzung der Organisation der Welt. Seinem Konzept des Standpunkts der Arbeit stellt sie, vor allem in ihrem berühmten Konzept des Cyborgs, nicht nur einen feministischen Standpunkt gegenüber, sondern auch dessen durchlässige Grenzen zu anderen Organismen und zur Technologie. Der Cyborg stellt nicht nur die imaginären Möglichkeiten für das kritische, sondern auch für das utopische Denken neu auf, das heute untrennbar mit der Technowissenschaft verknüpft ist.
Zwei von Haraway unterschiedlich beeinflusste Autoren tragen dazu bei, den Standpunkt des Cyborgs in einer von der Technowissenschaft umgestalteten Welt auszuarbeiten. In Karen Barads gründlicher Beschäftigung mit moderner Physik zeigt sich, wie Machs Taktik, wissenschaftliche Erkenntnis zu denken, funktioniert. Sie bringt in den Standpunkt der Arbeit, oder vielmehr den des Cyborgs, eine starke Aufmerksamkeit für den Apparat ein, für jene Instanz also, die, indem sie Erkenntnis produziert, den Schnitt macht zwischen Arbeit und Natur.
Paul Edwards weitet dieses Konzept des Apparats auf die Wissensinfrastruktur aus, die vonnöten ist, um gemeinschaftlich eine Wissenschaft, die sich mit der Kohlenstoffbefreiungsfront und ihren klimaverändernden Folgen befasst, hervorzubringen. Wir werden Zeugen, wie in der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und technischer Arbeit eine neue Weltanschauung produziert und technische wie ideologische Widerstände im globalen Maßstab überwunden werden.
Im Zeitalter der Kohlenstoffbefreiungsfront kann sogar das sonnige Kalifornien erscheinen wie eine Vision, die von vornherein von ihren eigenen Ruinen heimgesucht wird. Kein Wunder also, dass kritische Theoretiker sich der Vergangenheit zuwenden und zum Beispiel den Apostel Paulus lesen, als ob einem, während Rom brennt, nichts anderes zu tun bleibt, als einen Tagesausflug in die Stadt Gottes (ins himmlische Jerusalem) zu unternehmen. Deshalb widme ich mich am Ende von Molekulares Rot Kim Stanley Robinson, dessen Science-Fiction-Romane der majestätischen Marstrilogie die utopische Praxis Bogdanows für das Zeitalter der Technowissenschaft neu formulieren. Ich lese diese Bücher als theoretische Werke. Robinsons Schreiben begegnet der von metabolischen Brüchen gezeichneten Ära mit einem erneuerten utopischen Denken, in dem sich Science-Fiction seltsamerweise als eine Art Realismus des Möglichen zeigt.
Wie Haraway lädt Robinson stets dazu ein, uns als in die Technowissenschaft eingebettete cyborgähnliche Wesen zu denken. Wie Barad hat er ein Auge darauf, wie verschiedene Apparate jeweils Schnitte vollführen, die unterschiedliche Objekte und Subjekte des Wissens hervorbringen. Wie Plato-now fragt Robinson, wie diese verschiedenen Subjekte, die in unterschiedliche Kämpfe in und gegen ihre Objektwelten verwickelt sind, trotzdem Genossen sein können. Und wie Bogdanow lehnt er eine alles überspannende abstrakte Theorie (high theory) zugunsten einer Theorie des konkreten Aushandelns (low theory) verschiedener Weltanschauungen ab.
Robinson bietet so etwas wie eine Metautopie, eine Art schriftstellerischer Problemlösungspraxis, die dazu angetan ist, verschiedene Visionen einer erträglichen Zukunft miteinander zu kombinieren. Letzten Endes ist Bogdanow und Platonow, Haraway und Robinson gemeinsam, dass sie einen kritischen und kreativen Ansatz pflegen, in dem es darum geht, aus der Vergangenheit für die Zukunft Lebensweisen auszuwählen, bei denen klar ist, dass nur wenn unser Gattungswesen bestehen bleibt davon die Rede sein kann, ins Schwarze getroffen zu haben.
Nun noch eine Warnung: Es handelt sich hier um eine spielerische Diskussion über die Sprachen der Wissenschaften. Sie soll keine Debatten initiieren oder eine alles überspannende Philosophie liefern, schon gar keine humanistische Beurteilung anderer Wissensmethoden aussprechen. Ich verstehe mich als Theoretiker, der über die Wissenschaften schreibt, und möchte dabei keine Autorität beanspruchen, sondern frei sein, auch falsch liegen zu können. Entpuppen sich meine Erörterungen der Wissenschaften als irrtümlich, ist zu prüfen, ob sie in sinnvoller Weise falsch sind und Metaphern oder Diagramme liefern, die in anderen Feldern gemeinschaftlicher Arbeit erprobt werden können.
Eine Theorie des Anthropozäns kann neben der melancholischen Lähmung, die seine Erörterung allzu oft hervorbringt, durchaus auch andere Dinge behandeln. In ihr, denke ich, gibt es Platz für das, was Platonow Sekundäre Ideen nannte. Eine Schwächung des größeren Projekts kann verhindert werden, indem man sich Wissenspraktiken widmet, die in bestimmten Bereichen nutzbringend sind. In Molekulares Rot werden diejenigen sekundären Ideen thematisiert, bei denen es darum geht, aus dem Archiv jene Stränge der marxistischen Theorie auszuwählen, für die, bis auf den Namen, das Anthropozän bereits als Gegenstand des Denkens und Handels erscheint.
Man darf die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän nicht in den Händen der Mächtigen belassen, wenn man in Betracht zieht, wie übel die herrschende Klasse unserer Zeit das Ende der Vorgeschichte gehandhabt hat, jene zunächst wissenschaftliche und erst nachträgliche kulturelle Entdeckung, dass wir alle in einer Biosphäre leben, die sich im Stadium eines fortgeschrittenen metabolischen Bruchs befindet. Die Herausforderung liegt also darin, die Perspektive der Arbeit für die historischen Aufgaben unserer Zeit zu konstruieren. Was würde es bedeuten, die historischen Aufgaben aus der Perspektive des gesamten Spektrums der arbeitenden Bevölkerung zu sehen? Wie können Alltagserfahrungen, technische Kniffe und sogar utopische Spekulationen sich so in einer gemeinsamen Sache zusammenfinden, dass jede einzelne bestimmte Tendenzen der jeweils anderen einer Prüfung unterzieht?
Technisches Wissen stellt die gängige völlig romantische Gefühlslage, sich die Welt voller Harmonie und Schmetterlinge vorzustellen, auf den Prüfstand – ein tauglicher Plan für sieben Milliarden Menschen scheint dies jedenfalls nicht. Aus Alltagserfahrungen hergeleitete Volksweisheiten kontrollieren die Neigung des technischen Wissens, weitreichende Pläne zu entwerfen, ohne an die besonderen Folgen zu denken – wie etwa die Umleitung des Wassers beim Aralsee.21 Utopische Spekulationen sind ein geheimer Heliotropismus, der die Handlungen und Erfindungen auf eine Sonne ausrichtet, die heute mit mehr Vorsicht und Respekt betrachtet wird als zu früheren Zeiten. Es gibt keine andere Welt, aber diese kann es nicht sein.22
Das historische Denken, dem ernsthaft an einer Verbesserung des Klimawandels gelegen ist, geht meistenteils von zwei Gesamtschauen aus, deren eine der kapitalistische Realismus ist.23 Dieser beharrt darauf, dass es keine Alternative gibt und wir das Programm weiterfahren müssen. Wenn es den Planeten in den Abgrund reißt, dann sei es so. Die andere Gesamterzählung malt sich eine Art nichttechnische, ganzheitliche und spirituelle Alternative aus, die ihre Bilder häufig aus einer vorkapitalistischen Landschaft bezieht. Aber bereits Marx war klar, dass dies zur kapitalistischen Romantik gehört, einer Geschichte, die sich, als Nebenprodukt seiner Dynamik, aus dem Kapitalismus selbst entwickelt hat.24 Es handelt sich um eine Art Negativ des kapitalistischen Realismus, wo wir alle auf Bambusfahrrädern unterwegs sind; über eine ideologische Spiegelung des kapitalistischen Realismus wagt sich diese Vorstellung jedoch kaum hinaus.
Wir benötigen also einen alternativen Realismus. Einen, der nahe an der gemeinschaftlichen Arbeit des Wissens und des Tuns bleibt. Einen, der gegenüber pluralen, sich mit einer anderen Geschichte befassenden Narrativen offen ist. Einen Realismus, der sich anhand vergangener Erfahrungen ausbildet, aber nicht darauf beschränkt ist. Dies verlangt eine Art Umorientierung des kritischen Denkens, ein Verlassen bestimmter vorherrschender Tendenzen: anstatt eines spekulativen Realismus, wie er in der Philosophie gepflegt wird, eine spekulative Fiktion, die nicht beansprucht, ein Erklärungsmodell für die objektive Welt oder gar das Absolute abzugeben; anstatt einer Obsession für den allmächtigen Kapitalismus und des Phantasmas eines erlösenden Kommunismus ein Wissen darüber, wie Arbeit und Natur sich gegenseitig beeinflussen und vermischen; anstatt einer pauschalisierenden Kritik der Technologie als Inbegriff westlicher Metaphysik ein freimütiges Anerkennen der Verwicklung unserer Cyborg-Körper mit dem Technischen.
In dem molekularen Schatten der Kohlenstoffbefreiungsfront sind wir aufgerufen, keine weitere Philosophie, sondern eine Poetik und Technik zur Wissensorganisation zu erschaffen. Das genau war es, was Alexander Bogdanow im Sinn hatte. Den Faden seiner Bemühungen wiederaufzunehmen, ist das Schlechteste nicht. Wir beginnen also mit einer Version seiner Geschichte, ein bisschen aus seinem Leben und seiner Zeit. Dann folgt etwas mehr von seinen Konzepten, aus der Perspektive einer Vergangenheit, wie sie die Arbeit heute eigentlich braucht, da sie nicht nur ihrer alten Nemesis des Kapitals, sondern auch ihrer molekularen Brut – der Kohlenstoffbefreiungsfront – entgegentritt. Hier in den Ruinen regt sich noch Leben.
Es gibt eine großartige Fotografie, auf der der berühmte Schriftsteller und Sympathisant der Bolschewiki, Maxim Gorki, Alexander Bogdanow und Lenin beim Schachspiel zusieht. Wir schreiben das Jahr 1908 und Lenin ist zu Besuch in Gorkis Villa auf Capri, in der auch Bogdanow zu Gast ist. Bogdanow hat damals das Spiel gewonnen und Gorki zufolge war Lenin kein guter Verlierer gewesen.1 Gorkis Versuch, Lenin und Bogdanow, die führenden Köpfe der Partei, zu versöhnen, ging nicht gut aus. Auf einen Vers aus Hamlet Bezug nehmend, beschuldigte der Schriftsteller Lenin, andere Menschen wie Flöten spielen zu wollen. Gleichwohl ist es Lenin, der von diesen drei einst berühmten Persönlichkeiten am besten in Erinnerung geblieben ist.
In dem größeren Spiel zwischen den beiden Kontrahenten bot Lenin den Entwürfen, die Bogdanow zur Organisation der theoretischen, wissenschaftlichen und praktischen Strategeme der Arbeiterbewegung ersonnen hatte, mehr als einmal Schach. Nur selten erinnern wir uns an die, die von den Großmeistern in der Hitze des Gefechts geschlagen wurden. Gleichwohl könnte es, selbst wenn die Großmeister einmal besiegt worden sind, noch etwas aus den längst verblassten Taktiken der Verlierer herauszulesen geben. Jetzt, da auch Lenin in der Liste der Besiegten auftaucht, können wir in den Strategien seiner Gegner herumstochern und vielleicht etwas von Wert finden; jetzt wieder, da es an der Zeit ist, die Welt von Neuem aufzubauen.
Unserem Gattungswesen nach sind wir Weltenbauer. Das ist die Hauptannahme von Bogdanows gesamtem Denken. An dieser Stelle wollen wir uns noch nicht damit befassen, wo die Grenzen des »Menschlichen« liegen könnten. Denn dabei handelt es sich um eine Kategorie, die sich endlos in dem Spiel der Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Kategorien des Tierischen, des Engelhaften oder des Mechanischen verfängt.2 Im Augenblick sollten wir, so wie etwa Darwin, von uns als Population denken. Und da wir nun wissen, dass alles, was wir schreiben, sehr wohl auch von den Maschinen der Nachrichtendienste gelesen wird, gehe ich davon aus, dass der Mensch eine Population darstellt, der Sie, lieber Leser, höchstwahrscheinlich angehören und für deren kollektives Wohlergehen Sie möglicherweise Sorge tragen. Bogdanow, der Darwin ein Stück weit kannte, war mehr an dem Leben dieses Gattungswesens interessiert als an seiner Definition.
In Bogdanows Version der Sozialdemokratie ging es stets mehr um die Selbstorganisation der Arbeiter als um den Aufbau einer Partei, die den Staat in ihre Gewalt nimmt.3 Sie war, zur Organisation einer Lebensweise, eher auf den Kampf in und mit der Natur eingestellt. Natur ist selbstredend eine schwer fassbare Kategorie, schlüpfrig genug, um zwischen dem Materiellen und dem Göttlichen, zwischen Substanz und Essenz hin und her zu gleiten.4 Bogdanow war sich sehr wohl bewusst, dass verschiedene Typen gesellschaftlicher Organisation stark voneinander abweichende Naturbilder erzeugen. Natur ist also zunächst einmal eine Kategorie ohne Inhalt. Sie bedeutet schlicht das, womit Arbeit aneinandergerät.
Bogdanow wurde 1873 als Sohn eines Schulinspektors in Tula geboren und an der örtlichen Internatsschule unterrichtet. Bogdanow: »Die Erfahrung, die ich dort mit den boshaften und stumpfsinnigen Autoritätspersonen machte, führte zu meinem Hass auf die Herrschenden und zur Ablehnung jeglicher Autorität. Bei Schulabschluss wurde ich mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.«5 1894 wurde er das erste Mal verhaftet und auch später mehrere Male in Haft genommen und verbannt. So wurde er 1901 nach Wologda in die Verbannung geschickt, wo seine politische Bildung in den lebhaft debattierenden Dissidenten-Zirkeln weitere Munitionierung erfuhr. In Wologda schrieb er eines der frühesten und am häufigsten konsultierten Handbücher zur marxistischen Ökonomie.6
»Bogdanow war ein sehr guter Mensch, sehr aufrichtig und der Idee vorbehaltslos ergeben«, schrieb Nikolai Berdjajew, aber er sei auch ziemlich engstirnig gewesen und habe sich fortwährend in vertrackter und unfruchtbarer Sophisterei ergangen.7 Das muss auch die Auseinandersetzungen mit Berdjajew selbst betroffen haben, der sich damals vom Marxismus entfernte, worin ihn Bogdanow mit seiner fein ausgesponnenen Version wohl übertrumpfte. In Wologda lernte Bogdanow andere in die Provinz Verbannte kennen, die er später für den bolschewistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie gewann, darunter den künftigen Kommissar für Volksaufklärung, Anatoli Lunatscharski, sowie die Koübersetzer von Marx’ Kapital. 1899 schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an.
Wie zahlreiche andere in Russland verbliebene Aktivisten damals hatte er wenig Interesse oder kaum Kenntnis von den Flügelkämpfen der in Europa im Exil weilenden Parteiführer. Lenin traf er erst 1904 in der Schweiz, als dieser 34 und er 31 war. In der Schweiz wurde Bogdanow in dem zanksüchtigen Konklave willkommen geheißen, das den bolschewistischen Flügel der Partei darstellte.
Zurück in Russland wurde Bogdanow Lenins Vorkämpfer und vertrat während der Revolution von 1905 die Bolschewiki im Sankt Petersburger Sowjet. Der legendäre bolschewistische Bankräuber Kamo liefert ein farbiges Porträt von Bogdanow, dem Revolutionär: »Krassin stellte mich einem wichtigen Mann vor. Zusammen leiteten die beiden das militärisch-technische Zentrum der Bolschewiki. Es muss Ihnen klar sein, dieser Mann weiß alles. Er schreibt gelehrte Bücher, er stellt Bomben her und Dynamit. Er behandelt sogar Patienten, ich meine, als Doktor.«8
Während der Revolution von 1905 wurde Bogdanow erneut verhaftet. Im Gefängnis vollendete er sein erstes wichtiges philosophisches Werk, Empiriomonismus; nach seiner Freilassung schickte er ein Exemplar an Lenin. Letzterer reagierte an seinem Zufluchtsort in Finnland mit einem langen Brief. Bogdanow wiederum schickte eine Antwort und schrieb, dass er im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer politischen Einträchtigkeit am liebsten vorgeben würde, den Brief nie gelesen zu haben. Seine Übereinstimmung mit Lenin fand 1907 ein Ende.
Drei Dinge standen auf dem Spiel.9 Bogdanow stellte sich gegen Lenins Rechtsruck nach dem Scheitern der Revolution von 1905. Während er dafür plädierte, die Partei im Untergrund zu halten und die revolutionäre Arbeit fortzusetzen, was viele in der Partei unterstützten, wollte Lenin, dass die Bolschewiki an Wahlen teilnahmen. Zweitens gab es offensichtlich Querelen hinsichtlich der Parteifinanzierung. Bogdanow und der bolschewistische Ingenieur Leonid Krassin kontrollierten Geld, das aus »Expropriationen« stammte – aus nichts anderem als Bankraub. Allein die Vorstellung, dass Lenin gegenüber politischer und intellektueller Unabhängigkeit viel Toleranz zeigen würde, fällt schwer, doch da sie in diesem Fall zudem mit finanzieller Unabhängigkeit gepaart war, wird sein Ärger besonders groß gewesen sein. Drittens, die beiden Männer waren sich in philosophischen Dingen immer uneins. Lenin hielt es mehr mit der »dialektisch-materialistischen« Orthodoxie eines Georgi Plechanow, eines aggressiven Gegners der von Bogdanow und seinem Kreis ausgehenden theoretischen Neuerungen. Einmal schrieb Plechanow sogar eine an »Herrn Bogdanow« adressierte Polemik, da er den Autor derartiger Häresien nicht als Genosse anerkennen wollte.10
Solange Lenin und Bogdanow in taktischen Dingen übereinstimmten, hielten sie ihre Eintracht innerhalb der Bolschewiki aufrecht. Als diese Einheit zusammenbrach, trat auch der philosophische Zwist offen zutage. Bogdanow führte von 1907 bis 1911 den linken Flügel der Bolschewiki in Opposition zu Lenin. Lenins Position war schwierig. Bogdanow dürfte von Seiten der Exilbolschewiki und ziemlich sicher auch von den in Russland verbliebenen größere Unterstützung erfahren haben als Lenin, weshalb Letzterer ihn womöglich lieber auf philosophischem Gebiet als politisch angegriffen hat. Er hatte es auf Bogdanows Empiriomonismus abgesehen.
Zwischen 1904 und 1906 in drei Bänden veröffentlicht, beschäftigt sich Empiriomonismus mit der Auswirkung der neuen Physik auf das marxistische Denken und mit der »spontanen«, aus dieser neuen Physik hervorgegangenen Philosophie von Ernst Mach und anderen. Für Mach war eine wissenschaftliche Theorie lediglich die ökonomischste Methode zur Beschreibung einer Sinneserfahrung. Allem, was über das hinausreicht, was über das Beobachtbare gesagt werden kann, sprach er als bloßer metaphysischer Spekulation über die Wirklichkeit die Berechtigung ab. Bogdanow fand in Mach eine nützliche Rückzugslinie, mit der er sich vom Pseudomaterialismus eines Engels oder Plechanows absetzen konnte, die die wissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit – von denen sich nur wenige als belastbar erwiesen – zu »Gesetzen« der Metaphysik erhoben hatten.11
Militante Genossen waren über Lenins Verhalten im Exil verärgert, der in einer Zeit wachsender Repression und angesichts der politischen Krise innerhalb der Partei seine Zeit in Bibliotheken verbrachte, wo er sich mit philosophischen Fragen beschäftigte. Aus dieser Arbeit resultierte eine weitschweifige Polemik gegen Bogdanow und andere »Machisten« mit dem Titel Materialismus und Empiriokritizismus (1909). Gorki meinte, dieses Traktat habe den »Ton eines Hooligan«, aber es erfüllte seinen Zweck.12
Die eher »philosophische« als politische Ausrichtung des Buchs dürfte es vor der Zensur bewahrt haben. Mit Sicherheit hemmte es den Einfluss sowohl der theoretischen Neuerungen als auch der politischen Linie Bogdanows. Lenin sorgte dafür, dass sein Rivale aus den Reihen der Bolschewiki verwiesen wurde, und schuf, beabsichtigt oder nicht, einen düsteren Präzedenzfall für die Prozesse doktrinärer Orthodoxie – als ob korrektes Handeln in welcher Sache auch immer eine korrekte »Linie« in der Philosophie erforderte.
Ob Bogdanows politische Taktik nun besser als Lenins gewesen wäre, muss uns nicht unbedingt tangieren, doch seine theoretischen Taktiken waren – und sind es noch immer – verdienstvoll, auch wenn sie von den Grundbegriffen des sogenannten dialektischen Materialismus abweichen. Zwar sind in der Philosophie, wie Gilles Deleuze einmal anmerkte, die Grundprinzipien immer weniger interessant als die sekundären oder tertiären Prinzipien.13 Selbst bei den tertiären Prinzipien ist hier jedoch noch kein Ende der fruchtlosen Argumentation abzusehen.
Von größerem Interesse dürften die Formen der Wissenspraxis sein, die auf einer bestimmten theoretischen Konfiguration aufbauen. Stuart Hall: »Theorie ist immer ein Umweg auf dem Weg zu etwas Wichtigerem.«14 Molekulares Rot geht von der Behauptung aus, dass Bogdanow auch heute noch eine Grundlage bietet, auf der eine Wissenspraxis für das Zeitalter der Kohlenstoffbefreiungsfront aufgebaut werden kann. Er zog sich aus den fruchtlosen Versuchen zur Konstruktion einer materialistischen Metaphysik zurück und trat für eine realistische Herangehensweise an die Sinnesempfindung selbst ein, womit er einen Weg eröffnete, über Wissenspraxis als organisierter Sinnesempfindung nachzudenken. Ein solcher Pragmatismus dürfte heute wieder zeitgemäß sein.
Bogdanow, Gorki und Lunatscharski, die sich in politischer, praktischer und theoretischer Hinsicht von Lenin entfremdet hatten, bildeten ihre eigene Fraktion. Sie betrieben zwei Parteischulen, eine 1909 in Capri und die andere 1910 in Bologna, finanziert von den Einkommen, die Gorki als gefeierter Schriftsteller erzielte, und vielleicht von Expropriationsgeldern, über die Bogdanow noch verfügte. Das Treffen in Capri war der Zeitpunkt, an dem – wenn auch nur kurz – ein intellektuell offener Bolschewismus existierte.15
Die Capri-Schule bestand nicht lange. Ihre Schüler wurden bei der Rückkehr nach Russland verhaftet; Bogdanow und Gorki verkrachten sich; Lenin flickte seine Beziehung zu Gorki; und Lunatscharski geriet wieder unter Lenins Bann. Bogdanow, der sich von seiner Partei entfremdet fühlte, spielte 1909 mit dem Gedanken an Selbstmord. 1911 gab er die Politik auf, um sich auf seine literarische und wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren. Mit Lenin und Gorki lag er im Zwist, die Bolschewiki befanden sich in Auflösung, und so verfolgte er aus der Ferne, wie sich in Russland in einem langen, langsamen Prozess die Gegenrevolution entrollte. Ausgerechnet in diesen für die Revolution, für die Partei und auch für ihn persönlich schwierigen Umständen begann er an einer Utopie zu schreiben.
Der rote Stern, Bogdanows Utopie, erwies sich als überaus erfolgreich und wurde zu einem Gründungstext der sowjetischen Science-Fiction-Literatur. Das Buch ist für Bogdanow der Polarstern, anhand dessen er sich durch die schwierigen Zeiten navigierte, die nun folgen sollten. Die Beschäftigung mit Roter Stern lässt uns Bogdanows Projekt besser verstehen und verdeutlicht, auf welche Weise es für die Ära der Kohlenstoffbefreiungsfront wieder fruchtbar gemacht werden kann.
»Sehen Sie,« sagte Lenin zu Bogdanow, »Sie müßten für die Arbeiter einen Roman darüber schreiben, wie die kapitalistischen Räuber die Erde ausgeplündert haben, wie sie alles Erdöl, alles Eisen, Holz, sämtliche Kohle verbraucht haben. Das wäre ein sehr nützliches Buch, Signor Machist!«16 An diese Unterhaltung während Lenins Besuch auf Capri wollte sich Gorki erinnert haben. Sehr zum Ärger Lenins war Bogdanows Buch bei Weitem origineller und sensationeller als sein Vorschlag.
Die utopische Fabel Der rote Stern (1908) und ihre Vorgeschichte, die Vampirerzählung Ingenieur Menni (1913), sind didaktische Abhandlungen, die Bogdanows Ideen zur Arbeit, Natur und Revolution einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machten. Beide spielen auf dem Mars. Da das Leben auf dem Mars schon älter und da es weiter von der Sonne entfernt ist, ist es auch weniger dynamisch als auf der Erde, weniger gewalttätig in seinen Kämpfen und höher entwickelt.17 Bei beiden Büchern handelt es sich um Gedankenexperimente, die auf einem Parallelplaneten stattfinden. Manche Parameter mögen fehlen – auf dem Mars gibt es keine miteinander konkurrierenden Staaten –, aber in seinen Grundzügen ähnelt der vorrevolutionäre Mars dem Zustand, in dem die Erde des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach dem Sieg der Kohlenstoffbefreiungsfront angelangt ist.
In Ingenieur Menni wird die Geschichte von den Spannungen zwischen einem riesigen staatlich gelenkten Entwicklungsprojekt und den Interessen des Finanzkapitals vorangetrieben. Der marsianische Kapitalismus steht am Rande der Krise. Märkte müssen expandieren, aber für ein weiteres Wachstum gibt es keinen Platz mehr. Als Lösung schlägt Ingenieur Menni vor, einen Kanal zu bauen, ein derart gigantisches Vorhaben, dass es die räumliche Ordnung des Planeten völlig umformen wird. Es wird sogar Einfluss auf das Klima nehmen.
Ein fein austarierter politischer Kompromiss führt dazu, dass eine staatliche Agentur mit der Aufgabe betraut wird, aber dies befriedet die finanziellen Interessenlagen keineswegs. Als wegen eines besonders schwierigen Geländeabschnitts die Zahl der Todesopfer steigt, werden die Arbeiter wütend. Die Finanzwelt ergreift die Gelegenheit, das ganze Projekt zu privatisieren. Allerdings führt die von ihr favorisierte Kanalstrecke durch ein Erdbebengebiet. Die Arbeit ist zwar leichter und es besteht Aussicht auf schnellen Profit, doch auf lange Sicht ist die Bevölkerung entlang der instabilen neuen Route gefährdet. Die Logik der Kapitalakkumulation mit ihrer eigenen speziellen Realität dominiert die Logik der Arbeit, die in der Natur und gegen diese kämpft, um eine bewohnbare Welt zu erschaffen und aufrechtzuerhalten.
Die Plackerei für das Finanzkapital finden die Arbeiter schlimmer als das Arbeiten für die von Ingenieuren beherrschte staatliche Gesellschaft. Netti, ein radikaler Ingenieur, schlägt eine Allianz der Arbeiter und Ingenieure gegen das eine Prozent vor. Er verfasst ein Exposé über die in dem Projekt herrschende Korruption und Inkompetenz und bringt es gleichzeitig mit einem Generalstreik an die Öffentlichkeit. Bogdanow möchte die Interessen der Arbeiter, die sich direkt mit der widerspenstigen Materie abmühen, mit denen derjenigen kombinieren, die die zur Organisation der unmittelbaren Arbeit und des Wissens um die Natur benötigten Informationen knacken.
Aber Nettis Agenda ist weit ehrgeiziger: »Wie sollen wir es anfangen, selber sehend und wissend zu werden, nicht nur glauben zu müssen? Oder ist es unmöglich, wird es immer so sein wie jetzt? Wenn es aber unmöglich ist – lohnt es sich dann zu leben und zu kämpfen, nur um weiterhin Sklave zu sein?«18 Die schlimmste Form der Sklaverei ist zu glauben anstatt zu wissen, für bare Münze zu nehmen, was nicht von der sorgfältigen Überprüfung der Sinnesempfindungen abgeleitet ist.19 Das Ziel besteht nicht darin, den Vampirkraken des Finanzkapitals abzuschütteln, sondern die Gesamtheit von Arbeit und Wissen neu zu organisieren.
Der rote Stern spielt auf dem sozialistischen Mars nach den Ereignissen von Ingenieur Menni. Es herrscht Gleichberechtigung der Geschlechter, wenn auch noch nach dem Muster der maskulinen Norm. Die Marsianer erfreuen sich einer befreiten Sexualität, frei von repressiver Moral, wenn nicht gar von emotionaler Komplexität. Eine Vision, die der Vorstellung der bolschewistischen Feministin Alexandra Kollontai nahekommt. Die Medizin auf dem Mars ist natürlich weit fortgeschritten. Bluttransfusionen werden als Regenerationstherapie eingesetzt.20 Hier bezeugt Bogdanow eine unheimliche Vorahnung posthumaner Techniken, die es erlauben werden, menschliches Gewebe von einem Körper zum anderen übergehen zu lassen.21 Es ist sogar ein Feld, zu dem er in seiner letzten Lebensphase einen eigenen Beitrag leistet.
Auf dem Mars ist die Arbeit vollkommen vergesellschaftet. Der menschliche Erzähler kann kaum noch erkennen, worin Arbeit für die fortgeschritteneren Marsianer besteht: »Unmerkbar und unsichtbar waren jene Fäden, die das zarte Menschenhirn mit dem unzerstörbaren Organ des Mechanismus verbanden.«22