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Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums

Salah Naoura, geboren 1964 in Berlin, wo er heute auch lebt, studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Stockholm. Er arbeitet seit 1995 als freier Übersetzer und Autor, veröffentlichte Bilderbücher, Erstlesebücher sowie zahlreiche Kinderromane. Für seine Übersetzungen (u. a. He Duda von Axel Scheffler & Jon Blake) wurde er mehrfach ausgezeichnet, ebenso für seinen Roman Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums, der auch fürs Kino verfilmt wurde. Bislang erschienen bei Beltz & Gelberg von ihm außerdem seine Kinderromane Star, Chris, der größte Retter aller Zeiten, Der Ratz-Fatz-x-weg-23 und zuletzt Matti und Sami und die verflixte Ungerechtigkeit der Welt.

Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums wurde mit dem Peter-Härtling-Preis der Stadt Weinheim und dem LUCHS des Jahres von Radio Bremen / DIE ZEIT ausgezeichnet und kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.

Für Esther und Carsten

1

Mama saß im Gras und schluchzte leise vor sich hin. Papa hatte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammengekniffen und starrte finster auf den glitzernd blauen See hinaus. Und Sami, mein kleiner Bruder, flitzte am Ufer hin und her und sammelte flache Steine zum Ditschen.

»Da sitzen wir nun!«, schnauzte Mama mich zwischen zwei Schluchzern an. »Vielen Dank, Matti!«

Das war kein echter Dank, sondern ironisch. Inzwischen kenne ich das von Mama. Ironisch ist, wenn man das Gegenteil von dem meint, was man sagt. Auch so etwas, was ich bei Erwachsenen nicht kapiere. Man kann doch auch gleich sagen, was man meint.

»Du hast unser Leben zerstört!«

Das war leider nicht ironisch. Dafür aber total übertrieben, schließlich lebten wir ja noch. Mein Onkel Kurt, Mamas großer Bruder, sagt immer, man muss vor allem das Schöne im Leben sehen. Und dass Mama das leider nicht so gut kann. Schade eigentlich, denn es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne schien, die Mücken surrten, der Wind strich raschelnd durch die Birken, und vor uns lag dieser fantastische finnische See, über den Sami gerade seinen ersten Stein ditschen ließ. Fünf Ditscher. Sami kann es echt schon gut, obwohl er noch so klein ist.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, keifte Mama mich an. »Hast du dir das mal überlegt? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht?«

Gut, ich musste zugeben, dass wir ein paar Probleme hatten: Wir wussten nicht, wo wir übernachten sollten. Und Papa und Mama hatten keine Arbeit, deshalb reichte das Geld bestimmt nicht, um für längere Zeit in ein Hotel zu ziehen. Außerdem hatten wir kein Auto, was in Finnland echt ein Nachteil ist, denn Finnland ist sehr groß, und alles liegt weit auseinander, da kann man schlecht zu Fuß gehen. Schon gar nicht mit unseren sechs schweren Koffern und Taschen, die immer noch kreuz und quer im Gras lagen – Papa hatte sie wütend einfach irgendwo fallen lassen. Neben dem größten, Mamas blauem Rollkoffer, stand Samis kleiner Rucksack mit dem rosaroten Panther drauf, schön ordentlich und kerzengerade. So ist Sami.

Mama blickte durch ihren Tränenschleier zu Papa rüber. »Sulo, sag doch mal was!«

Also, das war wirklich albern, denn sie ist nun schon seit elf Jahren mit einem finnischen Mann verheiratet, nämlich seit meiner Geburt, deshalb müsste sie langsam wissen, dass finnische Männer fast nie etwas sagen. Man muss sich einfach vorstellen, was sie denken. Also stellte ich mir vor, dass Papa sich freute, nach so langer Zeit wieder in Finnland zu sein, dem Land, in dem er geboren wurde. Ich jedenfalls freute mich, denn für mich war es ja das erste Mal. Dumm war nur, dass Mama, Sami und ich kein Finnisch konnten. (Außer terve, hallo, und kiitos, danke.) Aber das würden wir schon noch lernen.

»Bis zum nächsten großen Ort sind es sieben Kilometer«, jammerte Mama.

»Fünfeinhalb«, informierte ich sie, denn ich hatte im Reiseführer nachgesehen.

Mamas Augen begannen vor Wut zu funkeln.

»Hör auf mit deiner ewigen Klugscheißerei, Matti!«, fuhr sie mich an. »Denk lieber mal darüber nach, was du getan hast! Ich will jetzt eine Stunde nichts mehr von dir hören, klar?«

Auch das war wieder anders gemeint, als es klang. Wenn Mama sagt, ich soll darüber nachdenken, was ich getan habe, bedeutet es eigentlich, dass mir irgendetwas leidtun soll. Also schwieg ich lieber und dachte drüber nach, was ich getan hatte und ob es mir leidtat.

2

Angefangen hat alles mit dem Delfin im Ententeich. Ich kann mich genau daran erinnern, wie Sami vor Freude durch die Wohnung tanzte, einmal durch den kleinen Korridor hin und wieder zurück, denn sehr groß war unsere Wohnung nicht. Es war acht Uhr morgens, an einem Samstag. Papa war auf einer Schulung, und Mama hatte die Zeitung aufgeschlagen, wo gleich auf der zweiten Seite das Foto eines Delfins namens Swisher zu sehen war.

Swisher kommt zu uns!

lautete die Schlagzeile. Darunter stand, dass der Zoo in Duisburg zu viele Delfine hätte, deswegen müsste einer von ihnen umgesiedelt werden, nämlich Swisher. Und da war unser Bürgermeister auf die Idee gekommen, dass Swisher doch hier in unserer kleinen Stadt im Ententeich wohnen könnte. Wir haben immerhin einen ziemlich großen Ententeich, viel größer als ein Delfinarium und mit schönen grünen Trauerweiden am Ufer, deren Lianenzweige bis ins Wasser hängen. Außerdem führt an der schmalsten Stelle eine Brücke übers Wasser, ideal zum Beobachten von Enten und Delfinen. Der Duisburger Zoodirektor hatte unseren tollen Teich vorher besichtigt und war zu dem Schluss gekommen, dass Swisher sich dort sehr wohlfühlen würde und deswegen zu uns ziehen dürfte.

Die Ankunft des Delfintransporters war für zehn Uhr geplant, stand in dem Zeitungsbericht. Dann würden vier starke Tierpfleger Swisher mit einer Trage dabei behilflich sein, die Strecke vom Wagen bis zum Ufer zurückzulegen.

Sami begann vor Begeisterung auf dem Sofa rumzuhopsen und wollte Swisher zur Begrüßung ein Glas Rollmöpse mitbringen, aber Mama erklärte ihm, dass Rollmöpse für Delfine zu sauer sind.

Stattdessen nahmen wir Erni und Bert mit, unsere Holzdelfine, die uns Onkel Kurt irgendwann mal aus Amerika mitgebracht hat. Beim Baden ließen wir sie immer in der Wanne schwimmen, zwischen arktischen Eisbergen aus Schaum, und wenn die Wasseroberfläche mit einer dünnen Schaumschicht bedeckt war, guckten oben nur ihre Rückenflossen raus und zerteilten die weißen Fluten wie der stählerne Bug eines Eisbrechers im Polarmeer.

Der Himmel an diesem Samstagmorgen war grau und gewitterig, und es blies ein kalter Wind, kein schönes Wetter zum Spazierengehen. Trotzdem war bereits die halbe Stadt um den Entenweiher versammelt, als wir dort ankamen. Noch nie hatte ich so viele Leute in unserem kleinen Park gesehen. Sami machte einen Aufstand, weil auf der Brücke, von wo man am besten sehen konnte, kein Platz mehr frei war.

»Sami, hör endlich auf zu maulen!«, sagte Mama.

Am gegenüberliegenden Ufer entrollten zwei Kinder gerade ein großes Transparent mit der Aufschrift Herzlich willkommen, Swisher!.

»Sami?«, sagte die Frau, die direkt vor uns stand, und drehte sich um. »Ist das nicht ein türkischer Name?« Sie musterte meinen kleinen Bruder von Kopf bis Fuß. »Du siehst doch gar nicht aus wie ein Türke!«

Komischerweise sagen die Leute das jedes Mal, wenn sie Samis Namen hören, trotz seiner blassen Haut und des hellblonden Haars, das wie Gold schimmert.

»Sami ist auch ein finnischer Name«, klärte ich sie auf. »Kennen Sie nicht Sami Hyypiä, den berühmten finnischen Fußballer?«

»Nein.«

»Einer der besten Verteidiger der Welt, sehr kopfballstark. Früher war er beim FC Liverpool, aber jetzt spielt er bei Bayer Leverkusen, schon seit über einem Jahr!«

»Vielen Dank für die Information«, sagte die Frau.

»Er ist über eins neunzig und in Liverpool kennt ihn jeder!«

»Wir sind hier aber nicht in Liverpool«, sagte die Frau und drehte sich wieder nach vorn.

Ich zupfte sie am Ärmel.

»Sami Hyypiä hat übrigens dieselbe Haarfarbe wie mein Bruder.«

»Und dieselbe Frisur!«, krähte Sami.

Mama zischte uns zu, wir sollten aufhören, die Leute zu belästigen, obwohl doch eigentlich die Frau uns belästigt hatte. Außerdem finde ich, dass es echt nicht schaden kann, Sami Hyypiä zu kennen. Immerhin ist er ein weltberühmter Finne und wurde 2001 in Finnland zum Sportler des Jahres gewählt. Ein Plakat von ihm, auf dem er gerade einen genialen Kopfballtreffer landet, hing zu Hause über meinem Bett.

Während wir auf Swisher warteten, fragte ich mich, ob ein Delfin im Ententeich sich nicht vielleicht so fühlen würde wie mein finnischer Vater in Deutschland. In Deutschland ist alles komisch, sagt Papa immer. Und dass die Deutschen die Finnen nicht verstehen. Also auch Mama nicht, denn Mama ist ja Deutsche. Früher habe ich ihn oft gefragt, warum er Mama überhaupt geheiratet hat, obwohl sie ihn als Deutsche nicht versteht. Aber natürlich hat er nichts geantwortet – schließlich ist er Finne.

Mittlerweile war Swisher schon eine halbe Stunde verspätet, und ich sah, wie die Dame vor uns mit dem älteren Herrn, der neben ihr stand, zu flüstern begann.

Ein leichter Nieselregen setzte ein.

»Ach«, sagte die Frau zu dem älteren Mann, diesmal so laut, dass jeder es hören konnte. »Das war wirklich ein schöner Ausflug. Nun hast du mal unseren Ententeich gesehen.«

Am anderen Teichufer rollten die Kinder gerade ihr Transparent zusammen und brachen ebenfalls auf!

Ich wunderte mich.

»Der Delfin soll endlich kommen!«, maulte Sami und wedelte mit Erni und Bert. »Ich will ihn schwimmen sehen.«

Die Frau, die Sami Hyypiä nicht kannte, drehte sich um und lachte irgendwie seltsam. »Ein Delfin?«, sagte sie zu Sami. »Im Ententeich? Wer hat dir das denn erzählt? Das muss ein Aprilscherz gewesen sein. Heute ist doch der 1. April.«

Sami starrte die Frau entgeistert an.

»Das habe ich meinen Söhnen auch gesagt«, sagte Mama und fing an zu kichern. »Bestimmt ein Aprilscherz! Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind ... Und außerdem schadet es ja auch nichts, am Wochenende mal an die frische Luft zu gehen.«

Inzwischen goss es in Strömen. Mama klebten die Haare an den Wangen und der Frau liefen schwarze Tränen aus Wimperntusche über das Gesicht.

»Das stimmt doch überhaupt nicht!«, brüllte Sami. »Du hast mir einen Delfin versprochen. Ich will den Delfin!«

Mama kicherte noch ein bisschen lauter und hielt Sami einfach den Mund zu. »Da kann man hundert Mal was erklären, sie hören einem einfach nicht zu«, sagte sie und nickte der Frau vielsagend zu.

Dann lachten sie beide fast gleichzeitig und wünschten sich ein schönes Wochenende.

Sami war so wütend, dass er sich weigerte, nach Hause zu rennen, obwohl es zu blitzen und zu donnern begann und Wasserfälle vom Himmel auf uns runterprasselten.

»Du hast gelogen!«, brüllte er Mama an.

»Herrgott noch mal, es stand in der Zeitung, die Zeitung hat gelogen, kapier das doch endlich!«, rief Mama durch den brausenden Sturm zurück.

Als wir nach Hause kamen und in der Diele die klatschnassen Sachen auszogen, fragte ich: »Wieso hast du der Frau denn erzählt, dass du das mit dem Aprilscherz schon gewusst hast? Du hast es doch gar nicht gewusst.«

»Das geht die Frau aber nichts an«, blaffte Mama. »Zieh endlich die nassen Strümpfe aus!«

»Also hast du doch gelogen.«

Mama guckte mich wütend an. »Meine Güte, Matti«, sagte sie. »Manchmal bist du echt päpstlicher als der Papst!«

3

Wir wohnten in einer kleinen Hochhaussiedlung, nicht weit entfernt vom Park. Drei Hochhäuser mit einer Rasenfläche in der Mitte, und zwischen Haus 1 und Haus 2 (unserem) lag ein Sandkasten, in dem Sami nicht mehr buddelte, seit er vom Fenster aus gesehen hatte, wie ein Mädchen aus Haus 3 sich in den Sand gehockt und reingepinkelt hatte.

Der Aufzug hatte innen ein wildes Fleckenmuster aus verschiedenen Grüntönen, weil der Hausmeister regelmäßig die Kritzeleien überstrich und dann nie denselben Farbeimer fand, den er beim letzten Mal benutzt hatte.

Mama beschwerte sich immer, unsere Haus-2-Wohnung sei so groß wie ein Schuhkarton, und sie fand es eine Unverschämtheit, dass Papa als Einziger in der Familie ein eigenes Zimmer hatte.

Aber Papa brauchte ein Computerzimmer, mit einer Tür zum Zumachen, sagte er. Sein Computerzimmer durften Sami, ich und Mama nicht betreten, was eh nicht gegangen wäre, weil es keinen erkennbaren Platz gab, wo man hintreten konnte. Überall auf dem Boden lagen Bücher und CDs und Handys und Berge von Zetteln. Papier quoll aus den Regalen und stapelte sich auf dem Schreibtisch, und Papa war der Einzige, der wusste, wie man problemlos von der Tür zum Drehstuhl kam. Deswegen blieben wir einfach im Türrahmen stehen, wenn wir mit ihm sprechen wollten.

An dem April-Sonntag nach unserem Ausflug zum Ententeich kam Papa erst nachmittags von seiner Schulung nach Hause, ging sofort ins Computerzimmer und machte die Tür hinter sich zu, was bedeutete, dass er was ausprobieren wollte und wir nicht klopfen, keinen Krach machen und nichts fragen sollten.

Ich klopfte trotzdem.

Blaugraue Rauchschwaden waberten mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Mit seinen finnischen Zigaretten schafft Papa es in Sekundenschnelle, jedes Zimmer in eine qualmende Drachenhöhle zu verwandeln. Onkel Jussi schickte ihm ab und zu welche aus Finnland, und Papa rauchte sie immer nur dann, wenn er irgendwas sehr Wichtiges erledigt hatte.

Zum Beispiel eine Schulung.

»War die Schulung gut?«, begann ich unser Gespräch.

»Ja.«

Mist. In diese Falle tappe ich immer wieder: Wenn man eine Frage mit Ja oder Nein beantworten kann, beantwortet Papa sie mit Ja oder Nein. Dann ist das Gespräch zu Ende.

Ich versuchte es anders:

»Was hast du denn gelernt?«

»C plus plus und Java.«

Das sind Programmiersprachen. Papa findet Handyspiele nämlich total toll und wäre von Beruf am liebsten Handyspiele-Entwickler, obwohl er eigentlich Busfahrer ist. Und als Handyspiele-Entwickler muss man programmieren können. Deswegen geht Papa manchmal zu solchen Schulungen, aber das meiste hat er sich alleine beigebracht, oft nachts, im Computerzimmer. Er denkt sich dauernd neue Handyspiele aus, die so geheim sind, dass er keinem was davon erzählt – nicht mal uns. »Wahrscheinlich denkt er sich nur aus, dass er sich was ausdenkt«, sagt Mama immer. »Deswegen erzählt er nichts. Was soll euer Vater sich schon ausdenken?« Das finde ich ehrlich gesagt gemein von ihr.

Papa starrte mich durch den Dunst in seiner Drachenhöhle an, und ich fand, dass er müde aussah. Unter den Augen hatte er dunkle Ränder, die Haut wirkte grau wie Asche, und seine kurzen blonden Haare waren so zerzaust, als wäre er gerade erst aufgestanden.