Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.
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Annie Laine
Der Thron der Sieben Weltmeere
**Das Erbe der kleinen Meerjungfrau**
Für die achtzehnjährige Aria gibt es nichts Schöneres, als dem Singen der Gezeiten zu lauschen. Doch auch wenn das Wasser sie in jedem Moment ihres Lebens anzuziehen scheint, verhindert eine Allergie, dass sie seinem Ruf folgen kann. Zumindest bis der geheimnisvolle Nero in ihr Leben tritt. Durch ihn offenbart sich das mächtige Schicksal, das in ihr schlummert. Denn Aria ist niemand anderes als die Nachfahrin der kleinen Meerjungfrau und damit dazu bestimmt, sich ebenfalls in ein Wasserwesen zu verwandeln. Ihr Erbe kommt aber mit einer schwerwiegenden Aufgabe. In den Tiefen des Pazifiks lauern Geheimnisse, die nicht nur sie, sondern die gesamten sieben Weltmeere bedrohen. Und Arias Herz ist der Schlüssel zu allem …
Das Rauschen der Wellen klingt wie Musik und bringt mich dazu, alles um mich herum zu vergessen.
Ich schließe die Augen und versinke in einem wohlig-warmen Gefühl der Geborgenheit, während eine seichte Windböe durch mein Haar fährt und Sonnenstrahlen meine Haut kitzeln. Der Sand unter meinen Füßen knirscht, als ich mein Gewicht verlagere, mich auf die Ellenbogen zurücklehne und mein Gesicht gen Himmel recke. Selbst mit geschlossenen Lidern blendet mich die Mittagssonne, die heute so intensiv strahlt wie seit Wochen nicht mehr.
Es fühlt sich an, als wäre ich die Einzige hier am Strand.
Die Einzige, die der Musik des Meeres lauscht.
Die Einzige, die sie zu würdigen weiß.
Doch die Ruhe ist bloß von kurzer Dauer, obwohl es mir vorkommt, als würde ich schon stundenlang hier sitzen und mutterseelenallein den Klängen des Wassers zuhören.
»Aria!«
Die Stimme meiner besten Freundin holt mich zurück in die Wirklichkeit. Auf einmal vernehme ich nicht mehr nur das Meeresrauschen, sondern alle Umgebungsgeräusche prasseln auf mich ein. Kinder, die lachend im Sand spielen, Jugendliche, die sich über den neusten Klatsch und Tratsch unterhalten, und Eltern, die versuchen ihre Kinder im Zaum zu halten. Es ist unfassbar laut und voll und …
»Hach, das hat gutgetan!«, durchbricht Pamela erneut meine Gedanken.
Erschrocken zucke ich zusammen und schlage die Augen auf. Sofort strahlt mir die Sonne noch heftiger ins Gesicht und ich lege automatisch die Stirn in Falten. Blinzelnd setze ich mich auf und richte meinen Blick auf den Sand, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. In der Zwischenzeit hat meine beste Freundin bereits ihr rotes Surfboard in den Sand gesteckt und sich neben mir niedergelassen.
»Hey, Pam«, begrüße ich sie, nachdem ich den kurzen Schreck überwunden habe, und werfe ihr ein Lächeln zu. »Wie sind die Wellen?«
»Großartig!«, schwärmt sie auf der Stelle und schiebt sich eine ihrer patschnassen brünetten Strähnen hinters Ohr. Daraufhin greift sie in die Kühltasche, die ich bewacht habe, während sie den Surfer Boys bewiesen hat, dass sie die Königin der Wellen ist. Sie und niemand sonst. »Nein, nicht nur das. Sie sind absolut fantastisch. Und das Wasser ist einfach super. Richtig schön warm, als hätte jemand über Nacht die Heizung angestellt.«
»Das ist doch gut«, bemerke ich.
»Mega gut! Jeder Grad zählt.« Pamela zieht endlich ihre Colaflasche aus der Tasche und trinkt einen Schluck. Danach atmet sie erschöpft, aber glücklich durch. »Und der Sommer hat gerade erst begonnen. Stell dir vor, wie es erst in ein paar Wochen sein wird.«
Mir liegt zwar eine Erwiderung auf der Zunge, doch als ich den Mund öffne, um sie auszusprechen, gelingt es mir nicht. Kein Wort dringt über meine Lippen, bis ich es aufgebe und den Kopf senke.
Natürlich mache ich mir keine Hoffnungen, meine Gefühle vor ihr verbergen zu können. Dafür kennt sie mich einfach zu gut. Dennoch will ich nicht, dass sie die Sehnsucht in meinen Augen sieht. Dann würde sie mich wieder mit diesem mitleidigen Blick anschauen, obwohl keine von uns etwas für die Situation kann, und sich schlecht fühlen, weil sie im Meer praktisch zu Hause ist und ich das nicht mit ihr teilen kann. Sie würde ihr Surfboard für den Rest des Tages nicht mehr anrühren und wir stattdessen etwas am Strand unternehmen. Was bei mir unweigerlich zu einem schlechten Gewissen führen würde, da ich weiß, wie sehr sie es liebt, die Wellen zu reiten. Vor allem an Tagen wie heute.
»O verdammt. Das wollte ich nicht sagen. Tut mir leid, Aria«, murmelt sie auf einmal und legt mir tröstend eine Hand auf die Schulter.
»Schon okay.«
»Nein, es ist nicht okay. Ich hätte besser darüber nachdenken müssen, was ich sage.«
»Pam, wirklich. Es ist in Ordnung. Du kannst nichts dafür«, erinnere ich sie und versuche mich an einem Lächeln. Es ist beim besten Willen nicht ihre Schuld, dass ich das Meer nur aus der Ferne bewundern kann. Dass der Gedanke, darin zu schwimmen, für immer nur eine Vorstellung sein wird und nie Realität.
»Da lebt man schon einmal in San Diego und hat den Ocean Beach praktisch direkt vor der Haustür und kann nicht ins Wasser wegen einer bescheuerten Allergie.« Mit der flachen Hand, die sie von meiner Schulter nimmt, schlägt Pam auf den Sand neben sich, als könnte er etwas für meine Meerwasserallergie.
Ein Kichern kommt über meine Lippen, doch es ist eher halbherzig und nicht ernst gemeint. Sie soll sich nicht um mich sorgen.
Eigentlich will ich auch nicht über dieses Thema sprechen.
Ich will überhaupt niemals nie über dieses Thema sprechen.
Man muss mich nicht regelmäßig daran erinnern, dass ich mich zwar an den Strand setzen, aber niemals in dem Meer nur wenige Meter von mir schwimmen kann.
»Mach dir keine Gedanken um mich. Ich bin glücklich damit, auf unsere Sachen aufzupassen und dem Rauschen der Wellen zuzuhören«, versichere ich ihr, obwohl es gelogen ist. Inzwischen bin ich gut darin, diese Lüge so glaubwürdig herüberzubringen, dass sogar meine beste Freundin sie mir abnimmt. Meistens jedenfalls. Heute stoße ich bei ihr auf taube Ohren.
»Ach, Ari, meine süße, süße Ari.« Enttäuscht schüttelt Pam den Kopf, wobei ihre tropfnassen Strähnen hin und her schwingen und mich nur um Haaresbreite verfehlen. »Du lebst direkt am Meer und verbringst mehr Zeit am Strand als ich. Du kannst mir nicht erzählen, dass dich nicht mindestens einmal die Sehnsucht gepackt hat.«
»Tue ich auch nicht, aber ich habe irgendwann aufgehört Dinge ändern zu wollen, die ich nicht ändern kann.«
»Wie kann man all den Menschen zusehen, wie sie schwimmen, surfen und Spaß haben, und selbst einfach nur zufrieden danebensitzen?«
»Ganz einfach. Indem man es tut«, erkläre ich ihr und lächle. »So etwas wie Zufriedenheit kann man sich antrainieren. Man sollte das nehmen, was man kriegen kann. Ich bin glücklich, wenn das Meer in meiner Nähe ist. Ich muss nicht unbedingt schwimmen gehen. Außerdem würde mir so ein Neoprenteil bestimmt nicht stehen. Ist der eigentlich neu?«
Sofort ist das Thema vergessen, was mir ein Lächeln entlockt. Pam ist in dieser Hinsicht sehr einfach gestrickt. Sie streicht ihre nasse Mähne über die Schulter und schaut an sich herunter. Den schwarzen Neoprenanzug mit den neongelben Patches habe ich noch nie an ihr gesehen, dabei gehen wir so gut wie immer gemeinsam shoppen und sie hätte mir von ihrer neusten Errungenschaft erzählt. Beste Freundinnen machen das so und wir sind das immerhin, seitdem wir uns in der Elementary School kennengelernt und beschlossen haben, dass wir zusammen unbesiegbar sind.
»Ach, das alte Ding?« Sie kichert und vollführt eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe mir das Teil vor Jahren mal im Sale gekauft und nie getragen. Da Neon diesen Sommer wieder voll in ist, habe ich mich an den Anzug erinnert und ihn aus dem Schrank geholt.«
Ich nicke. »Also irgendwie doch neu. Wenn du ihn nie getragen hast.«
»Ich habe ihn vor zwei Jahren gekauft. Das ist alt«, beharrt sie und stemmt eine Hand in ihre Taille.
»Sieh es so: Falls du ihn im Schrank gefunden hättest und er eher nichts für dich gewesen wäre, dann hättest du ihn bestimmt mit den anderen aus der Mode gekommenen Sachen verkauft. Und du hättest in der Beschreibung angegeben, dass er ›wie neu‹ ist.« Im Grunde beschreibt Pam alle ihre getragenen Klamotten als ›wie neu‹ in Verkaufsportalen, doch die Preise lassen dann immer darauf schließen, dass dem nicht so ist.
»Gegen deine Logik komme ich nicht an, Aria.« Pam schüttelt den Kopf und lacht amüsiert. Ich steige in ihr Lachen ein und auf einmal sieht die Welt wieder viel schöner aus. »Was mir vorhin beim Surfen eingefallen ist: Gehen wir nachher eigentlich aus und unternehmen irgendetwas?«
Sie schaut mich voller Erwartung an, während ich ihren Blick irritiert erwidere. Wieso sollten wir ausgehen? Wir sind schließlich schon den ganzen Vormittag gemeinsam am Strand. Ist das nicht genug Unternehmung für einen Tag? Außerdem wüsste ich nicht einmal, was wir heute Abend machen könnten.
»Wieso?«, frage ich verwirrt.
»Na, weil ich dann vorher noch duschen müsste. Ich kriege mit dem Salzwasser im Haar nie und nimmer eine vernünftige Frisur hin.« Demonstrativ fährt Pam sich durchs Haar und bleibt dabei einige Male an Knoten hängen, was sie missmutig aufseufzen lässt.
»Ich meinte eigentlich eher, wieso du was mit mir unternehmen willst?«, spezifiziere ich meine Frage, obwohl ich bereits eine Ahnung habe, weshalb sie den Abend mit mir verbringen möchte. Jedes Jahr das Gleiche.
Pamelas Augen weiten sich vor Schreck und sie reißt den Mund weit auf. Sie bringt keinen Ton heraus, stammelt unverständliches Zeug, ehe sie sich wieder fängt.
»Aria! Wirklich? Wie kannst du so etwas fragen?«, will sie wissen und rupft einmal an ihren Haaren, sodass die Knoten sich lösen.
»Ähm … ich bin neugierig?« Selbst aus meinem Mund klingt meine Antwort mehr wie eine Frage.
»Verdammt, Ari! Du hast heute Geburtstag und wir sollten ihn noch richtig feiern. Das ist das Mindeste, was wir tun können, nachdem du mir verboten hast, dir zu gratulieren oder dir ein Geschenk zu kaufen.«
Jup. Habe ich es mir doch gedacht.
»Pam …«, ziehe ich ihren Namen in die Länge und seufze. Auf diese Diskussion habe ich nun wirklich keine Lust.
»Heute ist dein Ehrentag, Aria. Wieso geht das nicht in deinen Kopf?« Ihre Stimme übertönt problemlos die Gespräche in unserer unmittelbaren Umgebung, sodass sich eine Frau knapp zwei Meter entfernt nach uns umschaut und für einen Moment beobachtet, was wir tun. Als wir ihr nicht interessant genug sind, dreht sie sich wieder auf den Bauch und lässt sich von der Sonne brutzeln. Morgen wird sie fiese Streifen auf ihrem Körper haben, die zeigen, wo ihr Badeanzug gesessen hat.
»Jetzt tu mal nicht so, als wäre mein Geburtstag so wichtig, dass man ihn zum Nationalfeiertag ernennen müsste. Ich habe seit Jahren nicht mehr gefeiert und werde sicher nicht wieder damit anfangen«, erkläre ich ihr. Die immer gleiche Diskussion.
»Och, bitte!«
»Nö.«
»Ariii?«, bettelt sie und schaut mich mit traurigen Augen an.
Ich mag Pamela zwar und könnte mir keine bessere beste Freundin wünschen, aber manchmal kostet sie mich Nerven.
Viele Nerven.
»Pam, bitte. Lass uns einfach hierbleiben. Du kannst surfen und ich dir dabei zusehen. Glaub mir, ich könnte mir keinen schöneren Zeitvertreib an meinem Geburtstag vorstellen.« Und um sie auch auf jeden Fall rumzukriegen, ergänze ich noch: »Damit würdest du mir ein ganz tolles Geschenk machen und ich wäre dir auf ewig dankbar.«
Das darauffolgende Seufzen zeigt mir, dass ich diese Diskussion für mich entschieden habe, und automatisch schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Zufrieden lehne ich mich gegen unsere Kühltasche und recke das Kinn in die Höhe.
»Du bist unmöglich, Aria, wirklich. Also gut. Wir bleiben hier«, lenkt Pam ein und schüttelt den Kopf, bevor sie sich aufrappelt und den Sand von ihren Beinen klopft. Ihre kurze Pause ist wohl vorbei und die Wellen warten auf sie.
»Aber nur damit das klar ist«, wendet sie sich an mich, als sie ihre Cola wieder in der Kühltasche verstaut. »Auch wenn du nicht feiern willst, heute ist dein Geburtstag. Happy Sweet Eighteen, Aria.«
Selbst als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet, als sich der Strand leert und die Menschen nach Hause gehen, bleibt eines unverändert: Das Rauschen des Meeres spielt noch immer dieselbe wundervolle, beruhigende Musik, der ich in den letzten Stunden gelauscht habe.
Schon immer gehörte die Zeit zwischen dem Beginn der Dämmerung und dem endgültigen Einbruch der Nacht zu meinen liebsten. Nicht nur wegen des Sonnenuntergangs über dem Ozean, sondern auch wegen der Stille am fast menschenleeren Strand.
So spät wagen sich nur wenige Surfer in den Pazifik, Pamela ist eine von ihnen. Sie reitet die Wellen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Währenddessen klopfe ich den Sand von meinem weißen Sommerkleid und packe gemächlich unsere Handtücher zusammen. Dann trotte ich mit unseren Strandtaschen über der Schulter und der Kühltasche in der Hand über den fast menschenleeren Strand zu einer der nächsten Sitzmöglichkeiten, denn ohne die Sonne wird auch der sandige Boden langsam kühl und klamm.
Mein Blick gleitet zurück zum weiten Ozean und den wenigen Surfern auf ihren Boards und erneut packt mich die Sehnsucht. Doch dieses Mal ist es … anders. Stärker. Unwiderstehlicher. Allein der Gedanke, dieser Wunschtraum, jemals in die Fluten einzutauchen, sorgt dafür, dass mein Herz vor Aufregung flattert. Gleichzeitig zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen, denn ich weiß, so weit wird es niemals kommen.
Aria.
Was war das?
Hat jemand nach mir geru…
Ein Schrei bleibt mir in der Kehle stecken, als ich mit meinen Flip-Flops über einen Sandhügel stolpere und das Gleichgewicht verliere. Ich rudere mit den Armen, doch die schweren Taschen helfen mir nicht mich wieder zu fangen. Eher im Gegenteil. Bevor ich realisiere, was passiert, falle ich nach vorn und lande bäuchlings auf dem Boden, der leider nicht einmal annähernd so weich ist, wie er aussieht. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, füllt sich mein offen stehender Mund mit einer ganzen Menge Sand.
Na, wunderbar.
Schnell spucke ich ihn aus und will mich aufrappeln, als vor meinem Blickfeld eine gebräunte Hand auftaucht, die ich blindlinks ergreife. Einen kurzen Blick später stelle ich fest, dass sie zu einem Jungen in meinem Alter gehört.
»Alles okay?«, fragt dieser und runzelt besorgt die Stirn. Seine klangvolle Stimme raubt mir für einen Moment den Atem. Langsam kämpfe ich mich mit seiner Hilfe zurück auf die Beine, hebe den Kopf und sehe direkt in Augen, bei denen ich mich nicht auf eine Farbe festlegen kann, weil sie so blau und grün schimmern wie der Ozean. Augen, in denen ich mich stundenlang verlieren könnte. Erst nach einigen Sekunden gelingt es mir, auch den Rest von ihm in Augenschein zu nehmen.
Sein schwarzes Haar weist leichte Wellen auf und verleiht ihm eine verwegene Ausstrahlung, die durch sein schiefes Lächeln nur noch verstärkt wird. Ich überlege, ob er einer der vielen Surfer hier ist, aber dann hätte ich ihn hier sicherlich schon einmal gesehen. Und seine Jeans und das einfache weiße T-Shirt sprechen ebenfalls nicht dafür. Ein Tourist scheint er aber auch nicht zu sein.
»Offenbar nicht«, fährt er fort und setzt ein freches Grinsen auf, bevor er seine Hand aus meiner löst und mir drei Finger vor die Nase hält. »Wie viele Finger halte ich hoch?«, will er wissen.
»Ähm … was?« Irritiert runzle ich die Stirn, ehe mir klar wird, was er will. »Drei.«
»Du hast nicht geantwortet. Ich dachte, du hättest dir vielleicht was getan.« Endlich nimmt er seine Finger weg, fährt sich mit ihnen durchs Haar und lächelt verlegen. »Ich bin übrigens Nero. Freut mich.«
»Aria«, erwidere ich, bevor ich darüber nachdenken kann, ob es eine gute Idee ist, ihm meinen richtigen Namen anzuvertrauen. »Und mir geht’s gut. Danke fürs Hochhelfen.«
»Gern. Ich bin übrigens neu in der Stadt und habe dich in den letzten Tagen oft hier am Strand gesehen. Vielleicht hast du Lust, mal was zu unternehmen?«
Okay.
Das ist auch gar nicht seltsam.
»Tut mir leid, aber ich bin nur im Urlaub«, lüge ich problemlos. Das ist in dieser Stadt die leichteste Möglichkeit, Jungs loszuwerden, die einen anbaggern. Und dieser Kerl ist mir dezent unheimlich. Hat er mich gestalkt? Woher sonst sollte er wissen, wo ich die letzten Tage verbracht habe?
»Ach wirklich?«
»Ja, morgen reise ich ab und eigentlich muss ich wirklich los. Packen und so …« Ich will mich an dem Kerl vorbeimogeln, allerdings stellt er sich mir direkt wieder in den Weg. Nicht aufdringlich und mit gebührendem Abstand, aber er lässt mich trotzdem nicht passieren, was meine Meinung von ihm nicht unbedingt verbessert. Suchend schaue ich mich kurz nach Pamela um, doch die ist immer noch im Wasser.
»Ach schade.« Nero seufzt resigniert. »Wenn du es dir anders überlegst: Ich verbringe die nächsten Tage mit Sicherheit hier am Strand. Es würde mich freuen, dich wiederzusehen.« Mit diesen Worten tritt er zur Seite und ich zögere nicht. Eilig nehme ich meine Taschen und ergreife die Flucht, bevor er seine Meinung ändert.
Nie war ich so froh, die morsche Holzbank, die ihre besten Tage bereits hinter sich hat, am Ende des Strandabschnitts zu erreichen. Vorsichtshalber werfe ich einen weiteren Blick über die Schulter. Er ist immer noch in meinem Sichtfeld, hat sich aber nicht vom Fleck bewegt.
Gut.
Erleichtert lasse ich mich auf die breite Sitzfläche fallen, stelle die Taschen ab und sehe Pam beim Surfen zu. Das lenkt mich ab. Gerade manövriert sie sich wie ein Profi durch eine meterhohe Welle, eine der letzten des Abends, bevor die Flut der Ebbe Platz macht. Sie steht so sicher auf dem Board, dass man ihr das jahrelange Training förmlich ansieht, und es wäre gelogen, zu behaupten, dass ich es nicht auch einmal ausprobieren würde, wenn ich die Möglichkeit hätte.
Erneut spüre ich mein flatterndes Herz und die Sehnsucht, die damit einhergeht, aber das würde ich ihr gegenüber nie zugeben. Und es versuchen noch viel weniger. Schon allein ein paar wenige Sekunden im Wasser rächen sich sofort.
Erinnerungsfetzen blitzen in meinem Kopf auf. Ich denke an die schmerzenden Rötungen meiner Haut, die tagelang nicht verschwunden sind, als ich vor einigen Jahren meiner Sehnsucht nachgegeben und nur einen Arm ins offene Meer getaucht habe. Dad war außer sich vor Sorge und ich kann es ihm nicht verdenken. Es muss für ihn fast genauso schrecklich gewesen sein wie für mich, als ich mich vor Schmerzen gekrümmt habe und er nichts tun konnte, um mir zu helfen. In der Notaufnahme und die ersten Tage zu Hause, bevor die allergische Reaktion endlich abgeflaut ist, hat er mich nicht aus den Augen gelassen und mir versprochen, dass er alles tun würde, damit mir das nicht wieder passiert. Unzählige Allergietests und Medikamente später gibt es noch immer keine andere Lösung, als dass ich mich vom Ozean fernhalte. Wenn es nach Dad ginge, würde ich nicht einmal in die Nähe des Strandes kommen. Mom war diejenige, die sehr zu seinem Leidwesen und meiner Freude mit mir hierhergekommen ist. Nach ihrem Verschwinden hat er es mir verboten, doch über diese Regel setze ich mich schon lange hinweg. Ich lüge ihn nicht gern an, dennoch kann ich nicht anders.
Ein Seufzen kommt über meine Lippen und ich senke den Kopf. Einen Moment sitze ich so da, mit hängenden Schultern, den Blick auf den Sand zu meinen Füßen gerichtet.
Irgendwann – ich bemerke gar nicht so genau, wie viel Zeit verstrichen ist – kommt Pam aus dem Wasser, wickelt sich in das Badehandtuch, das ich ihr hinhalte, und setzt sich neben mich. In einträchtigem Schweigen beobachten wir, wie die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwindet.
Der Sonnenuntergang über dem Pazifik ist einfach immer etwas Besonderes. Die Lichtspiegelungen auf der glatten Meeresoberfläche lassen sich nur schwer auf Bildern einfangen und überhaupt ist es live doch so viel schöner.
Eine Gänsehaut zieht sich über meine unbedeckten Arme, als ich sehe, wie das Wasser von den letzten Sonnenstrahlen des Tages getroffen wird und daraufhin anfängt zu funkeln.
Das perfekte Ende eines perfekten Tages.
Als das Schauspiel beendet ist – und keine Sekunde später –, erhebt sich Pamela, schultert sowohl ihre Strandtasche als auch die Kühltasche, die sie heute früh mitgebracht hat, und nimmt ihr Surfboard. »Lass uns gehen. Ich muss unter die Dusche. Und wenn du nicht langsam nach Hause kommst …«
»… macht Dad sich Sorgen«, beende ich den Satz und kann mir ein missmutiges Seufzen nicht verkneifen. »Das weiß ich.«
Schicksalsergeben nehme ich meine Strandtasche und stehe ebenfalls auf. Pam setzt sich in Bewegung und ich werfe noch einen flüchtigen Blick auf das Meer. Sogleich schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Morgen komme ich wieder.
Als ich mich zu meiner besten Freundin umdrehe, ist diese schon einige Schritte vorausgelaufen. Schnell schließe ich zu ihr auf und scanne gleichzeitig die Gegend ab. Dieser Kerl – Nero – ist verschwunden. Ich hoffe, dass ich ihm morgen nicht begegne oder dass er meine Privatsphäre zumindest so weit respektiert, um mich in Frieden zu lassen.
Klar, er mag mir geholfen haben und das war auch sehr nett von ihm, andererseits ist er mir unheimlich. Erst dieser seltsame Ruf und dann falle ich ihm wortwörtlich vor die Füße. Obwohl es natürlich nur Zufall sein könnte, macht sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen breit, wenn ich daran denke. Ich weiß es kaum zu beschreiben, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass es am besten ist, ihn einfach wieder aus meinem Gedächtnis zu streichen.
»Wer war eigentlich dieser Kerl, mit dem du vorhin geredet hast?«, fragt Pamela unvermittelt. Ganz so, als hätte sie meine Gedanken erraten.
»Niemand. Irgendein Kerl. Du weißt doch, wie Touristen sind«, wiegle ich ab.
»Okay, da magst du recht haben. Mich haben heute einige angequatscht, mich gefragt, wo ich surfen gelernt habe und ob ich es ihnen beibringen könnte.« Sie schüttelt seufzend den Kopf. »Die Flirts waren auch mal besser, aber verderben wir uns nicht die Laune damit. Hast du mittlerweile eigentlich mal mit deinem Vater gesprochen?«, will sie wissen, als wir gerade den Strand verlassen und den ersten Bürgersteig erreichen. Sie hebt die Hand, um ein paar Leuten, die ich nicht kenne, auf der anderen Straßenseite zuzuwinken. Die verschiedenen Boards, die an einer Hauswand neben ihnen lehnen, lassen darauf schließen, dass Pam sie beim Surfen kennengelernt hat.
»Wegen der Strand-Sache?«
»Jup.«
Offenbar hält meine beste Freundin es für eine gute Idee, uns stattdessen mit diesem Thema die Laune zu verderben. »Ich habe es versucht«, räume ich ein.
»Och, Aria.« Pamela schüttelt den Kopf. »Du musst deinem alten Herrn endlich sagen, dass wir nicht bei mir zu Hause ›lernen‹, sondern zum Strand gehen. Was glaubst du, wie lange er dir das noch abnimmt?«
»Ich finde es schon unglaublich, dass er es mir bisher abgenommen hat«, erwidere ich mit einem schwachen Lächeln. »Aber du hast recht. Ich rede mit ihm. Versprochen. Immerhin bin ich jetzt volljährig, also kann er es mir nicht mehr verbieten, und nur weil ich am Strand bin, heißt es ja nicht, dass ich auch ins Wasser gehe. Schließlich bin ich nicht blöd und kann auf mich aufpassen.«
»Nur solltest du in Zukunft keine weißen Kleider mehr anziehen.«
»Das ist mein Lieblingskleid«, lasse ich sie wissen und setze einen empörten Schmollmund auf. Zugegeben, der helle Stoff hat jetzt einige Schmutzflecke mehr als heute Morgen, doch das wird mich nicht daran hindern, es weiterhin am Strand zu tragen.
»Ach, ich will dich nur ärgern, Aria.« Wie aufs Stichwort dreht sie sich zu mir um, sodass ich fast in sie reinlaufe und ihr Surfboard vor den Kopf bekomme. Im letzten Monat stoppe ich und entgehe dem Brett haarscharf. »Sehen wir uns morgen?«
»Was glaubst du?«
»Ich glaube, dass du wieder den ganzen Tag am Strand den Wellen zuhören wirst«, behauptet sie grinsend und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Nickend gebe ich ihr recht. »Dann sehen wir uns bestimmt. Und jetzt … muss ich leider nach Hause«, fährt sie fort und deutet auf die vor uns liegende Kreuzung. Sie muss hier in die Straße rein, also trennen sich unsere Wege. »Ich würde dich ja umarmen, aber ich bin immer noch ein wenig nass und … du weißt schon.«
Ich lächle sie an und schüttle meinen Kopf. »Versteh schon, keine Sorge. Komm gut nach Hause. Ich muss auch langsam weiter.«
Wir verabschieden uns und ich warte den kurzen Moment, bis Pamela im ersten Haus an der Ecke verschwunden ist, ehe ich meinen Weg fortsetze.
Eigentlich will ich noch überhaupt nicht nach Hause. Die letzten Stunden scheinen auf einmal nicht länger gewesen zu sein als Minuten, aber ich weiß, dass Dad verdammt sauer auf mich sein wird, wenn ich mich nicht langsam zu Hause blicken lasse.
Mit jedem Schritt verblasst die frische Meeresbrise in der Luft und das Rauschen der Wellen wird leiser, bis es vollkommen verstummt, als ich in meine Straße einbiege.
Aria.
Klar und deutlich erklingt mein Name in meinem Kopf und ich zucke zusammen. Hektisch schaue ich mich nach dem Ursprung um, doch hier ist niemand. Die Straße ist vollkommen verlassen, nur das Bellen unseres Nachbarshundes durchbricht die Stille.
Okay, unheimlich.
Um mich zu beruhigen, atme ich tief durch. Vermutlich habe ich mir das nur eingebildet oder jemand hat sich einen Scherz mit mir erlaubt. Was auch immer zutrifft, ich habe kein Interesse daran, es herauszufinden.
Als ich wenige Minuten später meinen Schlüssel herauskrame und die Haustür aufschließe, zittern meine Finger noch immer bei jeder Bewegung. Ich durchquere das Treppenhaus und schließe die Tür zu Dads und meiner Wohnung auf, bevor ich eintrete. Auf leisen Sohlen schleiche ich durch den Flur. Das Licht ist ausgeschaltet, ein gutes Zeichen. Erleichterung durchflutet mich augenblicklich.
Wenn ich Glück habe, schläft mein Vater schon und ich komme ohne Standpauke in mein Zimmer. Dass diese dann morgen nachgeholt wird, verdränge ich für den Moment.
Die Tür zum Wohnzimmer steht einen Spalt offen und gedimmtes Licht kommt mir entgegen. Ebenso wie ein leises, aber doch gut hörbares Schnarchen.
Behutsam drücke ich die Tür auf und halte für einen Augenblick inne. Auf dem Sofa in einer halb sitzenden, halb liegenden Position schläft mein Vater, den Kopf an die Rücklehne gelehnt.
Das dunkle Haar liegt ihm in der Stirn und verdeckt seine Augen fast vollständig, während sein Gesicht von einer Stehlampe in der Ecke des Raums beleuchtet wird. Genauso wie ein kuppelförmiges Behältnis auf dem Tisch, das ich auf den zweiten Blick als Kuchenglocke identifiziere. Daneben stehen zwei Kuchenteller samt Besteck, alles sauber und ordentlich gestapelt.
Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Seit Jahren habe ich meinen Geburtstag nicht mehr gefeiert, weder mit Freunden noch mit meinem Vater. Er … er hat nicht einmal erwähnt, dass er etwas für meinen Achtzehnten geplant hat. Hätte ich es gewusst, wäre ich natürlich zu Hause geblieben, doch … das bin ich nicht. Habe nicht einen müden Gedanken daran verschwendet, er könnte vielleicht etwas vorbereitet haben. Stattdessen war ich an dem einen Ort, den er mir streng verboten hat, und bin nicht einmal rechtzeitig zu Hause … Er wird verdammt wütend auf mich sein und ich habe es verdient.
Vorsichtig tapse ich in den Raum, an Tisch und Sofa vorbei, und nehme eine von den dünnen Wolldecken, die immer auf dem Sessel bereitliegen. Ich falte sie auseinander und drapiere sie über meinem Vater, damit er nicht friert. Der kalifornische Sommer ist zwar warm, doch ein Temperatursturz in der Nacht nichts Ungewöhnliches. Anschließend schalte ich die Lampe aus und der Raum versinkt in angenehmer Dunkelheit.
Vorsichtig schleiche ich wieder raus und steuere mein Zimmer an. Erst als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, erlaube ich mir durchzuatmen. Während ich den Raum durchquere, um das Fenster zu öffnen und die stickige Luft zu vertreiben, gleiten meine Gedanken zurück zu der Stimme, die nach mir gerufen hat.
Ich versuche mich an ihren Klang zu erinnern oder daran, ob ich sie schon einmal gehört habe, aber da ist nichts. Sie ist mir vollkommen unbekannt.
Vermutlich habe ich mich wirklich einfach geirrt oder die pralle Sonne, der ich den ganzen Tag ausgesetzt war, hat mir nicht gutgetan. Eins von beiden wird es wohl sein. Am besten lege ich mich einfach hin und vergesse das Ganze.
Ja, das klingt gut.
Mit einem leisen Seufzen auf den Lippen schüttle ich den Kopf, schlüpfe aus meinem Kleid, hinein in meinen Pyjama und kuschle mich in mein Bett. Erstaunlicherweise dauert es nicht lang, bis mir die Augen zufallen.
***
Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne, die unablässig durch mein offenes Fenster in den Raum fällt, weil ich vergessen habe, meine Vorhänge zuzuziehen. Stöhnend drehe ich mich auf die Seite, doch die Helligkeit macht es mir schwer, wieder einzuschlafen, weshalb ich letztendlich einen kurzen Blick auf meinen Wecker werfe und aus dem Bett klettere. Danach schlurfe ich im Halbschlaf zu meiner Kommode, um mir meine Kleidung für heute zusammenzusuchen.
Mein Blick streift das gerahmte Foto von Mom und mir, spielend am Strand. Es wurde aufgenommen, als ich gerade einmal acht Jahre alt war, etwa ein Jahr nachdem wir nach San Diego gezogen sind und nur wenige Wochen bevor Mom von einem Strandspaziergang nicht mehr zurückgekommen ist. Wir haben zusammen eine Sandburg gebaut. Sie hatte sogar einen Burggraben, den wir wegen meiner Allergie leider nicht mit Wasser auffüllen konnten, doch das hat uns nicht gestört. Wir hatten die Zeit unseres Lebens.
Alles war an diesem Tag perfekt.
Nein, eigentlich war jeder Tag mit ihr perfekt.
Bis sie verschwunden ist.
Okay, Aria, es ist viele Jahre her und du vermisst sie. Das darfst du auch, aber was hast du dir versprochen? Weiterzuleben! Also genieße den schönen sonnigen Tag und denk nicht weiter an das, was vor zehn Jahren war.
Mein innerer Monolog, wie ich ihn immer dann mit mir führe, wenn ich wieder einmal zu sehr in Erinnerungen schwelge, hilft mir dabei, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Auch heute klappt es und ich ziehe entschlossen einen kurzen Jeansrock und ein weit geschnittenes, türkisfarbenes Top mit weißem Schriftzug aus der Kommode und lege beides auf meinem Bett bereit, bevor ich mich lautlos ins Bad schleiche.
Langsam schließe ich die Tür hinter mir und drehe den Schlüssel im Schloss herum, bevor ich zum Waschbecken laufe und das Wasser anstelle. Gerade als ich meine Hände unter den Strahl halten will, ertönt ein »Ari, bist du das?« aus dem Flur und ich zucke vor Schreck zusammen.
Reflexartig ziehe ich meine Arme zurück und nur einen Sekundenbruchteil später durchnässt mich ein heftiger Schwall eiskalten Wassers von Kopf bis Fuß. Sofort entweicht mir ein überraschter Aufschrei und ich kneife die Augen zusammen, während immer mehr Wasser aus dem Hahn hervorbricht und in alle Richtungen schießt. Was zum Teufel …?
Kaum dass ich mich wieder gefangen habe, strecke ich meinen Arm aus und taste blind nach der Armatur, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, bevor der ganze Badezimmerboden überschwemmt ist. Endlich bekomme ich sie zu fassen und drücke den Hebel herunter. Erst dann traue ich mich meine Augen zu öffnen.
Jetzt bin ich auf jeden Fall wach.
»Aria? Alles okay? Ich habe dich schreien gehört.«
Mein erster Gedanke ist ein klares Nein, der von dem Anblick des Badezimmers weiter verstärkt wird. Der Wasserstrahl hat nicht nur alles von der Waschbeckenablage gefegt, sondern auch für eine Pfütze mitten im Raum und einen durchnässten Duschvorleger gesorgt. Wunderbar.
Noch dazu bin ich nass bis auf die Unterwäsche und traue mich nicht einmal, so in den Spiegel zu schauen. Nicht dass es gehen würde, denn tatsächlich ist auch dieser mit unzähligen Wassertropfen bedeckt, die mir den Blick auf mich selbst versperren.
»Ja, Dad«, antworte ich schließlich. »Ich habe nur kurz in der Wanne das Gleichgewicht verloren, aber es ist nichts passiert.«
Das darauffolgende Schweigen lässt mich vermuten, dass Dad über meine Worte nachdenkt, bevor er etwas erwidert. »Dann ist ja gut. Kommst du mal bitte?«
»Ähm … gleich. Ich würde mir nur gerne vorher etwas anziehen«, lasse ich ihn wissen und schaue erneut an mir herunter. Es sieht definitiv aus, als hätte ich eine unfreiwillige Dusche in meinem Pyjama hinter mir.
Dad seufzt, ist jedoch einverstanden und meine Standpauke zumindest für ein paar Minuten vertagt. Eilig schnappe ich mir zwei Handtücher. Eins lege ich über die Pfütze, um sie verschwinden zu lassen, und in das andere wickle ich mich ein, ehe ich zurück in mein Zimmer haste. Dort ziehe ich mir den nassen Schlafanzug aus, rubble mich trocken und schlüpfe in meine zuvor bereitgelegten Sachen. Das ist zumindest etwas besser.
Zurück im Badezimmer bearbeite ich mein erdbeerblondes Haar mit dem Föhn, bürste es und binde es zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. So weit, so gut.
Anschließend werfe ich einen Blick in den nun wieder trockenen Spiegel und erschrecke mich selbst. Meine Augenringe sahen nicht einmal so schlimm aus, als Pam mich auf den einundzwanzigsten Geburtstag ihrer großen Schwester geschleppt und mit mir die ganze Nacht durchgefeiert hat. Dabei habe ich doch eigentlich gut geschlafen. Na ja, wenn ich nicht anfange die Katastrophe zu beheben, werde ich damit nie fertig.
Nachdem ich mein Gesicht gewaschen und die kurzen Strähnen, die nicht bis zum Pferdeschwanz gereicht haben, zurückgesteckt habe, lege ich dezentes Make-up auf, das meine meerblauen Augen betont, und kann mich zehn Minuten später auch im Spiegel anschauen, ohne zusammenzuzucken. Zufrieden nicke ich meinem Spiegelbild zu, bevor ich mich daran erinnere, was als Nächstes auf mich wartet.
Eilig kratze ich meinen Mut zusammen und schließe die Tür auf. Sofort steigt mir ein köstlicher Duft in die Nase. Süß und warm und irgendwie so vertraut. Schlagartig hellt sich meine Stimmung auf.
»In der Küche!«, ruft mein Vater, als hätte er von dort aus gehört, dass ich fertig bin.
»Du hast Pancakes gemacht?«, frage ich fröhlich und betrete unsere Küche. Der Raum ist klein, geradezu winzig. Es ist bloß Platz für eine Küchenzeile und einen Tisch mit zwei Stühlen, einer für Dad und einer für mich. Früher hatten wir mehr Platz, doch seitdem wir vor ein paar Jahren in diese Wohnung gezogen sind, arrangieren wir uns damit. Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen, weil Dad bereits den Tisch gedeckt hat, gieße mir ein Glas Orangensaft ein und warte auf mein Frühstück.
»Ich hatte irgendwie Lust darauf und nachdem es gestern schon keine Torte gab …«, erklärt er, den Blick immer noch konzentriert auf die Pancakes gerichtet. Augenblicklich ist mein schlechtes Gewissen zurück, denn ich weiß genau, was er eigentlich hat sagen wollen. Es hat keine Torte gegeben, weil ich nicht da war. Weil ich viel zu spät nach Hause gekommen bin.
»Tut mir leid. Pam und ich haben uns einfach verquatscht.« Diese Notlüge kommt mir leicht über die Lippen, viel zu leicht, wenn ich ehrlich bin. Dabei sollte es mir schwerer fallen, meinen eigenen Vater anzulügen.
»Pam und du, ihr verquatscht euch häufig, oder?«, fragt er, während er den letzten Pancake aus der Pfanne auf den Stapel, der sich auf einem Teller neben der Herdplatte bereits gebildet hat, ablegt. Danach schaltet er den Herd aus und kommt mit dem Teller zu mir. »Bedien dich.«
Hungrig lade ich meinen Teller voll und übergieße meine Pancakes großzügig mit dem Ahornsirup, den Dad bereitgestellt hat. Währenddessen gießt mein Vater sich eine Tasse Kaffee ein und lässt sich mit dieser in der Hand ebenfalls auf seinen Stuhl fallen.
»Sie ist eben meine beste Freundin und du weißt, wie gerne sie redet«, erwidere ich. »Du hast schon geschlafen, als ich nach Hause gekommen bin und ich wollte dich nicht aufwecken.«
Ich werfe ihm ein reuevolles Lächeln gepaart mit einem unschuldigen Blick zu, dem er nie widerstehen kann. Dads Züge entspannen sich und sein Blick wird wärmer.
»Du weißt, ich sage dir nicht umsonst, du sollst vor acht zu Hause sein«, erinnert er mich, stellt die Tasse ab und packt sich ebenfalls ein paar der leckeren Pfannkuchen auf seinen Teller. »Gerade in dieser Gegend sollte ein junges Mädchen nicht so spät allein rumlaufen …«
Oh, diese Unterredung kenne ich bereits.
»Zwischen … Pams Zuhause und unserer Wohnung liegen keine fünf Gehminuten«, unterbreche ich ihn. Genauer gesagt sind es nur zwei Minuten und so schlimm, wie Dad Ocean Beach immer beschreibt, ist es hier nicht.
»Es ist mir egal, ob es fünf Minuten oder fünf Stunden sind. Ich will doch bloß nicht, dass dir etwas passiert, Arianna!« Und da ist er wieder verschwunden, dieser warmherzige Blick, der mich in Sicherheit gewogen hat.
»Mir passiert schon nichts. Ich bin hier aufgewachsen, kenne die Gegend wie meine Westentasche«, verspreche ich ihm. »Außerdem bin ich ja nicht allein. Pam und ich sind fast immer zusammen unterwegs, das weißt du doch.«
»Und wenn ihr mit eurer ganzen Klasse unterwegs wärt, Arianna.« Er seufzt, massiert sich die Schläfen und wirkt mit einem Mal um Jahre gealtert. Als er mich wieder anschaut, liegt tiefe Sorge in seinen Zügen.
»Ich lasse dir wirklich viele Freiheiten. Ich habe bloß zwei Regeln aufgestellt. Zwei. Das sind weniger, als die meisten deiner Klassenkameraden wahrscheinlich befolgen müssen. Und du schaffst es einfach nicht, dich an eine von ihnen zu halten.«
Regel Nummer eins: Gehe niemals zum Strand.
Regel Nummer zwei: Sei immer pünktlich zu Hause.
Ich bin froh, dass ich diese Regeln an nicht einmal einer Hand abzählen kann, aber das war es auch schon.
»Ach komm, Dad. Seit gestern bin ich achtzehn, also …«
»… immer noch ein Kind.«
»Volljährig, wollte ich eigentlich sagen«, korrigiere ich ihn. »Dad, wirklich. Ich habe in der Schule und meiner Freizeit einen Selbstverteidigungskurs nach dem anderen abgeschlossen. Selbst wenn mich irgendwann mal jemand angreifen und in irgendein Gebüsch zerren will, könnte ich es locker mit ihm aufnehmen.«
Mir wird nichts passieren, will ich ihm versichern, halte mich jedoch im letzten Augenblick davon ab. Seit Moms Verschwinden tut er sein Bestes, allein für mich zu sorgen und sie für mich zu ersetzen, aber niemand kann leugnen, wie sehr er sich dadurch verändert hat. Früher war er sorgloser und für jeden Spaß zu haben, heute liegt ihm mehr daran, mich in Sicherheit zu wissen. Er … er würde sich nie verzeihen, wenn mir etwas zustoßen würde, und ihn an Mom zu erinnern, macht die aktuelle Situation nicht besser.
»Außerdem …«, versuche ich die Stimmung aufzulockern, »… außerdem war gestern mein Geburtstag. Sollte ich da nicht auch etwas länger Spaß mit meinen Freunden haben dürfen?« Ich setze meinen unwiderstehlichen Ich-bin-doch-dein-kleines-Mädchen-Blick auf und weiß in dem Moment, in dem er seufzt, dass diese Runde an mich geht.
»Okay … vielleicht hast du recht. Acht Uhr ist wirklich zu früh.«
Ja!
»Ab sofort bist du um neun zu Hause«, beschließt er und obwohl ich darauf gehofft habe, dass wir diese Regel komplett streichen, damit ich bei meinen abendlichen Spaziergängen am Strand nicht auf die Zeit achten muss, bin ich froh über diese kleine Verbesserung.
»Okay.«
»Versprich es mir.«
»Ab sofort bin ich immer pünktlich um neun zu Hause«, verspreche ich ihm, bevor ich das Thema wechsle. »Also, diese Pancakes sind super. An dir ist ein großartiger Bäcker verloren gegangen!«
Erst ist es Verlegenheit, die ich in Dads Blick erkenne, aber dann wird seine Miene wieder ernst.
»Was willst du?«
Ich atme tief durch, ich habe es Pam versprochen und auch für mich wäre es einfacher, wenn er seine Meinung bezüglich der anderen Regel überdenken würde.
»Zum Strand«, wispere ich beinahe schüchtern.
»Nein. Ausgeschlossen.«
Es war einen Versuch wert, sagt eine Hälfte von mir daraufhin in meinem Kopf, während die andere noch lange nicht aufgeben will.
»Aber warum denn nicht?« Aufgebracht vierteile ich einen der Pancakes auf höchst grausame Art und Weise, bevor ich ihn verspeise.
»Weil ich derjenige bin, der dich mit Schwellungen, Rötungen und Ausschlägen in die Notaufnahme bringen und dein Gejammer ertragen darf.«
Das ist nur einmal passiert. Als ich fünf war. Kurz nach unserem Umzug an die Küste, bei meinem ersten Strandbesuch. Eine höchst schmerzhafte Art, eine Allergie zu entdecken.
»Ich bin nicht blöd, Dad«, werfe ich ihm vor. »Ich kann auf mich aufpassen. Und am Strand ist es vollkommen ungefährlich. Ich würde mich auch von dem Wasser fernhalten«, verspreche ich. »Aber das Meer immer nur von meinem Fenster aus sicherer Entfernung zu sehen …« Ich schüttle traurig den Kopf. »Du weißt, wie sehr ich es liebe. Du weißt, wie sehr Mom …«
Zu spät bemerke ich meinen Fehler.
»Deine Mutter hat hiermit nichts zu tun!«
Doch, das hat sie. Nur will Dad sich das nicht eingestehen. Sie hat das Meer geliebt. Manchmal glaube ich sogar, dass der Umzug aus dem Landesinneren ihre Idee war, um dem Ozean wieder näher zu sein. Fast täglich ist sie am Strand gewesen und obwohl Dad nicht einverstanden war, durfte ich sie begleiten. Sie war nie schwimmen. Ich habe sie nicht ein Mal im Wasser erlebt, nachdem meine Allergie diagnostiziert wurde, und bin ihr bis heute für ihre Solidarität dankbar.
»Okay.« Ich nicke kurz. »Aber du hast etwas damit zu tun. Du und ich. Ich liebe das Meer und du kannst mich nicht davon abhalten.«
»Du bist immer noch meine Tochter, also doch, das kann ich!« Dad erhebt sich von seinem Stuhl, baut sich regelrecht vor mir auf und sein strenger Blick bohrt sich geradewegs in meinen.
Wut brodelt in mir, lässt sich nicht länger im Zaum halten. »Verdammt, es ist mein Leben! Du kannst mir das nicht vorschreiben!«, speie ich ihm entgegen und springe ebenfalls auf.
»Arianna! So kannst du nicht mit mir …«
»Kann ich sehr wohl!« Um meinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, schlage ich mit der flachen Hand so heftig auf die Tischplatte, dass das Geschirr klirrt. Und nicht nur das. Mein Saft wirft auf einmal Wellen im Glas, Dads Kaffee schlägt über den Rand der Tasse und beide Getränke verteilen sich großzügig auf unserem Frühstück und dem Tisch. Das war definitiv nicht geplant, aber das fassungslose Gesicht meines Vaters ist es allemal wert.
Um meinen theatralischen Abgang perfekt zu machen, schiebe ich meinen Stuhl zur Seite, drehe mich um und steuere die Tür an. Im Gehen werfe ich ihm einen Blick über die Schulter zu. »Die Torte darfst du übrigens selbst essen. Ich werde jetzt gehen und bin pünktlich zu Hause.«
»Und wo willst du bitte hin?«, entgegnet Dad, nachdem er sich wieder gefangen hat. Und auch wenn er keine Anstalten macht, mir nachzulaufen, die Wut steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Wohin wohl?«
»Ob du es glaubst oder nicht, aber ich denke, das hattet ihr beide mal bitter nötig«, lässt Pamela mich wissen, nachdem ich sie am Strand aufgespürt und ihr eine Zusammenfassung meines Morgens gegeben habe.
»Meinst du? Du weißt, ich hasse es, mit meinem Vater zu streiten«, murmle ich und wende den Blick von ihr ab. Er gleitet geradewegs in Richtung Ozean, wo die Wellen heute stärker wirken als gestern. Irgendwie tosender, stürmischer.
»Na klar!«, bestätigt sie und knufft mich sanft in die Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Als ich mich wieder zu ihr umdrehe, fährt sie fort. »Was hättest du sonst tun sollen, Ari? Dich dein ganzes Leben lang vom Strand fernhalten, nur weil er Angst um dich hat? Weil er dir nicht zutraut auf dich selbst aufzupassen?«
»Das weiß ich doch, aber leider ist das nicht so einfach. Dad ist halt …«
»Dein Vater will dich beschützen, weil er immer noch das kleine Mädchen in dir sieht, das du einmal warst. Aber du bist jetzt erwachsen und wenn du ihm das nicht klarmachst, wird sich nie etwas ändern.«
»Schon, aber …«
»Nein, kein Aber. Ari, du hast richtig gehandelt. Gib ihm und dir selbst jetzt etwas Zeit zum Nachdenken und heute Abend vertragt ihr euch wieder. Okay?«, schlägt sie vor.
»Ich hoffe, du hast recht. Er ist echt sauer …«
»Ja, weil du seine Pancakes mit Orangensaft und Kaffee getränkt hast. Dafür hast du übrigens auf ewig meinen Respekt. Das hätte ich mich nicht getraut. Am Ende wäre der heiße Kaffee noch auf mir gelandet.« Sie hebt ihre Mundwinkel zu einem amüsierten Grinsen und Verlegenheit breitet sich in mir aus.
»Das war keine Absicht«, murmle ich und kann mir ein Kichern nicht verkneifen. »Keine Ahnung, was in die Getränke gefahren ist. So heftig habe ich nun auch wieder nicht auf den Tisch geschlagen.«
»Karma?«, lautet Pamelas Vorschlag. Dabei dreht sie ihren Oberkörper etwas zu mir und zuckt mit den Schultern. »Sei froh, dass du selbst trocken geblieben bist.«
»Dafür hat mir das Waschbecken heute früh schon eine unfreiwillige Dusche verpasst«, erwidere ich und erschaudere bei der Erinnerung. Das war echt seltsam. Flüssigkeiten mögen mich wohl heute nicht.