Jörg Maywald

Kindeswohl in der Kita

Inhalt

Einführung

1.Was ist Kindeswohl?

1.1Kindeswohl – ein unbestimmter Rechtsbegriff

1.2Kindeswohl – eine Arbeitsdefinition

1.3Was brauchen Kinder?

1.4Kindeswohl und Kindeswille

1.5Kindeswohl und Elternrecht

1.6Kindeswohl hat Vorrang: das Abwägungsgebot

1.7Gefährdung – was bedeutet das?

2.Eine kurze Geschichte der Kinderrechte

2.1Das Bild vom Kind in früheren Zeiten

2.2Die Entwicklung von Kinderrechten weltweit

2.3Die Entwicklung von Kinderrechten in Deutschland

2.4Das Recht auf gewaltfreie Erziehung – eine historische Errungenschaft

3.Was sind die rechtlichen Rahmenbedingungen?

3.1Eigene, unveräußerliche Grundrechte des Kindes: die UN-Kinderrechtskonvention

3.2Anspruch auf Schutz, Fürsorge und Beteiligung: die EU-Grundrechtecharta

3.3Elternrechte und staatliches Wächteramt: das Grundgesetz

3.4Recht auf gewaltfreie Erziehung: das Bürgerliche Gesetzbuch

3.5Gewalt gegen Kinder als Straftatbestand: das Strafgesetzbuch

3.6Aktiver Kinderschutz: das Bundeskinderschutzgesetz

3.7Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung: das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)

3.8Kinderschutz hat Vorrang vor Datenschutz

4.Formen von Kindeswohlgefährdung und wie pädagogische Fachkräfte sie frühzeitig erkennen

4.1Körperliche Misshandlung

4.2Vernachlässigung

4.3Seelische Misshandlung

4.4Sexueller Missbrauch

4.5Suchtabhängigkeit der Eltern

4.6Psychisch kranke Eltern

4.7Hochkonflikthafte Trennung der Eltern

4.8Häusliche (Partner-)Gewalt

4.9Weitere Formen von Kindeswohlgefährdung

5.Gefährdungen – Ursachen und Folgen

5.1Meist treffen mehrere Ursachen aufeinander

5.2Folgen für das Kind

6.Präventiver Kinderschutz

6.1Kinderrechtsansatz in der Arbeit mit Kindern

6.2Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern

6.3Präventive Angebote für Kinder

6.4Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte

6.5Lokale Netzwerke im Kinderschutz

7.Kindeswohlgefährdung – wie reagieren?

7.1Wie pädagogische Fachkräfte professionell intervenieren

7.2Instrumente zur Risikoeinschätzung

7.3Was die Kita tun muss

7.4Mit anderen Diensten und Einrichtungen kooperieren

7.5Gesprächsführung mit betroffenen Kindern

7.6Gesprächsführung mit Eltern

7.7Wie dokumentieren?

7.8Reflexion eigener Gewalterfahrungen

8.»Kinderschutz braucht Kinderschützer – und die notwendigen Ressourcen«

Jörg Maywald im Gespräch mit Elke Nowotny, Dipl.-Psychologin undehemalige Vorstandsvorsitzende des Kinderschutz-Zentrums Berlin e. V.

Schlusswort

Anhang

Mustervereinbarung zur Sicherstellung des Schutzauftragsgemäß § 8a Abs. 4 SGB VIII

Leitfragen zur Dokumentation einer Kindeswohlgefährdung

Adressen

Literatur & Medien-Tipps

Einführung

Kinder vor Gewalt und anderen Gefährdungen zu schützen ist das natürliche Anliegen jedes Elternteils. Die meisten Eltern wissen, dass Gewalt als Erziehungsmittel tabu ist. In der Regel ist ihnen auch bewusst, dass körperliche Bestrafungen die Seele des Kindes schädigen und zu Entwicklungsproblemen führen können. Sie nehmen sich daher vor, auch in Konflikten ihrer natürlichen Autorität und Überzeugungskraft zu vertrauen und auf Gewalt zu verzichten.

Aber nicht immer gelingt Eltern dies auch. Obwohl Kinder in Deutschland seit dem Jahr 2000 ein gesetzlich verankertes Recht auf gewaltfreie Erziehung haben, gehören Herabwürdigungen und Beschimpfungen, Schläge, mangelnde Fürsorge, sexuelle Übergriffe oder andere Formen von Gewalt, Misshandlung und Missbrauch in manchen Familien nach wie vor zum Alltag. Meist handeln die Eltern nicht aus Überzeugung, sondern aus Hilflosigkeit. Besonders in zugespitzten Konfliktsituationen und wenn sie selbst mit ihren Kräften am Ende sind, verlieren sie die Kontrolle und fügen ihrem Kind Schaden zu. Anschließend empfinden sie zumeist Schuldgefühle für ihr Verhalten. Sie machen sich große Vorwürfe und suchen nach einem Ausweg. In vielen Fällen können Beratung und Hilfe sie dabei unterstützen, einen Weg aus der Gewaltspirale zu finden. Manchmal müssen Kinder aber auch vor ihren eigenen Eltern geschützt werden.

Die Erkenntnis, dass einem Kind von seinen wichtigsten Bezugspersonen Schaden zugefügt wird, ist für pädagogische Fachkräfte nur schwer erträglich. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist gefährdet, und viele Fragen tauchen auf: Sollen wir die Eltern ansprechen? Auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt können wir das am besten tun? Wie hoch ist das Risiko weiterer Gefährdungen? Haben wir bereits etwas übersehen oder versäumt? Welche Hilfen stehen zur Verfügung? Ab wann müssen wir das Jugendamt informieren? Wie können wir das Kind schützen, ohne den Kontakt zu den Eltern aufs Spiel zu setzen?

Der Schutz der Kinder vor Gefahren für ihr Wohl gehört zu den gesetzlichen Pflichtaufgaben jeder Kindertageseinrichtung. Pädagogische Fachkräfte in Kitas und Krippen erleben die Kinder viele Stunden lang an den meisten Tagen im Jahr. Sie haben regelmäßig Kontakt zu den Eltern, mit denen sie eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft eingehen. Deshalb sind sie besonders gut geeignet, Anzeichen für eine Gefährdung bei Kindern frühzeitig zu erkennen, das Gespräch mit den Eltern zu suchen und entsprechende Hilfen anzubahnen.

Im ersten Kapitel wird der Begriff Kindeswohl erläutert. Die Grundbedürfnisse von Kindern, die Beziehung zwischen Kindeswohl und Kindeswille und das Verhältnis von Kindeswohl und Elternrechten werden erörtert. Außerdem wird der Begriff der Gefährdung definiert.

Das zweite Kapitel dieses Bandes vermittelt wichtiges Hintergrundwissen. Der bis heute anhaltende Wandel im Bild vom Kind und die Entwicklung der Kinderrechte weltweit und in Deutschland werden nachgezeichnet. Am Beispiel des Rechts von Kindern auf gewaltfreie Erziehung wird dargestellt, wie umstritten und mühevoll es gewesen ist, eine Änderung in der gesellschaftlichen Haltung Kindern gegenüber zu erreichen.

Das dritte Kapitel fasst die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen zusammen.1 Die in der UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta niedergelegten internationalen und europäischen Normen werden ebenso vorgestellt wie die für den Kinderschutz wichtigen nationalen gesetzlichen Regelungen in Grundgesetz, Bürgerlichem Gesetzbuch, Strafgesetzbuch, Bundeskinderschutzgesetz und Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Ausführlich wird der in § 8a SGB VIII festgeschriebene Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung für den Bereich der Kindertageseinrichtungen behandelt. Das Kapitel schließt mit einer Erörterung des Verhältnisses zwischen Datenschutz und Kinderschutz.

Das vierte Kapitel zeigt anhand zahlreicher Beispiele, welches die wichtigsten Formen von Kindeswohlgefährdung sind und wie pädagogische Fachkräfte sie frühzeitig erkennen. Körperliche und seelische Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch werden genauso behandelt wie Suchtabhängigkeit oder psychische Erkrankung eines Elternteils, hochkonflikthafte Trennung oder Scheidung der Eltern und häusliche (Partner-)Gewalt.

Im fünften Kapitel werden die vielfältigen Ursachen einer Kindeswohlgefährdung aufgeführt. Es werden die altersspezifischen Folgen dargestellt, die sich dadurch kurz- und langfristig in körperlicher, seelischer, kognitiver und sozialer Hinsicht für ein Kind ergeben können. Abschließend wird der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung erläutert.

Das sechste Kapitel stellt Möglichkeiten des präventiven Kinderschutzes in der Kita vor. Der Kinderrechtsansatz und die Bedeutung der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Eltern werden ebenso erläutert wie präventive Angebote für die Kinder, die Qualifizierung der Fachkräfte und die Beteiligung der Kita an lokalen Netzwerken »Kinderschutz und Frühe Hilfen«.

Im siebten Kapitel wird beschrieben, wie pädagogische Fachkräfte professionell mit Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung umgehen können, was die Kita tun muss und wie die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und Diensten funktioniert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Gesprächsführung mit betroffenen Kindern und Eltern. Außerdem werden die Anforderungen an die Dokumentation bei Kindeswohlgefährdung dargestellt. Am Ende enthält das Kapitel eine Checkliste zur Reflexion eigener Gewalterfahrungen.

Das achte Kapitel dokumentiert ein Interview mit Elke Nowotny, Psychologin und ehemalige Vorstandsvorsitzende des Kinderschutz-Zentrums Berlin, in dem aktuelle fachliche und fachpolitische Fragen des Kinderschutzes in Deutschland beantwortet werden.


1 Die rechtlichen Zusammenhänge, die in diesem Buch dargestellt werden, wurden juristisch überprüft. Der Verlag kann gleichwohl keine rechtliche Gewähr übernehmen.

In diesem Kapitel erfahren Sie

dass kein Gesetz festlegt, was genau unter dem Begriff »Kindeswohl« zu verstehen ist

dass ein am Wohl des Kindes orientiertes Handeln sich an seinen Grundrechten und Grundbedürfnissen orientiert

dass der Kindeswille ein bedeutsamer Teil des Kindeswohls ist

was unter einer Gefährdung zu verstehen ist

1.1Kindeswohl – ein
unbestimmter Rechtsbegriff

»Kindeswohl« ist nicht nur der wichtigste pädagogische Begriff , wenn es darum geht, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe auszurichten habe. Zugleich ist er die zentrale juristische Norm und der wichtigste Bezugspunkt im Bereich des Kindschafts- und Familien rechts. Gemäß § 1627 BGB sind die Eltern gehalten, die elterliche Sorge »zum Wohl des Kindes auszuüben«. In § 1697a BGB wird das Kindeswohl zum allgemeinen Prinzip familiengerichtlicher Entscheidungen erhoben. Dort heißt es: »Soweit nicht anderes bestimmt ist, trifft das Gericht (…) diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.«

Andererseits – und darin zeigt sich ein unvermeidbares Dilemma – steht an keiner Stelle irgendeines Gesetzes, was unter dem Begriff Kindeswohl eigentlich zu verstehen ist. Juristisch handelt es sich hierbei um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff , der sich einer allgemeinen Definition entzieht und daher der Interpretation im Einzelfall bedarf. (Das Gesetz selbst konkretisiert im Rahmen des § 1666 BGB den unbestimmten Rechtsbegriff durch die verschiedenen Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung.) Um eine solche auf den Einzelfall bezogene Auslegung vornehmen zu können, sind Juristinnen und Juristen regelmäßig auf außerjuristische Erkenntnisse, insbesondere aus den Medizin- und Sozialwissenschaften, angewiesen. Hier jedoch – in den Humanwissenschaften – treten ähnliche Schwierigkeiten der Definition auf. Zwar behaupten Fachleute nicht selten, im Einzelfall zu wissen, was das Beste für ein Kind sei. Vor die Aufgabegestellt, allgemeine Voraussetzungen des Kindeswohls anzugeben, müssen aber auch sie zumeist kapitulieren. Bestenfalls wird der Versuch unternommen, durch die Angabe negativer Bedingungen, unter denen das Kindeswohl auf keinen Fall gesichert ist, einen Ausweg aus der Misere zu finden.

Der Begriff »Kindeswohl« bedarf der Interpretation je nach Einzelfall

Welche Konsequenzen sind hieraus zu ziehen? Sollte das Bemühen um eine Definition des Begriffs »Kindeswohl« aufgegeben werden? Sollte zugelassen werden, dass sich jede Profession, jede Interessengruppe, letztlich jeder Einzelne eine eigene Definition zurechtlegt? Löst sich der Begriff des Kindeswohls auf in den unterschiedlichen Perspektiven der jeweils Beteiligten?

Eine starke Relativierung oder gar Aufgabe des Kindeswohl-Begriffs ist weder zu rechtfertigen noch zu verantworten. Sie wäre mit fatalen Folgen, besonders für die Kinder selbst, verbunden. Demgegenüber soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, wesentliche Elemente einer allgemeinen, universell gültigen Bestimmung des Begriffs »Kindeswohl« aufzuzeigen, eine sozialwissenschaftliche Arbeitsdefinition zu entwickeln sowie Verfahrensschritte zu benennen, deren Einhaltung eine bestmögliche Sicherung des Kindeswohls ermöglicht.

1.2Kindeswohl – eine Arbeitsdefinition

Kindeswohl ist der Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt

Der Kindeswohl-Begriff ist der Schlüsselbegriff im Spannungsfeld von Elternrecht und staatlichem Wächteramt sowie das zentrale Instrument zur Auslegung von Kindesinteressen. Eine nähere begriffliche Bestimmung muss daher so präzise und trennscharf wie möglich und zugleich ausreichend flexibel sein, um der Kontextgebundenheit und Komplexität jedes Einzelfalls zu genügen.

Die folgenden vier Elemente sollten Bestandteil einer Definition sein:

Orientierung an den Grundrechten aller Kinder als normative Bezugspunkte für das, was jedem Kind zusteht, auch wenn unvermeidbar ist, dass die in den Kinderrechten enthaltenen Versprechen immer nur annäherungsweise eingelöst werden (können)

Orientierung an den Grundbedürfnissen von Kindern als Beschreibungen dessen, was für eine normale kindliche Entwicklung im Sinne anerkannter Standards unabdingbar ist

Gebot der Abwägung als Ausdruck der Erkenntnis, dass Kinder betreffende Entscheidungen prinzipiell mit Risiken behaftet sind und daher versucht werden muss, die für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative zu wählen

Prozessorientierung als Hinweis auf die Tatsache, dass Kinder betreffende Entscheidungen aufgrund ihrer starken Kontextabhängigkeit einer laufenden Überprüfung und gegebenenfalls Revision bedürfen

Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige, welches die an den Grundrechten und Grundbedürfnissen von Kindern orientierte, für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt.

1.3Was brauchen Kinder?

Für die Bestimmung des Kindeswohls ist neben dem normativen Bezug auf die grundlegenden Rechte von Kindern (vgl. Kapitel 3) eine Orientierung an den grundlegenden kindlichen Bedürfnissen (Basic Needs) notwendig.

Eine Definition von Kindeswohl muss sich an den grundlegenden Rechten und Bedürfnissen von Kindern orientieren

Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow entwickelte 1958 das Modell einer Bedürfnishierarchie, das zumeist in Form einer Bedürfnispyramide bekannt wurde. Das Modell unterscheidet fünf Stufen, darunter (von unten nach oben): 1. die körperlichen Grundbedürfnisse wie Atmung, Wärme, Nahrung, Schlaf und Sexualität, 2. das Bedürfnis nach ausreichender Sicherheit (u. a. körperliche Unversehrtheit, Gesundheit, ethische bzw. religiöse Orientierungen, Gesetze und Riten sowie Lebensplanung), 3. das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen (u. a. im Rahmen von Familie, Partnerschaft, Freundeskreis, Nachbarschaft und gesellschaftlichen Kontakten), 4. das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung (u. a. durch Status, Wohlstand, Geld, Macht, Auszeichnungen) sowie 5. das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (u. a. durch individuelle Talententfaltung, Altruismus, künstlerische Betätigung oder Welterklärung). Maslow zufolge versucht der Mensch zunächst, die Bedürfnisse der unteren Stufen zu befriedigen, bevor die nächsten Stufen für ihn Bedeutung erlangen. Eine solche hierarchisierte Auflistung der Bedürfnisse ist allerdings unter kinderrechtlichen Gesichtspunkten kritisch zu sehen, weil dadurch nahegelegt wird, dass bestimmte Bedürfnisse weniger wichtig seien als andere.

Ein weiterer Versuch einer Konkretisierung spezifisch kindlicher Bedürfnisse ist in der Kindeswohl-Trilogie des interdisziplinären Autoren-Trios Joseph Goldstein, Anna Freud und Albert Solnit (1974, 1982, 1988) zu finden. Zu den grundlegenden Bedürfnissen rechnen sie Nahrung, Schutz und Pflege, intellektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt. Außerdem brauche das Kind Menschen, die seine positiven Gefühle empfangen und erwidern und sich seine negativen Äußerungen und Hassregungen gefallen lassen. Sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit im späteren Leben seien abhängig von seiner Stellung innerhalb der Familie, d. h. von dem Gefühl, geschätzt, anerkannt und als vollwertiges Familienmitglied betrachtet zu werden.

Von dem Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert stammt das Konzept, die in der UN-Kinderrechtskonvention formulierten Normen in sechs große Bedürfnisbereiche zu übersetzen und die negativen Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Hierzu gehören:

Liebe, Akzeptanz und Zuwendung: Der Mangel an emotionaler Zuwendung kann zu schweren körperlichen und psychischen Deprivationsfolgen bis hin zu psychosozialem Minderwuchs und »failure to thrive« (nicht organisch bedingten Gedeihstörungen) führen.

Stabile Bindungen: Bindungsstörungen zeigen sich bei kleinen Kindern zunächst in Auffälligkeiten der Nähe-Distanz-Regulierung und können später zu massiven Bindungsstörungen führen.

Ernährung und Versorgung: Als Folgen einer Mangel- oder Fehlernährung treten Hunger, Gedeihstörungen und langfristig körperliche sowie kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen auf.

Gesundheit: Mängel im Bereich der Gesundheitsfürsorge führen zu vermeidbaren Erkrankungen mit unnötig schwerem Verlauf, zum Beispiel infolge von Impfmängeln, Defektheilungen etc.

Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung: Psychisch können diese Belastungen zu Anpassungs- bzw. posttraumatischen Störungen führen, die durch eine Fülle von Symptomen und teilweise langfristige Erkrankungsverläufe gekennzeichnet sind.

Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung: Mängel in diesen Bereichen führen zu Entwicklungsrückständen bis hin zu Pseudodebilität (Fegert 1999, S. 326).

Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern

Ein weiterer Vorschlag, einen Katalog von kindlichen Grundbedürfnissen zu definieren, stammt von dem amerikanischen Kinderarzt T. Berry Brazelton und dem Kinderpsychiater Stanley I. Greenspan (2008). In ihrem Buch »Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern« kommen sie zu folgender Auflistung (Erläuterungen von Resch & Lehmkuhl 2008):

Das Bedürfnis nach beständigen, liebevollen Beziehungen: Damit Kinder Vertrauen undMitgefühl entwickeln können, benötigen sie eine einfühlsame und fürsorgliche Betreuung. Jedes Kind braucht mindestens eine erwachsene Person – besser zwei oder drei –, zu der es gehört und die das Kind so annimmt, wie es ist. Für Eltern ist ihr Kind etwas ganz Besonderes. Ihre liebevolle Zuwendung fördert Warmherzigkeit und Wohlbehagen. Sichere und einfühlsame Beziehungen ermöglichen dem Kind, seine eigenen Gefühle in Worte zu fassen und eigenständige Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen aufzunehmen. Zudem bilden sie die Grundlage nicht nur der meisten intellektuellen Fähigkeiten des Kindes, sondern auch für Kreativität und die Fähigkeit zu abstraktem Denken. Auch das moralische Empfinden für das, was richtig und was falsch ist, bildet sich vor dem Hintergrund früher emotionaler Erfahrungen heraus.

Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit: Von Geburt an brauchenKinder eine gesunde Ernährung und angemessene Gesundheitsfürsorge. Dazu gehören ausreichend Ruhe, aber auch Bewegung, medizinische Vorsorge (Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Zahnpflege) und die fachgerechte Behandlung auftretender Krankheiten. Gewalt in jeder Form ist als Erziehungsmittel tabu. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen gerade durch die Personen, die dem Kind nahestehen, sind mit nachhaltigen Schäden für Körper und Seele des Kindes verbunden.

Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen: Jedes Kind ist einzigartig und will mit seinen Eigenarten akzeptiert und wertgeschätzt werden. Kinder kommen nicht nur mit unterschiedlichem Aussehen und anderen körperlichen Unterschieden zur Welt. Auch angeborene Temperamentseigenschaften unterscheiden sich stark, sogar bei Kindern aus derselben Familie. Manche Kinder sind stärker zu beeindrucken als andere, regen sich schneller auf, sind hochaktiv und finden schlechter wieder zur Ruhe zurück. Andere dagegen sind insgesamt passiver, reagieren gelassen und verhalten sich eher introvertiert. Kinder wollen in ihren individuellen Gefühlen bestätigt werden. Sie wollen, dass ihre Talente und Fertigkeiten gefördert und nicht für zu hochgesteckte Entwicklungsziele missbraucht werden. Aber auch wenn Talente und Begabungen nicht erkannt werden, kann dies beim Kind zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen. Je besser es gelingt, den Kindern diejenigen Erfahrungen zu bieten, die ihren besonderen Eigenschaften entgegenkommen, desto größer ist die Chance, dass sie zu körperlich, seelisch und geistig gesunden Menschen heranwachsen.

Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen: Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklung unterschiedliche Entwicklungsphasen und -aufgaben bewältigen. In einer bestimmten Phase lernen sie zum Beispiel, Anteil nehmende und einfühlsame Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, während sie in einem anderen Stadium zu kreativem und logischem Denken vordringen. In jeder Entwicklungsphase sind altersgerechte Erfahrungen notwendig. Kinder meistern Entwicklungsaufgaben in sehr unterschiedlichem Tempo. Der Versuch, das Kind anzutreiben, kann die Entwicklung insgesamt hemmen. Wenn Kinder zu früh in erwachsene Verantwortlichkeiten gedrängt werden, können sie nachhaltig Schaden nehmen. Deshalb sollten Kinder nicht zur verantwortlichen Erziehung von Geschwistern missbraucht oder zur Versorgung von Erwachsenen herangezogen werden. Auch übermäßige Behütung und Verwöhnung kann Kindern Schaden zufügen. Stolpersteine müssen von ihnen in einem geschützten Rahmen selbstständig überwunden werden. Wenn wohlmeinende Erwachsene diese immer wieder aus dem Weg räumen, unterschätzen sie die Fähigkeit der Kinder, sie selbst überwinden zu können. Dies führt zu Demütigung und Selbstunterschätzung beim Kind.

Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen: Damit Kinder Freiräume erobern und sich gefahrlos entwickeln können, brauchen sie sinnvolle Begrenzungen und Regeln. Wohlwollende erzieherische Grenzsetzung fordert die Kinder auf liebevolle Weise und fördert bei ihnen die Entwicklung innerer Strukturen. Grenzen sollten auf Zuwendung und Fürsorge, nicht auf Angst und Strafe aufbauen. Denn mit dem Wunsch des Kindes, den Menschen, die es liebt, Freude zu bereiten, gelingt ihm Schritt für Schritt die Verinnerlichung von Grenzen, die es als notwendig zu akzeptieren lernt. Schläge und andere Formen von Gewalt oder Erniedrigung sind als Maßnahmen der Grenzsetzung nicht akzeptabel und gesetzlich verboten. Kinder zu erziehen bedeutet nicht, sie für ihr Fehlverhalten zu bestrafen, sondern ihnen die Anerkennung von Regeln und Grenzen zu erleichtern. Kinder leiden auch, wenn die Grenzsetzung unzureichend ist. Beim Kind entstehen dadurch unrealistische Erwartungen, die schließlich über das Scheitern an der Wirklichkeit zu Frustration, Enttäuschung und Selbstabwertung führen. Die liebevolle Grenzsetzung bietet nach außen hin Schutz und Geborgenheit, das Kind erlebt Halt und Sicherheit. Die Grenze bietet auch Hindernis und Widerstand und kann zur Herausforderung werden. So kann das Kind eigene Willenskundgebungen zur Auseinandersetzung mit Regeln und Rollen auf gefahrlose Weise nutzen. Mit liebevollen Bezugspersonen wird um die Grenzen gerungen, Argumentieren und Durchsetzen werden geübt. Schritt für Schritt gelingt es dem Kind, sich gegenüber den Eltern Spielräume und Grenzverschiebungen zu erarbeiten. Der durch Grenzen abgesteckte Erfahrungsraum wird überschaubar, bietet Anregung und lässt der Neugier gefahrlos freien Lauf.

Das Bedürfnis nach stabilen und unterstützenden Gemeinschaften: Mit zunehmendem Alter gewinnt die Gruppe der Gleichaltrigen immer mehr an Bedeutung für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen. Die Entwicklung von Freundschaften ist eine wichtige Basis für das soziale Lernen. Soziale Kontakte, Einladungen zu anderen Kindern, Übernachtungen außerhalb des Elternhauses stellen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten dar. Kinder und Jugendliche lernen, sich selbst besser einzuschätzen und zu behaupten, Kompromisse einzugehen, auf andere Rücksicht zu nehmen und Freundschaft und Partnerschaft zu leben. Dies alles trägt zur Entwicklung sozialer Verantwortlichkeit bei, die wiederum die Voraussetzung für eigene spätere Elternschaft darstellt. Negative Einflüsse vonseiten der Gleichaltrigengruppe, häufige Wechsel von Kindertageseinrichtung und Schule oder wiederholte Verluste von Freundschaften können demgegenüber nachhaltige Wirkungen auf Selbstwert und Identität ausüben. Die Eltern, aber auch andere Erwachsene im Umfeld des Kindes sind aufgerufen, faire, transparente und respektvolle nachbarschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Die Erwachsenen müssen dafür sorgen, dass Kinder unter angemessenen Rahmenbedingungen einander begegnen, miteinander spielen, lernen und arbeiten können. Das fördert das Gefühl für Zusammengehörigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit: Das siebte Grundbedürfnis von Kindern betrifft die Zukunftssicherung. Immer mehr hängt das Wohl jedes einzelnen Kindes mit dem Wohl aller Kinder dieser Welt zusammen. Die Erwachsenen gestalten die Rahmenbedingungen für die nächste Generation. Weltweite Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft tragen hier eine bisher nicht eingelöste Verantwortung. Ob Kinder und Jugendliche diese Welt als gestaltbares Ordnungsgefüge oder unheimliches Chaos erleben, wird an der Entwicklung ihrer Persönlichkeiten liegen, welche die Eltern und alle anderen Erwachsenen mit ihren je eigenen Persönlichkeiten mitzugestalten geholfen haben.

1.4Kindeswohl und Kindeswille

Ein an den Grundrechten des Kindes orientiertes Verständnis des Kindeswohls schließt die Berücksichtigung des Kindeswillens ein. Bezugspunkt dafür ist das in Art. 12 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegte Recht des Kindes auf Beteiligung an allen seine Person betreffenden Entscheidungen. Entsprechende Regelungen in der deutschen Gesetzgebung sehen eine Beteiligung des Kindes an es selbst betreffenden Angelegenheiten im Rahmen der Familie (§ 1626 Abs. 2 BGB), an Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe (§ 8 Abs. 1 SGB VIII) bzw. im Rahmen von Hilfeplanung (§ 36 Abs. 1 SGB VIII) vor. In Verfahren, die die elterliche Sorge betreffen, erfolgt die Beteiligung des Kindes durch persönliche Anhörung und / oder durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands in den dafür vorgesehenen Fällen.

§ 1626 BGB: Elterliche Sorge, Grundsätze

[1]Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).

[2]Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.

[3]Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist.

Das Recht des Kindes auf Beteiligung nach Art. 12 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention ist nicht an eine Altersgrenze gebunden und gilt für alle Kinder. Besondere Herausforderungen ergeben sich im Falle junger, der Sprache noch nicht mächtiger Kinder sowie bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen, zum Beispiel aufgrund von Krankheit, Behinderung, Migrations- oder Gewalterfahrung. Hier sind besondere (unter anderem empathische) Fähigkeiten der verantwortlichen Erwachsenen notwendig, um auch diese Kinder angemessen an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen.

Artikel 12 UN-Kinderrechtskonvention:
Berücksichtigung des Kindeswillens

[1]Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

[2]Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere die Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.