Vanille und Verwesung
Drei Geschichten, dreimal Horror!
Kind des Waldes: Fünf Jugendliche unternehmen einen Trip in den Grubinger Forst. Mit bösen Folgen.
Gib ihn zurück!: Kinder verschwinden spurlos. Erwachsene ersticken auf mysteriöse Weise. Streift ein Dämon durch Grubingen?
Der weiße Raum: Theo Lehmann hat einen Unfall. Kurz darauf erwacht er in einem scheinbar endlosen, weißen Raum. Und er ist nicht allein.
Vanille und Verwesung ist ein Roman voller Schrecken. Er vereint drei Horror-Novellen, inklusive der bislang unveröffentlichten Geschichte Der weiße Raum.
Betritt Grubingen–wenn du dich traust!
Nicole Siemer
Nicole Siemer erblickte 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) das Licht der Welt. Seit dem Abschluss ihres Belletristik-Fernstudiums an der Schule des Schreibens 2017 widmet sie sich unheimlichen Geschichten mit philosophischem Einschlag. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten und stellt sie auf ihrem Blog kostenlos zur Verfügung: https://dreiwoerter.de
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Nicole Siemer
Lektorat: Sabine Korsukéwitz
Simona Turini
https://www.lektorat-turini.de/
Cover: Florin Sayer-Gabor
https://100covers4you.com/
Illustrationen: Pixaby
Kind des Waldes: Mit einem Zitat-Ausschnitt von James Orchard Halliwells »There
was a crookedman«
gesetzt aus der EB Garamond
erstellt mit SPBuchsatz
BoD – Books on Demand GmbH
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753488363
Für alle Gruselwusel da draußen
Dieses Buch enthält Tigger-Hinweise.
Siehe auch:
Kind des Waldes https://dreiwoerter.de/2020/07/24/trigger-hinweise-kind-des-waldes/
Gib ihn zurück! https://dreiwoerter.de/2020/09/08/trigger-hinweise-gib-ihn-zurueck/
Der weiße Raum https://dreiwoerter.de/2021/02/20/trigger-hinweise-der-weisse-raum/
schön, dass du da bist und dich dazu entschieden hast,
Vanille und Verwesung in deinem Bücherregal
und/oder deinem E-Book-Reader einziehen zu lassen.
Dieser handliche Sammelband vereint drei
Horror-Novellen:
Kind des Waldes, Gib ihn zurück! und Der weiße Raum.
Vor jeder Geschichte werde ich dir ein bisschen dazu
erzählen.
Sei vorsichtig, wenn du die Stadtgrenze zu Grubingen
übertrittst. Du kommst leicht hinein, aber möglicherweise
nie wieder hinaus ...
Freudiges Gruselwuseln!
Deine Nicole
Diese Novelle war mein erster Versuch, einen Roman zu schreiben. Er entstand während meines Belletristik Fernstudiums und wurde dort auch lektoriert. Ich gehöre zu den wenigen Autor:innen, deren Texte eher zu kurz sind als zu lang, daher hat sich schnell herausgestellt, dass Kind des Waldes eine Novelle wird und kein Roman.
Nach der Fertigstellung lag das Manuskript lange Zeit in meiner Schublade. Ich habe Todesamen geschrieben und veröffentlicht und danach Akuma.
Kind des Waldes hat gewartet, bis ich mich entschieden habe, es als E-Book-Only zu veröffentlichen. Und jetzt ist mein wahres Debüt Teil dieses Sammelbandes.
Die Idee dazu kam mir während eines Waldspazierganges. Auf einem Baumstumpf lag ein Kinderschuh. Wem mochte er gehören? Wieso lag ein einzelner Schuh hier im Wald? Und was wäre, wenn sich die Natur in Form eines Kindes zeigen würde? In der Form der verkörperten Unschuld?
Eine Novelle war geboren
Die Natur ist ein Kind. Es streckt die Arme aus, schenkt Frieden und Leben. Und im selben Atemzug reißt es einem Insekt die Flügel aus – und lacht.
* * *
Im Sommer 2015 brach ich gemeinsam mit vier Freunden zu einer Gruseltour auf. Die Route umfasste ganz Deutschland und sollte sich über zwei Wochen erstrecken. Zelten, mangelnde Körperpflege und Spaß war unsere Devise.
Wenn man genügend Zeit mit denselben Freunden verbringt, mit ihnen Geheimnisse teilt und Vorlieben, werden diese Menschen zur Familie. Und auch wenn es heißt, Blut sei dicker als Wasser, weiß ich, eine Familie muss nicht aus Verwandten bestehen. Uns verband eine unsichtbare Macht. Maren, Patrik, Viktor, Naomi und mich. Wir alle wollten diese Tour, wollten raus aus dem alltäglichen Studentenleben, raus aus der Langeweile, hinein ins unheimliche Abenteuer.
Ein Abenteuer, das wir schon bald bereuen sollten.
Die ersten 12 Tage der Gruseltour waren unspektakulär verlaufen. Uns waren weder Geister erschienen noch Hexen oder die Alpmutter. Das letzte Ziel unserer Route war ein Wald in Grubingen. Einer kleinen Stadt in Niedersachsen, am Rande des Emslandes.
Grubingen – eine seltsame Stadt. Die Bewohner wirkten distanziert und eingeschworen. Fast als duldeten sie keine Besucher von außerhalb. Zwei Mal hielt unser Wohnmobil – Patriks Vater hatte es uns überlassen »Der Alte bemerkt in seinem Suff gar nicht, dass der Wagen fehlt.« – in der Stadt. Einmal, um etwas Grillfleisch und Cola zu kaufen und ein weiteres Mal, um zu tanken. Die Einheimischen grüßten mit einem scheinbar freundlichen »Moin!«, um uns anschließend argwöhnisch zu mustern.
Als Patrik in der Tankstelle bezahlte, unterhielt ich mich mit einer jungen Mutter. Sie trug ein luftiges Kleid mit Rosenmuster. Ihr brünettes Haar tanzte im Wind und sie wiegte ihr Baby im Kinderwagen hin und her.
»Eine Gruseltour?«, kicherte sie. »Seid ihr dafür nicht schon etwas zu alt?«
»Es ist mehr ein Campingausflug. Keiner von uns glaubt wirklich an Gespenster. Und um ehrlich zu sein, ist uns weder die Weiße Frau begegnet noch wurden wir in irgendwelchen Hotelzimmern von Poltergeistern zerhackstückelt. Vielleicht haben wir hier mehr Glück.«
Die Frau schnaufte, da fing ihr Baby an zu schreien. Sie versuchte, das Kind mit einer Rassel zu beruhigen.
Ich lehnte mich über den Kinderwagen. »Darf ich?« Zwei große blaue Augen starrten mich an. »Hey Süße«, säuselte ich. Zu Kindern besaß ich einen Draht. Das Baby hörte sofort zu schreien auf. Es blickte mit seinen glänzenden Augen zu mir hoch, aus dem Mundwinkel quoll etwas Speichel.
»Ich bin Farian und wer bist du?« Vorsichtig streckte ich meine Hand in den Kinderwagen, um die Wange des Mädchens zu streicheln. Sie gab ein gurgelndes Kichern von sich und ein ganzer Schwall Speichel floss über ihre Wange.
»Bibi, du Ferkel!« Die junge Mutter zückte ein Taschentuch und wischte ihrem Kind den Mund ab. »Entschuldige bitte.«
»Das macht nichts. Sie ist richtig drollig.«
»Ja, meine kleine Rabaukin.«
Wir kicherten. Dann fragte ich: »Können Sie mir sagen, wie meine Freunde und ich auf dem schnellsten Weg zum Grubinger Stadtforst gelangen?«
Das Lächeln erstarb. Die junge Mutter rieb weiter über den Mund des Kindes, obwohl er bereits sauber war.
Irgendetwas an der Reaktion der Frau beunruhigte mich. Es war, als wäre mit einem Mal alles Leben aus ihr gewichen. Übrig blieb eine Hülle, die im steten Rhythmus den Kinderwagen vor und zurück wiegte. Vor. Zurück. Vor. Zurück.
»Farian! Wo bleibst du denn?«, rief Viktor und riss mich aus meiner Erstarrung.
Er und die anderen winkten mir vom Wohnmobil aus zu. Sie alle waren schon wieder aufbruchsbereit. Ich gab ihnen ein Zeichen, ich komme gleich, und wandte mich erneut der jungen Mutter zu.
»Entschuldigung. Ich wollte nicht …«
Vor. Zurück. Vor. Zurück.
Die Räder des Kinderwagens quietschten; es erinnerte an das Geräusch der Kellertür. Ein Geräusch, das mich in vielen Träumen heimgesucht hatte, als ich ein kleiner Junge gewesen war. Ohne mich zu verabschieden, lief ich zum Wohnmobil zurück.
»Scharfes Gerät, Farian«, sagte Patrik, als ich mich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
Ich hörte ihn kaum, beobachtete stattdessen, wie der Kinderwagen weiter vor- und zurückgeschoben wurde. Diese Frau ist ein verdammter Zombie. Die ganze gottverdammte Stadt besteht aus Zombies.
Mit einem Mal verging mir die Lust auf eine Wandertour. Ich wollte nicht in diesen Wald.
»Ihr Kerle denkt wirklich immer nur an das Eine«, sagte Naomi.
»Du etwa nicht?« Viktor zog sie auf seinen Schoß. Sie schrie auf, gefolgt von Kichern und einer wilden Knutscherei. Ich stand noch immer neben mir.
»Ist alles in Ordnung, Farian?«
Ich hatte nicht bemerkt, wie Maren sich hinter mich gestellt hatte.
Nun betrachtete sie mich mit einem sorgenvollen Blick. Das war typisch für sie. In gewisser Weise ähnelten wir uns: Zwei stille Geschöpfe in einer lauten Welt. Doch im Gegensatz zu mir ging Maren mit geschärften Sinnen umher. Ich dagegen war ein Träumer, das Pferd, das eine Kutsche zog, den Blick zur Seite durch Scheuklappen versperrt.
»Er denkt sicher an das kleine Schnittchen von vorhin«, sagte Patrik. Wie recht er hatte. »Und was er gerne mit ihr anstellen würde. Bestimmt …«
»Ich bin nur müde«, sagte ich zu Maren, ohne auf Patrik zu achten. »So langsam habe ich genug vom Zelten und billigen Absteigen und läge lieber in meinem Bett.«
»Das möchte ich wetten«, warf Patrik ein und brüllte vor Lachen.
Maren verpasste ihm einen Schlag in den Nacken, wodurch er abrupt verstummte. »Du musst ja nicht gleich zu Xena, der Kriegerprinzessin mutieren …«, murmelte er und konzentrierte sich auf die Straße.
Maren wandte sich wieder mir zu. »Sicher? Du siehst schon selbst wie ein Gespenst aus, so blass bist du.«
»Dannwerdendie anderen wenigstens nicht enttäuscht, stimmt’s?« Ich grinste.
»Das war die Frau, nicht wahr?«
Die Frage traf mich unvorbereitet und warf mich aus der Bahn.
»Irgendwas an ihr hat dir Angst eingejagt.« Maren flüsterte nun. »Diese Stadt ist unheimlich«, fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und schlang die Arme um den Körper, während sie durch die Frontscheibe starrte.
In der Ferne ragten die Baumkronen des Grubinger Forstes über die Dächer der Stadt empor wie Riesen. Die Sonne verwandelte den Asphalt in einen öligen Film. Es wirkte wie ein ganz normaler Sommertag, an dem kein Lüftchen wehte. Vereinzelte Bäume standen regungslos am Straßenrand, fast so, als stünden sie Spalier. Als hießen sie uns willkommen. Tretet näher, Fremde. Kommt nur, kommt nur.
* * *
»Wo soll ich parken?«, fragte Patrik. Der Asphalt war durch sandigen Waldboden abgelöst worden, über den wir rollten. Ein Geräusch wie Zähneknirschen.
»Keine Ahnung«, antwortete ich und studierte die Reiseroute. »In der Stadt scheint es nur wenige Parkplätze zu geben, zumindest konnte ich im Internet nichts Genaueres finden.«
»Ein Wald ohne Parkplatz? Wandern wohl nicht gerne, die Grubinger.«
»Scheint so.«
Die Sonne wurde mittlerweile von den hohen Baumkronen der Waldkiefern verdeckt. Der Gedanke an die Dunkelheit behagte mir nicht.
Sei nicht so ein Feigling!, schimpfte ich.
Die Dunkelheit hatte mir keine Angst mehr eingejagt, seit ich eine Nacht im Keller überstanden hatte.
Diese Nacht im Grubinger Forst würde ich ebenfalls überstehen!
Patrik parkte das Wohnmobil in einer kleinen Einbuchtung. Er unterschätzte die Höhe des Wagens und kollidierte mit den Ästen einer Lerche, die über das Dach schabten. »Scheiße!«, fluchte er und schaltete den Motor aus.
Wir schnappten unsere Wanderrucksäcke, stiegen aus und sahen uns um. Nichts als Wald. Die Straße, über die wir gefahren waren, erschien mir schmaler als auf dem Weg hierher. Sie unterschied sich kaum von den Wanderpfaden, die sich in alle Richtungen ausbreiteten.
»Geiler Scheiß«, sagte Viktor. »Das Ding ist riesig! Vielleicht sollten wir ein Handy mit GPS hier lassen.«
Seltsam, dachte ich. So groß hatte der Wald auf den Karten gar nicht gewirkt.
»Viktor, Viktor« sagte Patrik und hob belehrend den Finger. »In der heutigen Zeit kann man sich nicht mehr im Wald verlaufen. Überall hängen Pfeile, die dich zu kilometerlangen Wanderwegen führen. Wir suchen schließlich nicht die Blair Hexe oder?«
»Warum nicht?«
»Weil es sie nicht gibt?«
»Wirklich nicht?«, warf Naomi ein und spielte mit einer Haarsträhne. »Ich dachte immer, die ist echt.«
Patrik und ich hoben je eine Augenbraue, Viktor lachte.
»Aber mal im Ernst, Farian«, sagte er, »welches Ding suchen wir denn nun hier?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gab ich zu und blickte in die überraschten Gesichter meiner Freunde.
»Über Grubingen bin ich zufällig gestolpert. Um diesen Wald ranken sich Mythen und Geschichten und die Einwohner meiden ihn. Das wollte ich genauer herausfinden. War ziemlich schwer, denn niemand spricht darüber. Alles was ich weiß, ist, dass jeder der den Grubinger Forst betritt, nie lange darin bleibt. Außerdem sollen Leute verschwunden sein.«
Einige Augenblicke sagte niemand etwas, bis Patrik das Schweigen brach: »Hat also doch Blair-Flair!«
Ich grinste. »Södele, wo fangen wir an?«
Naomi kniff Viktor in den Po und rannte wild lachend zum nächsten Pfad.
»Na warte!«, rief er und folgte ihr.
Patrik schlenderte hinterher.
»Gut«, sagte ich. »Dann gehen wir wohl da lang.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Maren lange Zeit nicht mehr gesprochen hatte. Ich sah sie in der Tür des Wohnmobils stehen. »Maren?«
Sie starrte in den Wald.
»Maren, was ist denn?« Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts erkennen.
Endlich löste sie sich aus ihrer Starre. »Ich dachte ich hätte …«, und lächelte mich müde an. »Ich bin wohl nur etwas aufgeregt. Gehen wir.«
Die Stille fiel mir als Erstes auf.
In Wäldern herrscht eine stete Geräuschkulisse. Wer dort hinein geht, um nichts zu hören, wird normalerweise enttäuscht. Raben krähen, Falken kreischen, Dohlen quietschen, Amseln singen. Vögel verschiedenster Art halten ihre Konferenzen in Wäldern ab. Sie spielen, sie diskutieren und sie streiten. Ein Konzert aus Vogelstimmen. Die Bäume bilden dazu die passende Dinnermusik. Das konstante Weiße Rauschen, wenn der Wind durch die Kronen streift. Manchmal hat der Wind auch Bock auf Punk und die Bäume tanzen Pogo.
Im Grubinger Forst gab es nichts dergleichen. Das einzige Geräusch war das unregelmäßige top-top-top unserer Schritte auf Sand und Wurzeln. Hier und da streifte einer von uns einen Stein oder strich im Vorbeigehen die Sträucher. Ansonsten herrschte Stille.
Beimeiner Tourplanunghatte ich mir eine Karte der Stadt runtergeladen. Sie enthielt eine Ansicht vom Grubinger Forst. Es überraschte mich nicht, dass ihre Detailgenauigkeit einer Spinatpizza glich, da ich sie auf einer Seite über Verschwörungstheorien gefunden hatte. Doch sie half mir, mich zumindest ansatzweise zurechtzufinden.
»Tu das bitte nicht!«
Ich drehte mich zu Maren um. Sie sah wütend aus.
»Du bist auf einen Ableger getrampelt. Bitte pass ein wenig auf, wo du hintrittst.«
»Meinst du, sonst tritt mir Papa Baum gleich in den Allerwertesten?«
Der Witz ging nach hinten los. Sie sah mich mit ausdrucksloser Miene an. Maren, unsere Waldhirtin. Einmal hatte sie mir erzählt, wie sie sich in der Grundschule schützend vor einen Baum gestellt hatte, dem ein Ast gebrochen war und den die Kinder als eine Art Schaukel benutzt hatten. Sie zog Natur und Tier jederzeit den Menschen vor. Ich hielt das für verrückt, aber auch irgendwie niedlich. Letztlich besaß jede Person ihre Eigenheiten, ich ebenso. »Ich passe auf, okay? Beruhigt dich das?«
»Ja.«
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und wir gingen weiter.
Naomi sprintete an mir vorbei. Im Glanz der untergehenden Sonne sah sie wie eine Waldnymphe aus, mit ihrem bauchfreien Top und den langen Haaren. Viktor folgte ihr, holte sie ein und umarmte sie von hinten.
»Oh, kommt schon, nehmt euch einen Fuchsbau, wenn ihr etwas alleine sein wollt«, stöhnte Patrik. Er saß auf einem Baumstumpf und drehte sich einen Joint.
»Es sind nicht alle nur zum Kiffen hier«, sagte Naomi.
»Für Sexspielchen auch nicht«, gab Patrik zurück.
Ich drehte mich weg und suchte einen Platz für unser Nachtlager. Direkt vor uns erstreckte sich eine Lichtung. Sie bot genügend Schutz vor Tieren – in der Nacht würden sicher welche erscheinen – und ausreichend Sicht auf den Sternenhimmel. Sollte es uns nicht gelingen, das Lagerfeuer zu entfachen, blieben zumindest Mond und Sterne.
»Farian!«, rief Maren, ich wirbelte herum.
Sie kniete vor mir und richtete einen Ableger auf, den ich umgetreten hatte.
»Entschuldige …«
»Du musst wirklich besser aufpassen!«
»Ich hab ein Nachtlager gefunden«, versuchte ich sie zu beruhigen, doch trotz meines verlegenen Kicherns, starrte sie mich wütend an.
»Du gehst zu achtlos mit der Natur um, Farian. Pass auf, dass sie sich nicht revanchiert.«
* * *
Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, das Zelt aufzubauen. Eine Aufgabe, die keinem gefiel.
Viktor hatte ein Hauszelt beigesteuert. Darin gab es genügend Platz für uns alle und sogar eine Trapezapsis für das Gepäck.
Am Anfang der Tour hatte sich das als äußerst nützlich erwiesen, mittlerweile waren unsere Rucksäcke spärlich bestückt und die Dreck wäsche moderte im Wohnmobil vor sich hin. Wir hätten genauso gut im Freien kampieren und uns das Zeltaufbauen sparen können, doch der Sentimentalität wegen stellten wir es auf.
Danach gingen Viktor und Naomi ihren Trieben nach und verschwanden im Wald. Patrik bastelte einen Joint, der eine beachtliche Größe annahm. Maren und ich suchten Feuerholz.
Ich ließ sie vorangehen. Sie besaß den besseren Blick. Auf mich machte die Natur in etwa so viel Eindruck wie ein Mensch auf eine Katze: Ich weiß, sie ist da, aber ignoriere sie. Wenn Leute von der heilenden Wirkung eines Waldes auf die menschliche Seele sprachen, nickte ich und lächelte. Hinter meinen Augen ploppten jedoch lauter Fragezeichen auf. Aktuell reizte mich die Erscheinung einer durchsichtigen Gestalt mehr als der Duft von Tannen.
»Hast du bemerkt, wie still es hier ist?«, fragte Maren.
Ich blieb stehen, lauschte und tat so, als fiele die Stille mir erst jetzt auf.
»Vielleicht haben die Tiere Angst. Sie kriegen ja nicht oft Besuch«, sagte ich. Maren sollte nicht merken, dass mich dieser Ort ebenso beunruhigte wie sie.
»Irgendetwas stimmt hier nicht, Farian.«
»Ach, komm, Maren. Bei der Weißen Frau hattest du auch erst Angst und noch in derselben Nacht haben wir darüber gelacht. Es gibt keine Geister, nur deinen Verstand, der dir Dinge vorgaukelt, die nicht existieren. Das macht doch erst den Reiz aus.«
»Es stinkt.« Maren sprach mehr mit sich selbst, weniger mit mir.
»Nach Natur?«
»Nach Tod.«
Der Klang ihrer Worte ließ mich erschauern. Mischte sich unter dem Duft von Holz und Moos nicht tatsächlich etwas Modriges? Ganz schwach, aber deutlich genug, um mir den Magen zusammenzuziehen?
Ich schlug nach dem Gedanken wie nach einer Fliege. So ein Schwachsinn, vermutlich ragte in der Nähe ein toter Baumstumpf aus dem Boden. Maren würde mich noch mit ihrer Paranoia anstecken.
»Ich glaube, nach dieser Tour solltest du dir ein paar Disney-Filme reinziehen. Einfach nur, um diesen ganzen Horrorkram zu ver…«
»Was machst du da!«
Maren kreischte so laut, dass ich erschrak, mich in einer Baumwurzel verhedderte und auf dem Hintern landete. Den Zweig der Eibe, den ich während meiner Ansprache abgebrochen hatte, hielt ich in der Hand. »Sag mal, spinnst du?«, fragte ich und rieb mir das Steißbein.
Maren entriss mir den Zweig, legte ihn unter die Eibe wie ein ausgesetztes Kind vor eine Kirche. Sie streichelte kurz den Baumstamm, um sich danach mit verkniffenem Gesicht zu mir umzudrehen.
Ich rappelte mich auf und fluchte vor mich hin.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst achtsamer sein,Farian! Kapier das endlich!«
»Das war nur ein blöder Zweig, Maren. Wir brauchen doch Feuerholz, oder etwa nicht?«
»Die toten Zweige. Nicht die lebenden.«
»Du hast es heute mit dem Tod…Wo willst du hin?«
Maren stampfte davon. Die ist ja völlig durchgeknallt. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um die Wut zu vertreiben. Die Stille kehrte zurück zu mir. Hüllte mich ein, verunsicherte mich, sodass sich automatisch meine Sinne schärften. Maren war verschwunden. Warum erschien es mir dann, als wäre ich nicht allein?
Obwohl die Sonne untergegangen war und den Himmel in ein blutiges Meer verwandelt hatte, stand die Luft.Meine Shorts klebten an meiner Haut und mein T-Shirt – auf dem ein Graf Zahl Aufdruck prangte – fühlte sich an, als sei es eingelaufen.
Ich wurde beobachtet.
Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich, die Gewissheit, dass jemand dicht hinter mir stand. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse. Nichts.
»Maren?«
Niemand antwortete.
Die aufkommende Dunkelheit raubte mir die Sicht. Bäume, nichts als Bäume und Baumstümpfe, die aussahen wie lauernde Zwerge. »Maren!«, rief ich wieder. Etwas raschelte hinter mir und ich wirbelte herum. »Das ist nicht witzig, Leute!«
Stille.
»Hallo?«
Stille.
Wieder raschelte es. Jetzt links von mir. Hinzu gesellte sich noch etwas anderes: ein Lachen. Kurz und hell wie das Kichern einer Frau. Oder eines Kindes.
Trotz der Hitze überkam mich ein neuerlicher Schauder. Dann entdeckte ich ihn.
An der Eibe – dem Baum, an dem ich den Zweig abgebrochen hatte – lehnte ein Junge. Ein Kind, fünf, sechs Jahre alt. Er knabberte an einem Zweig – dem Zweig – und starrte mich an. Sein blondes Haar klebte wie ein Helm am Kopf. Es war dreckig, ebenso seine Kleidung. Seine Bermudashorts entblößten Beine, die kaum dicker waren als Äste. Absurderweise trug der Junge einen roten Regenmantel, der von oben bis unten zugeknöpft war. Und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob er nicht schwitzte.
Zischend sog ich Luft ein. Im Bruchteil einer Sekunde gingen mir sämtliche Horrorfilme durch den Kopf, in denen Kinder eine entscheidende Rolle spielten. Etwas an dem Blick des Jungen war mir nicht geheuer. Er starrte und starrte. In der Abenddämmerung wirkten seine Augen schwarz. Pupille und Iris miteinander zu zwei Löchern verschmolzen, so dunkel, dass selbst die Nacht vor Neid erblasste.
Ich wich zurück, strauchelte, dann landete ich erneut mit einem spitzen Aufschrei auf dem Hintern. Ein Blitz durchzuckte mein Steißbein.
Noch einmal und ich breche es mir, dachte ich, ehe mir das Kind wieder in den Sinn kam.
Ich war allein. Der Junge verschwunden. Hatte ich ihn mir nur eingebildet? Nein, das konnte nicht sein. Oder? Maren hatte mir einen Schrecken eingejagt mit ihrem Gerede über den Tod und der Belehrung, achtsamer mit der Natur umzugehen. Ich entschied mich dafür, das Kind als Halluzination abzutun, als Hirngespinst in Folge einer zweiwöchigen Geisterjagd. Dann fiel mein Blick auf die Stelle, an der Maren den Zweig gelegt hatte. Er war noch da, steckte jedoch senkrecht in der Erde, so als hätte jemand versucht, ihn wieder zum Leben zu erwecken.
Ich spürte, wie ein Schrei meine Kehle heraufkroch, und schluckte ihn hinunter. Er ließ sich nicht vertreiben, blieb stecken, fest wie ein Kloß. Ich schnappte mir so viele tote Zweige, wie ich finden konnte, und sprintete zu meinen Freunden zurück. Auf dem Weg dahin redete ich mir ein, es sei nichts passiert. Gar nichts passiert.
* * *
Patrik hockte auf seinem Baumstumpf. Von dem gewaltigen Joint war nur noch ein Stummel übriggeblieben und obwohl er bereits erloschen war, kaute Patrik weiterhin darauf herum.
Viktor und Naomi waren ebenfalls zurückgekehrt. Sie trug einen selbst geflochtenen Blumenkranz und posierte vor ihrem Handy, mit dem Viktor sie fotografierte. Es wunderte mich immer wieder, dass Naomi in die Tour eingewilligt hatte. Die ganze Zeit über hatte es nur zwei Hotels gegeben, um zu duschen. Ihr Trockenshampoo schien jedenfalls zu funktionieren.
Maren entdeckte ich nicht. Sie konnte doch nicht so dumm gewesen sein, tiefer in den Wald zu gehen? Selbst wenn es in der heutigen Zeit kaum möglich war, sich zu verlaufen, bei Nacht halfen Wanderpfeile auch nicht mehr.
Ich stapelte das Feuerholz auf, als ich eine Gestalt aus dem Zelt kriechen sah. Der schmutzige Junge war zurückgekehrt. Er machte sich an unserem Zelt zu schaffen. Gleich würde er uns aus leeren Höhlen anstarren. Anstarren, bis wir den Verstand verlören.
Ich blinzelte und erkannte, dass mir meine Augen einen Streich gespielt hatten. Nicht der Junge war aus dem Zelt gekrochen, sondern Maren. In der Hand hielt sie Fleisch, das wir uns in dem Supermarkt gekauft hatten.
Ich ging zu ihr.
»Maren, hör mal. Ich …«
»Magst du die Cola Dosen holen?«
»Sicher.«
Während ich die fünf Dosen zur Feuerstelle balancierte, hatte sich Maren bereits im Gras niedergelassen. Wie sie so dasaß, im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen, glaubte ich, sie meditierte. Das stand ihr. Ich legte die Dosen ins Gras und setzte mich neben sie. Dabei wagte ich nicht, sie anzusprechen, stattdessen betrachtete ich sie aus dem Augenwinkel. Im Glanz der Abenddämmerung besaß sie etwas Anmutiges.
»Ich wollte dich nicht anfahren«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Ertappt fuhr ich zusammen, griff nach einer Dose und studierte sie. »Ist schon okay«, antwortete ich und versuchte dabei so gleichgültig wie möglich zu klingen.
Endlich öffnete Maren die Augen und sah mich an. Alle Ausgeglichenheit war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie wirkte gehetzt und ängstlich. »Hier ist es nicht wie bei den anderen Orten. Hörst du das? Sogar die Tiere fürchten sich. Ich habe auch Angst, Farian.«
Ich schluckte.
»Jo, ihr Turteltäubchen!«
Wieder fuhr ich zusammen. Viktor klopfte mir auf die Schulter, ehe er sich neben mich plumpsen ließ. »Ganz schön schreckhaft heute, was?«
Ein letzter flüchtiger Blick zu Maren. Der gehetzte Ausdruck war verschwunden.
Patrik und Naomi setzten sich ebenfalls zu uns.
Das blutrote Licht der untergehenden Sonne war von Schwärze verschluckt worden. Kurz dachte ich an die Augen des Jungen und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Es gelang uns, ein Feuer zu entzünden. Patrik verteilte das Grillfleisch, Viktor reichte uns fünf Zweige. Über dem knisternden Lagerfeuer brieten wir Hähnchengeschnetzeltes, Minutensteaks und Schaschlikspieße; tranken unsere Cola Dosen leer und resümierten die letzten Tage. Zwar hatte es keine Geistererscheinungen gegeben, doch wir hatten jede Sekunde unserer Tour genossen. Es war schön gewesen, dem Alltag zu entfliehen, mit den besten Freunden unterwegs zu sein und ungebunden ganz Deutschland zu durchqueren. Der Grusel war das i-Tüpfelchen. Das eigentliche Ziel war das Gefühl der Freiheit.
* * *
Wir alle merkten, dass der Grubinger Stadtforst seltsam still war. Doch anfangs sprach niemand darüber. Es war, als hinderte uns etwas daran, aber wir alle dachten daran. Die Gedanken schwebten über uns wie eine unheilvolle Wolke.
Das Lagerfeuer beruhigte mich. Sogar Maren kam immer mehr aus sich heraus. Sie lachte wieder. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft. Für eine Weile vergaß ich die Frau an der Tankstelle mit ihrem quietschenden Kinderwagen. Vergaß den schmutzigen Jungen mit dem starren Blick. Vergaß meine Angst. In diesem Augenblick fühlte ich mich zuhause.
* * *
Nachdem wir aufgegessen hatten, verschwand Viktor im Zelt, um wenige Sekunden später mit einem Sixpack Bier und einer Flasche Korn zurückzukehren. Deswegen also trug Viktor die größte Tasche mit sich. Wir hatten bereits zu Beginn unserer Reise Spekulationen angestellt, doch er war verschwiegen geblieben. Bis jetzt.
»Eine kleine Überraschung für den letzten Abend«, sagte er.
Wir applaudierten und johlten, während er sich wie ein Sänger nach einem gelungenen Auftritt verbeugte und die Hand mit gespielter Ergriffenheit auf seine Brust legte. Diese Geste ließ uns nur noch lauter werden. Viktor hatte an alles gedacht – außer an Flaschenöffner.
Patrik schwang die Arme in die Höhe, als würde er eine La Ola anstimmen »Moment, Moment!«, dann zeigte er uns seinen Ring und nannte sich den Retter in der Not. Es handelte sich dabei um einen schlichten Silberring, ohne Verzierungen oder Edelsteinen, doch er erfüllte seinen Zweck. Patrik entfernte die Kronkorken in Windeseile und schmiss sie durch die Lüfte.
Er bemerkte nicht – oder ignorierte?– Marens strafenden Blick. Es überraschte mich, dass sie Patrik nicht anfuhr. Vielleicht wollte sie keine Spielverderberin sein, oder schämte sich gar für ihren Wutausbruch mir gegenüber. Vielleicht wusste sie auch nur, dass Patrik mit einem spitzbübischen Spruch kontern würde, statt sie ernst zu nehmen. Jedenfalls schwieg sie. Doch ihre Augen huschten immer wieder zu den verstreuten Kronkorken.
Ich fragte mich, ob Maren mehr wusste, als sie zugab. Aber wenn der Wald – oder etwas, das darin lauerte – ihr solche Angst einjagte, warum war sie dann mit zu der Reise angetreten?
Ich hatte keine Lust mehr, mir den Kopf zu zerbrechen. In diesem Augenblick war alles, was ich wollte, mein Bier und Zeit mit meinen Freunden.
Um uns herum herrschte weiterhin Stille. Selbst bei Nacht trauten sich keine Tiere in unsere Nähe. Dennoch spürte ich deutlich, dass wir beobachtet wurden. Ging es den anderen genauso? Falls ja, verbargen sie es gut.
Im Wald, sagt man, sind alle Sinne geschärft. Dies ist der Evolution geschuldet, denn in der freien Natur sind wir angreifbarer.
Als der Alkohol durch unsere Venen rauschte und die Zungen lockerte, verließ uns die seltsame Macht, die uns am Reden hinderte.
Patrik tat den Anfang. Er sog an einem Joint, der gewaltiger zu sein schien als der letzte. »Vorhin beim Quarzen hab ich was gehört.«
Ich horchte auf.
»Esknisterte und knackte, als brannte es. Und ich schwöre euch, ich hab das verdammte Feuer gerochen.«
»Du hast deinen Glimmstängel gerochen, Alter!«, sagte Viktor und lachte. Naomi kicherte neben ihm; Maren und ich blieben ernst.
»Ich weiß, wie eine Tüte riecht, du Hammelbein! Nein, ich sage euch, ich hatte eindeutig den Geruch von Rauch in der Nase. So stark, dass ich husten musste. Ich dachte, der ganze Wald stünde in Flammen.«
Patrik erzählte weiter, er habe sich umgesehen, aber kein Feuer ausmachen können. »Kurz bevor ihr zurückgekommen seid, verschwand der Gestank schneller als nach einem von Viktors Fürzen.«
Das Ganze behagte mir nicht.
»Ich habe ein Rascheln gehört«, sagte Maren nach einer Weile. »Auf dem Rückweg. So als verfolgte mich etwas. Und ich spürte… ich spürte, jemand beobachtete mich.«
»Tiere?«, fragte Patrik. Sein Joint war bis zur Hälfte runtergebrannt, ohne, dass er einmal daran gezogen hatte.
»Sind dir bisher schon welche begegnet? Hier gibt es anscheinend nicht einmal Vögel.«
»Oh bitte!«, rief Viktor und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mit diesen Geschichten jagt ihr niemandem Angst ein. Wir haben die ganze Tour über keinen beschissenen Geist gesehen. Und wir werden auch hier keinen beschissenen Geist sehen. Wisst ihr, warum?«
»Habt ihr nichts erlebt?«, fragte Maren, ohne auf ihn einzugehen.
Viktor und Naomi grinsten sich an. »Ach, weißt du«, sagte er, »Naomi und ich waren beschäftigt. Wir hätten sicher nicht einmal mitbekommen, wenn ein Zombie an uns vorbeigeschlurft wäre.«
Wir verdrehten die Augen.
»Na ja«, warf Naomi ein, den Blick ins Feuer gerichtet. »Vorhin hatte ich mich in einer Baumwurzel verfangen. Ich konnte mich nicht losreißen. Das war so, als hätte sie mich festgehalten. Vikko befreite mich von dem Biest.«
»Ach das. Ja, auf dem Weg zurück zum Camp. Das war so eine Art Ranke, die auf dem Boden lag.«
»Ja, als wären wir im Dschungel, oder so was!«
»Ihr Fuß hatte sich total darin verheddert. Ich hab das Mistding kaum von meiner Süßen abbekommen.«
»Ich hab jetzt noch einen Abdruck, seht ihr?« Naomi streckte uns den Fuß entgegen. Um ihren Knöchel wand sich ein dunkelroter Bluterguss. Ich erkannte den Abdruck einer Hand; einer Kinderhand und sog hörbar Luft durch die Nase ein.
»Farian?«, fragte Maren. Alle starrten mich an.
»Entschuldigt. Ich dachte, das wäre der Abdruck einer Schlange«, log ich. »Das hat mich etwas erschreckt.«
Diese Antwort schien den anderen zu genügen, nur Marens Blick ruhte weiterhin auf mir.
»Was ist mit dir?«, fragte sie nach einer Weile.
»Mit mir?«
»Hast du auch etwas … erlebt?«
Ich überlegte, ob ich von meiner Begegnung mit dem Jungen sprechen sollte, entschied mich jedoch für eine abgeschwächte Variante der Wahrheit. »Ich habe auch ein Rascheln gehört und mich beobachtet gefühlt. Auch jetzt kommt es mir teilweise so vor, als würde uns jemand belauschen.«
Einige Zeit sprach niemand mehr. Ich starrte in die Flammen unseres Lagerfeuers. Rauchschwaden stiegen empor. Hin und wieder sprang ein Funken in die Lüfte. Der Geruch des Feuers erinnerte mich an Weihnachten. Und obwohl wir Mitte Juli hatten und die Luft schwül und stickig war, bildete ich mir ein, Zuckerstangen und Lebkuchen zu riechen. Und dann …
* * *
… befinde ich mich im Wohnzimmer meines Elternhauses. Ich bin wieder ein Kind, vier Jahre alt. In der Ecke des Zimmers steht ein Weihnachtsbaum. Seine Spitze reicht bis unter die Decke. Er ist über und über mit Lametta geschmückt und in seinen blutroten Kugeln bricht sich das Licht. Mama hat Lametta geliebt und auch nach ihrem Tod möchte Papa, dass er ihr gefällt. Unter dem Tannenbaum liegt ein Geschenk. Es ist fast so groß wie ich, sicher hat es mir der Weihnachtsmann gebracht! Ich will es öffnen, doch dann höre ich die Stimme meines Papas hinter mir. Laut, durchdringend. Ich soll es nicht aufmachen, sagt er, es ist noch nicht soweit. Ich halte die Spannung kaum aus, starre das Päckchen an, zerreiße das Papier vor meinem inneren Auge. Dann erweckt etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Oben hängt ein Glasherz. Es hat dieselbe Farbe der Weihnachtskugeln, aber es funkelt viel mehr. Ich erkenne einen Regenbogen in ihm. Es ist das Herz, das Mama mir letztes Jahr geschenkt hat, kurz nachdem der Tumor bei ihr festgestellt worden war.
»Das ist mein Herz«, hat sie gesagt. »Ich schenke es dir. Pass bitte gut darauf auf, Farian. Dann passt es auch auf dich auf. Auch dann, wenn ich es nicht mehr kann.«
Jetzt hängt es dort oben, außerhalb meiner Reichweite und mich überkommt der Drang, es zu halten. Ich möchte es drücken, so wie meine Mama mich immer an sich gedrückt hat.
Ich gehe zu dem Tannenbaum, den Blick auf das Herz gerichtet und fange an, zu klettern. Die Nadeln des Baumes piksen mich, sie schneiden mir in Gesicht, Arme und Beine – ich merke es kaum. Ich will dieses Herz. Etwas hält mich fest! Ich komme nicht mehr weiter, aber ich muss dieses Herz haben! Ich komme nicht ran, obwohl ich meinen Arm soweit strecke, wie es geht. Nur noch ein bisschen! Ein kleines bisschen!
Plötzlich kippt der Baum, ich hänge noch immer in ihm, greife nach Mamas Herz. Ich falle, aber ich kann nicht aufhören, das Herz anzustarren, und dann explodiert ein Feuerwerk in meinem Arm. Weitere Tannennadeln stechen in mein Fleisch. Ich spüre die Last des Baumes auf mir, der Stamm hat mich nicht erwischt, aber ich liege unter Zweigen begraben.
Papa brüllt. Ich höre seine Schritte. Tomp-pop, tomppop, tomp-pop – wie ein Herzschlag. Er schreit mich an, während er an meinem unverletzten Arm zerrt und gleichzeitig versucht den Baum aufzustemmen. Da sehe ich es. Das Herz liegt auf dem Boden. Es ist in viele kleine Teile zerbrochen. Noch immer erkenne ich einen Regenbogen in ihnen, aber es ist nicht mehr ganz. Ich habe Mamas Herz kaputt gemacht. Ich habe …
* * *
Der brennende Geruch des Alkohols holte mich in die Wirklichkeit zurück. Patrik hielt mir Korn unter die Nase. Ich starrte die Flasche an, als wäre sie ein Insekt.
»So trinket wohl, Lord Grübelkeks«, sagte Patrik und grinste.
»Nein, danke.«
Patrik hob eine Augenbraue, nahm selbst einen Schluck und reichte den Korn an Maren weiter.
Ich hatte keine Lust, mich zu betrinken. Das Knistern des Lagerfeuers zog meinen Blick wieder in die Flamme. Inmitten entdeckte ich das Glasherz meiner Mutter und spürte, wie mein eigenes brach.
An jenem Abend hatte Vater mich das erste Mal in den Keller gesperrt. Ich hatte ihn oben schluchzen gehört, während mir selbst vor Angst die Tränen versiegt waren. Es sollten weitere Abende folgen, und Nächte. Bis ich eines Morgens – er schloss gerade die Kellertür auf – vor ihm stand und ihm entschlossen in die Augen sah. Ich sagte ihm, der Keller mache mir keine Angst mehr. Da fiel er vor mir auf die Knie und zog mich in seine Arme. Ich ließ es geschehen.
Danach hatte er mich nie mehr im Keller eingeschlossen. Wir hatten häufig Streit, verfluchten uns gegenseitig, doch in den Keller hatte er mich nie mehr gesperrt.
Mit dem Glasherz verlor ich den Sinn für schöne Dinge. Ich wollte nie mehr etwas so Wertvolles zerstören, also sperrte ich alles Schöne aus meinem Leben aus.
»Ich muss euch etwas sagen.« Patrik starrte ebenfalls in die Flammen und riss mich aus meinen Gedanken.
Viktor und Naomi waren verschwunden. Naomi hörte ich in einiger Entfernung lachen, also konnten sie nicht zu weit weg sein. Maren nippte an ihrem Bier. Patrik sprach nicht direkt weiter, keiner von uns drängte ihn. Der Ausdruck in seinen Augen hinderte uns daran. Das neckische Funkeln war nicht mehr zu sehen, stattdessen tanzten Flammen in ihnen, als wäre er ein Feuerteufel.
Er seufzte. Maren legte ihm eine Hand auf das Knie. Einige Augenblicke starrte er darauf, dann hob er den Kopf und lächelte uns müde an.»Als ich etwadreizehn war, führte mich eine Bande von Jungen in den Wald. Eine Clique, so wie wir. Sie gaben mir meinen ersten Joint. Er schmeckte abscheulich, aber ich wollte nicht uncool wirken. Ich hatte damals nicht viele Freunde, wisst ihr? Deswegen wollte ich unbedingt in diese Clique. Wir setzten uns ins Gras und rauchten… na ja, Gras. Sie boten mir auch andere Dinge an, Pillen und Zeug zum Schnupfen. Zu der Zeit ging es mir nicht besonders gut. Mein Dad soff wie ein Loch – gut, macht er heute immer noch – aber damals ging mir das ziemlich nah. Ich probierte eine der Pillen. LSD. Ich hatte einen wirklich üblen Trip.« Patrik starrte weiter in die Flammen und erzählte uns von seinem ersten Drogentrip. Und auch, dass er seitdem bis auf Hasch nichts anderes anrührte. Ich glaubte ihm.
»An diesem Tag ließ ich meine Kippe fallen. Sie brannte noch und …« Er verstummte.
»Es fing an zu brennen«, führte Maren den Satz zu Ende.
Patrik nickte. »Ich habe einen Waldbrand verursacht. Die Feuerwehr musste anrücken. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Bis jetzt.« Er stieß ein heiseres Lachen aus. »Deswegen habe ich auch so einen Schrecken bekommen, als ich Feuer roch, versteht ihr? Ich weiß nicht, wo es herkam, aber ich habe Rauch gerochen. Ich schwöre es!« Endlich sah Patrik uns an. Ängstlich, gar flehend.
»Ich glaube dir«, sagte ich und für einen Augenblick vermutete ich Tränen in den Augen meines Freundes.
»Ich auch«, sagte Maren.
»Irgendwer treibt hier sein Spiel mit uns, hab ich nicht recht?«, fragte Patrik.
»Irgendwer oder irgendwas«, antwortete ich mehr zu mir selbst als an ihn gerichtet.
»Sag so was nicht! Ich war nie scharf darauf, wirklich einen Geist zu sehen, ich wollte nur kräftig einen durchziehen!«
Ich prustete los. Ich konnte nicht anders. Halbaus Angst, halb wegen Patriks dummem Gesichtsausdruckes.
Ich gackerte wie ein Irrer und Maren und Patrik stimmten mit ein. »Danke, dass du uns das erzählt hast, Patrik«, sagte ich, nachdem wir uns beruhigt hatten.
»Hey, ihr seid meine Freunde, oder nicht? Wem sollte ich das sonst erzählen.« Er lächelte.
»Das sind wir.«
Maren schlang die Arme um uns. »Die besten Freunde!« Dann wuschelte sie durch unsere Haare, gab jedem einen Kuss auf die Wangen und ließ von uns ab.