Manchmal brauchst du dein halbes Leben, ehe es dir endlich klar wird: Es kann doch nicht nur an dir liegen, dass nie etwas perfekt läuft! Da rackerst du dich im Job ab, aber dann rutscht dir doch wieder ein Fehler durch oder ein Projekt geht sogar komplett schief. Da bemühst du dich in deiner Beziehung und Familie, alles richtig zu machen. Aber es findet sich garantiert jemand, der trotzdem etwas zu meckern hat. Selbst der Sommerurlaub hat seine Schattenseiten, wenn du erst einmal die Hotelrechnung gesehen hast und zu Hause auch noch feststellen musst, dass du fünf Kilo zugenommen hast. Geplant war doch das genaue Gegenteil. Was du auch anfängst, führt immer wieder zum selben deprimierenden Ergebnis: Nie läuft es, wie es sollte!
Da warst du vielleicht so stolz auf die PowerPoint, die du in nächtelanger Arbeit zusammengebastelt hast, und musst beim Präsentieren feststellen, dass peinlicherweise wieder Tippfehler drin sind. Der Chef verkündet, dass eure Abteilung jetzt ein »Excellence Center« werden soll, kann aber leider nur IT aus der frühen Steinzeit bereitstellen. Privat hast du dir vorgenommen, gesünder zu essen und mehr Sport zu machen, weißt aber jetzt schon, dass tausend Dinge deine Pläne durchkreuzen werden. Bei deinem angeblich »besten iPhone aller Zeiten« ist, wie immer, das Display zersprungen. Wenn du gerade Single auf Suche bist, muss ich dir sowieso nichts erzählen. Am besten, man redet sich ein, dass Dating irgendwie auch eine karitative Aktivität ist.
Einmal aber kommt der Moment, an dem du die Schuld nicht mehr länger bei dir oder anderen suchst. Sondern beginnst, an der Grundidee zu zweifeln: »Perfektion, hat es das überhaupt je gegeben?« Eltern, Lehrer, Ausbilder und Dozenten haben dich zwar immer zur Vollkommenheit ermahnt oder wenigstens dazu angehalten, sie anzustreben: »Ganz oder gar nicht«, »keine halben Sachen«, »volles Engagement«. Denkst du nun zurück, fällt dir unweigerlich auf, dass keiner von ihnen selbst perfekt war. Kann es sein, dass sie alle nur von einer Wunschvorstellung gesprochen haben, niemals von einer tatsächlich erreichbaren Realität, obwohl du das ganz selbstverständlich angenommen hattest?
Sicher gibt es Perfektion, allerdings nur in kurzen, exotischen Momenten. Dann zeigt sie sich, so wie die »Königin der Nacht« jährlich für einige Stunden ihre Blüte öffnet. Kurz darauf ist sie schon wieder verwelkt und müffelt nach Vergänglichkeit.
Einige wollen sich mit dieser ernüchternden Einsicht noch nicht abfinden und weiter Idealvorstellungen hinterherrennen: »Wenn ich mich nur mehr anstrenge, muss es doch klappen. Andere kriegen es auch hin, wieso nicht ich?« Aufwachen! Selbst eine Victoria Beckham hat Cellulite und einen Mann, der fremdgeht. Natürlich kann man sich das alles noch ein paar Jahre schönreden, weiter eigenen und fremden Ansprüchen hinterherjagen wie das Häschen einer baumelnden Möhre. Scheinbar so nah, dabei ewig unerreichbar. Doch du weißt inzwischen selbst, dass Perfektionismus nur anstrengender Selbstbetrug ist, der dir selbst am meisten schadet. Musst du nicht mehr haben!
Wer im Leben so richtig scheitern will, nimmt sich am besten vor, alles perfekt zu machen. Dann wird im Job nichts je fertig, kein Partner ist gut genug, und sogar im schönsten Karibikurlaub stören noch das Salz auf der Haut und der Sand im Bett. Seien wir ehrlich: Perfektionismus ist ein Arschloch. Er ruiniert dir selbst den größten Erfolg, wenn nicht noch das letzte i-Tüpfelchen ein funkelnder Diamant ist, und macht dich unnötig klein. Kurz: ein absolut unsympatischer Spielverderber!
Perfektionismus verunsichert, blockiert und zieht dich runter. Mit überzogen hohen Ansprüchen wirst du nicht besser, sondern ängstlicher, umständlicher und langsamer. Unzufrieden dazu: Mit den misstrauischen Augen des Perfektionisten sieht die Welt wie eine fortwährende Enttäuschung aus, dich selbst und die meisten Mitmenschen eingeschlossen. »Kann nicht einmal alles glattgehen!«, wird dein ständiger frustrierter Ausruf. Dabei ist das Ergebnis oft gar nicht so schlecht und fast immer vollkommen ausreichend – aber eben Welten von jener Perfektion entfernt, die mit dieser Einstellung der Normalfall sein sollte. Gezielt, aber doch wieder daneben geschossen!
Abgekämpft stehst du also da und fragst dich irgendwann: »Wieso schaffe ich es nicht besser?« Dabei darfst du stolz auf dich sein! Du musst nicht ständig 150 Prozent leisten, um 100 Prozent in Ordnung zu sein. Falls dein Chef das sagt: Das ist ein Trick, damit du für die Firma ständig über deine Grenzen gehst.
»Mir ist klar, dass ich nach meinen Standards nie abarbeiten kann, was mir mein Teamleiter jeden Tag auf den Schreibtisch legt«, sagte mir eine Klientin. »Ich versuche es trotzdem, obwohl es mich fertigmacht. Wie schraube ich meine eigenen Maßstäbe herunter, ohne den Respekt vor mir selbst zu verlieren?«
Wahrscheinlich hast du dich schon ähnlich gefragt, warum du immer wieder gegen eine Wand aus eigenen Erwartungen anrennst, sei es im beruflichen oder privaten Leben, obwohl du es längst besser weißt. Typische Antworten klingen so:
Doch Perfektionismus hat tiefere Ursachen: übergroße Angst vor Kritik, der Wunsch, um jeden Preis bewundert zu werden, die Ablenkung von derzeit nicht lösbaren Problemen oder das gut gemeinte Bestreben, sie zumindest vor anderen zu verbergen.
Wir werden diese Gründe gemeinsam besprechen und wie du dich davon befreien kannst – aber auch, was der Unterschied zu einem positiven Streben nach Qualität und Leistung ist. Denn keiner wünscht sich ja, dass alles einfach nur abschlafft, so angenehm es manchmal wäre, eine nachlässige kleine Schlampe zu sein, die alles entspannt gegen die Wand fahren lässt, sich dann in den Feierabend beziehungsweise auf die Fernsehcouch verabschiedet und mit nichts mehr weiter zu tun hat.
Dieses Buch will dich zu einem entspannten Pragmatismus ermutigen und dir die Wege dahin zeigen: erreichen, was dir wirklich wichtig ist, aber dich nicht länger aufreiben für etwas, das langfristig gar keine Rolle spielt und oft noch nicht einmal wahrgenommen werden wird. Perfektionismus ist wunderbar in einigen wichtigen Momenten, als Dauerzustand aber unmöglich und unnötig. Du fährst dein Auto schließlich auch nicht durchweg im höchsten Gang, weil sonst einiges zu Bruch ginge.
»Soll ich mich denn jetzt hängen lassen und es gar nicht mehr versuchen?«, fragst du dich vielleicht beunruhigt. »Nur noch hinnehmen, was sich von selbst ergibt?« Keine Sorge! Hier findest du kein Plädoyer für Mittelmäßigkeit und Fatalismus, sondern Unterstützung dabei, deine Aufgaben sinnvoll zu gewichten: Wo lohnt es sich, um das bestmögliche Ergebnis zu kämpfen, und wo darfst du es bei einer soliden Durchschnittsleistung belassen, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?
In meinem ersten Buch, Ich mach da nicht mehr mit, ging es darum, wie du maßlosen Forderungen anderer – von Eltern, Kollegen, Partnern, Kindern – Grenzen setzen kannst. Hier geht es darum, wie du dich vor überzogenen Erwartungen an dich selbst schützt. Erfahrungen aus zehn Jahren Coaching-Praxis sind eingeflossen, viele Begegnungen aus meiner langjährigen Tätigkeit als Journalist, aber auch persönliche Einsichten.
Ich darf an dieser Stelle verraten, dass ich früher auch einmal ein Perfektionist war, aber mittlerweile geheilt bin. Als junger Mann brach ich mein berufsbegleitendes BWL-Studium nach vier (von sechs) Semestern ab, weil ich meine Noten zu mittelmäßig fand. Erst Jahre später holte ich den Abschluss nach. Als ich mit dem Joggen anfangen wollte, meldete ich mich direkt für einen Marathon an. Ich kam nach den 42,195 Kilometern ins Ziel, zog mir dabei aber eine langwierige Fußverletzung zu. Viele berufliche Chancen verpasste ich, weil ich lange nur für perfekte Leistungen anerkannt werden wollte. Alles andere – Kontakte, Beziehungen – kam mir wie faule Kompromisse vor.
Gemeinsam erkunden wir, wie auch du dich aus der Perfektionismus-Falle befreien kannst und entspannt erfolgreich wirst. Ganz praktisch und mit viel Humor. Der verbissene Perfektionismus hat uns lange genug den Spaß verdorben. Jetzt ist der perfekte Start für ein bisschen mehr Pragmatismus. Denn gut genug ist im wahren Leben doch meist am besten!
Attila Albert
Manche Arbeitgeber haben aufgegeben, verraten es nur noch niemandem.
Wenn Henrieke morgens ihr Büro betrat, kam es ihr jedes Mal so vor, als würde sie auf eine Zeitreise gehen. Die hellgrauen Möbel, die bei ihrem neuen Arbeitgeber standen, hatte sie zuletzt in den 90ern gesehen. Im Radio musste »What is love« von Haddaway in den Charts gelaufen sein, als dieser Teppichboden seine ersten Kaffeeflecken abbekam und eine gute Seele diese unverwüstlichen Topfpflanzen – Philodendron, Dieffenbachie und Monstera – auf die Regale rückte. »Hey Chef, was machen Sie eigentlich beruflich«, witzelte es auf einem verblichenen Ausdruck an der Wand. Er hing neben Urlaubskarten von Mitarbeitern, die schon lange nicht mehr im Unternehmen waren, und Hinweisen auf längst vergangene Termine.
»Unverkennbar, hier ist die Zeit stehen geblieben«, dachte Henrieke jeden Morgen, wenn sie ihren Laptop anschaltete und wieder einmal zähe fünf Minuten warten musste, ehe er endlich einsatzbereit war. Sie hatte einige Monate zuvor als Personalreferentin in diesem Industriebetrieb angefangen und das Gerät von ihrer Vorgängerin übernommen. Die Software war fast zehn Jahre alt und trieb Henrieke, wie vieles andere hier, in den Wahnsinn. Inzwischen hatte sie fast den Eindruck, dass die Firma absichtlich alles unternahm, damit sie möglichst langsam und ineffektiv arbeitete. Nur, um ihr anschließend genau das vorzuwerfen. Präziser: ihren angeblichen »Perfektionismus«.
Manchmal hilft es wirklich nur noch, sich schnellstens einen neuen Job zu suchen.
Henrieke hatte sich aus Sorge um ihren Arbeitsplatz für ein Coaching angemeldet. Sie hatte in der kurzen Zeit bereits mehrere unangenehme Gespräche mit ihrer Chefin gehabt, die ihr vorhielt, dass sie nichts erledigt bekäme und sich ständig verzetteln würde. »Wir haben da ganz unterschiedliche Wahrnehmungen«, sagte Henrieke in unserem ersten Gespräch. Sie wirkte blass, müde und spielte beim Sprechen nervös mit ihren Haaren. »Ich bin sicher, dass ich schnell und gut organisiert arbeite«, meinte sie. »Aber es ist nicht zu schaffen, und ich werde überhaupt nicht unterstützt. Ich habe schon ständig Magenschmerzen wegen dem Stress und wache oft mitten in der Nacht auf, weil mich die Arbeit bis in den Schlaf verfolgt.«
Überlastung ist ein häufiger Anlass, um mit einem Coaching zu beginnen: Der berufliche oder private Alltag ist, trotz größter Anstrengungen, nicht mehr zu schaffen. Ich versuche in diesen Fällen zuerst, die Ursache genauer einzugrenzen. Ist der Klient überfordert, weil ihm Fachwissen, Erfahrung oder eine effektive Selbstorganisation fehlen? Kann er nicht mit Erfolgs- und Termindruck umgehen? Manchmal zeigt sich bereits an diesem Punkt auch: Es liegt überhaupt nicht an ihm, sondern das Team ist beispielsweise objektiv zu klein oder falsch organisiert, und die Firmenleitung weigert sich, das überhaupt anzuerkennen. Dann geht es schnell nur noch darum, neue Arbeitsbedingungen auszuhandeln oder gleich ganz den Arbeitgeber zu wechseln.
Beim Vorstellungsgespräch wird das Wichtigste oft verschwiegen.
»Als ich mich damals bewarb, wirkte das Unternehmen auf mich ausgesprochen professionell und solide«, erinnerte sich Henrieke und lächelte ein wenig bitter. »Meine Vorgängerin saß sogar noch mit in meinem ersten Vorstellungsgespräch und beschrieb mir die Aufgaben. Sie hatte von sich aus gekündigt und sagte dazu nur, dass es für sie Zeit für etwas Neues wäre.«
Nachdem Henrieke die Stelle bekommen hatte, stellte sie fest, dass die Situation ein wenig anders war, als es anfangs schien. Ihre Vorgängerin hatte, so erfuhr sie von ihren neuen Kollegen, aus Frust gekündigt, »weil sie nichts bewegen konnte«. Henrieke bemerkte nach einigen Tagen viele leere Schreibtische, anscheinend waren noch mehr gegangen. Die Büros waren seit bald 15 Jahren nicht mehr renoviert worden, die Technik veraltet. Nur das Geschoss mit den Meetingräumen, in das auch Henrieke damals eingeladen worden war, hatte eine Modernisierung erhalten.
Erste Zweifel beschlichen sie. War es ein Fehler gewesen, hier zuzusagen – sollte sie noch in der Probezeit wieder auf Stellensuche gehen? Die Einarbeitungsphase versöhnte sie zunächst wieder. Sie war gut geplant mit vielen Gesprächen in den Abteilungen und verlief überraschend entspannt. Es schien nicht allzu hektisch zuzugehen. Viele Kollegen waren seit Jahrzehnten dabei und erzählten mit Stolz von früheren Zeiten und Erfolgen. Henrieke über ihren damaligen Eindruck: »Das fand ich charmant und dachte, das ist eben ein Traditionsbetrieb. Es muss ja nicht überall wie in einem Startup zugehen.« Außerdem sollte sie – so hatte es ihre neue Chefin bei der Einstellung ausdrücklich erklärt – daran mitarbeiten, dass das Unternehmen moderner würde.
»Als ich meine erste freie Stelle ausschreiben wollte, stellte ich fest, dass auch die Vorlagen für die Stellenanzeigen völlig überholt waren«, erzählte Henrieke. »Ich musste alle nötigen Texte und ein kurzes Firmenportrait schreiben und von der Geschäftsführung genehmigen lassen, was mich allein mehrere Tage kostete.« Ebenso bei anderen Aufgaben: »Als die ersten Mitarbeitergespräche anstanden, sah ich, dass die Bewertungsbögen zehn Jahre alt waren. Beim ersten Intranet-Eintrag stellte ich fest, dass es technisch und inhaltlich völlig vernachlässigt war. Es gab nicht einmal einen IT-Beauftragten, das sollten wir selbst klären, obwohl wir dafür weder die Zeit noch die Ausbildung hatten.«
Henrieke war in ein Unternehmen geraten, in dem seit Jahren nur noch das Nötigste getan und kaum noch investiert wurde, damit die Bilanzzahlen gut aussahen. »Mein Anspruch ist, professionelle Arbeit abzuliefern«, meinte sie. »Aber bei jeder Aufgabe musste ich bei null anfangen.« Ihre Kollegen schien das weniger zu stören. Viele kannten es gar nicht anders.
Der eigene professionelle Anspruch wird nicht immer von allen geteilt.
Henriekes Chefin reagierte auf die Klagen ihrer neuen Mitarbeiterin zunehmend genervt: »Sie hielt das für unnötige Umständlichkeiten. Mir stünde mein Perfektionismus im Weg. Ich sollte mich auf meine aktuellen Aufgaben konzentrieren und mich um nichts anderes mehr kümmern. Bei den Details hat sie gar nicht mehr zugehört.« In späteren Gesprächen, in denen Henrieke vehementer auf mehr Unterstützung von oben drängte, wurde der Ton schärfer: »Meine Chefin warf mir vor, dass ich mich ständig mit Dingen befassen würde, für die ich nicht zuständig sei. Bei meiner Vorgängerin hätte das alles ohne diese Probleme geklappt. Verschiedene Abteilungen hätten sich bereits über mich beschwert, ich würde zu wenig liefern!«
Als sich eine ähnliche Formulierung dann auch in ihrer ersten Zwischenbeurteilung fand, war Henrieke nahe daran, ihre Stelle zu kündigen, obwohl sie nichts Neues in Aussicht hatte. »Aber in der jetzigen Lage überlegt man sich das dreimal. Es ist doch ein solider Arbeitgeber, das Gehalt ist in Ordnung. Vielleicht sind meine eigenen Ansprüche wirklich zu hoch?«
Wer wirklich etwas verändern will, merkt oft, dass das gar nicht gewünscht ist.
Es gibt Menschen, die blühen in einer unangenehmen Arbeitsumgebung geradezu auf. Für sie sind grausame Chefs ein belebender Ansporn und absurde Termin- und Zielvorgaben eine wunderbare Herausforderung. Harmonie würden sie als verachtenswerte Schwäche empfinden, die alle abschlaffen lässt. »Das ist doch hier kein Kaffeeklatsch!« Sie sind wie diese bizarren Tiefseekreaturen, die nur unter höchstem Druck und in völliger Dunkelheit existieren können und sofort umkommen würden, wenn man sie nach oben ans Licht holte. Wo andere keinen Augenblick überleben würden, befindet sich ihre Komfortzone!
Andere verstehen ihren Job als Langzeit-Vorhaben, bei dem es keinesfalls zu hektisch zugehen darf. Was sie in den 50 Jahren zwischen Ausbildung und Pensionierung – am besten beim selben Arbeitgeber – nicht schaffen, hinterlässt ihren Nachfolgern doch eine interessante neue Aufgabe! Wo kämen wir denn hin, wenn jeder auf einmal tatsächlich etwas verbessern, die Probleme endlich wirklich lösen wollte? Am Ende wissen all die neu eingestellten »Change-Manager« in der Konzernzentrale gar nicht mehr, welche Pläne sie auf ihre PowerPoint-Folien schreiben sollen.
Wie wir im Verlauf unseres Coachings herausfanden, hatte Henrieke einen sehr moderaten Ansatz: Sie war bereit, sich schwierigen Aufgaben zu widmen. Aber sie hatte nicht vor, dafür Jahre ihres Lebens zu verlieren und sich völlig aufzureiben. Gleichzeitig ging sie wirklich mit einem gewissen Perfektionismus heran. Er verleitete sie dazu, im Alleingang einen Standard durchsetzen zu wollen, der in diesem Unternehmen unrealistisch und auch unerwünscht war – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. Damit schaffte sie sich Feinde unter ihren Vorgesetzten und Kollegen, erschöpfte aber vor allem sich selbst. Wenn sie so weitermachte, würde sie immer weiter ins Abseits geraten und bald ihre Stelle gefährden. Ihre Chefin würde sich von ihr trennen oder Henrieke würde selbst in eine unüberlegte Kündigung flüchten.
Die besten Absichten ändern langfristig nichts an den Realitäten.
Dabei hatte Henrieke die besten Absichten. Dir ist es im Job vielleicht schon ähnlich ergangen. Sie bemühte sich überhaupt nicht um persönliche Vorteile oder einen möglichst bequemen Arbeitsalltag. Ganz im Gegenteil: Sie tat, was sich Arbeitgeber zumindest offiziell immer von ihren Mitarbeitern wünschen. Sie »übernahm Verantwortung«. Das heißt: Sie war bereit, sich die Probleme des Unternehmens zu eigen zu machen und tatsächlich zu lösen. Dabei dachte sie über ihre Stelle und Abteilung hinaus, suchte »nachhaltige Ergebnisse«, also nicht nur schnelle Erfolge zulasten der Zukunft. Allerdings machte sie dabei eine ernüchternde Erfahrung, die sie mit vielen Angestellten teilt: »Eigentlich war das nicht gewünscht, auch wenn das von oben immer anders klang.«
Den Widerstand, den sie bei ihrer Chefin und den Kollegen nach kurzer Zeit bemerkte, sah sie jedoch als zusätzliche Herausforderung an. Sie fühlte sich angespornt und verpflichtet, dann eben alles selbst aufzuarbeiten. Sie wollte den anderen zeigen, wie professionelle Arbeit aussieht, sie damit überzeugen und mitreißen. Ein wenig Selbstbehauptung steckte auch darin: Henrieke hatte nicht vor, ihren eigenen Qualitätsstandard aufzugeben. Es wäre ihr wie eine Kapitulation vorgekommen. Ein Verrat an ihren eigenen Ansprüchen, eine Entwertung ihrer bisherigen Erfahrungen. In einem unserer Gespräche formulierte sie ihre Sorge so: »Wenn ich mich auf dieses Niveau einlasse, bin ich doch bald selbst eine von denen!«
Veränderung braucht Zeit, mehr aber noch Geduld. Der Spruch, dass »Rom auch nicht an einem Tag erbaut« wurde, wird vor allem von Leuten benutzt, die nicht einmal eine Gartenlaube innerhalb eines Jahres fertigbekommen. Hätten sie den Auftrag erhalten, Rom zu erbauen, würden sie derzeit eventuell ihre Pläne »finalisieren«. Was in Manager-Sprache heißt: noch ein weiteres Mal über dasselbe reden, weil sich wieder keiner traut, später für die Entscheidung geradezustehen. Das echte Rom ist, wenn du noch nie da warst, übrigens auch nach bald 2800 Jahren immer noch eine Großbaustelle mit vielen Ruinen zwischendrin.
Viel Zeit einplanen
Bei drängenden Problemen am Arbeitsplatz soll es oft besonders schnell gehen. Doch je größer das Unternehmen ist, desto mehr Geduld brauchst du. Bei einem Mittelständler kannst du eventuell sogar noch selbst direkt mit dem Eigentümer reden. Bei einem Konzern muss alles erst durch viele Management-Ebenen, manchmal sogar bis hoch zum CEO – und dann wieder zurück. 50 Prozent jeder Veränderung sind Überzeugungsarbeit. Plane deshalb ausreichend viel Geduld und Zeit ein.
Junge, unerfahrene Mitarbeiter sind in solchen Umbruchphasen leicht zu erkennen: Sie sind die einzigen, die nicht verstehen, wieso sich oft ganze Belegschaften gegen Veränderungen stemmen. Dabei ist die Erklärung verblüffend einfach: Weil es für 80 Prozent so funktioniert, wie es ist! Wieso sollten sie sich für ein Experiment mit unklarem Ausgang ihre bewährten Arbeitsabläufe und Routinen zerschießen lassen? Veränderung heißt für viele: Chaos durch all die Neuerungen, anschließend mehr Arbeit fürs gleiche Geld, strenger bewertet und kontrolliert werden. Das ist eigentlich nur reizvoll für höhere Manager und Eigentümer, der Rest hat es damit nicht so eilig.
Es ist eine gefährliche Versuchung, alles gleich selbst erledigen zu wollen.
Wichtig ist es in solch einer Situation, sein Gegenüber ein wenig besser zu verstehen, auch wenn es schwerfällt. Henriekes Arbeitgeber hält sich erkennbar seit Jahren nur mühsam über Wasser und lebt von der Substanz. Das Management sieht derzeit nur diesen Kurs. Die Belegschaft hat sich, von einem gelegentlichen Nörgeln abgesehen, damit arrangiert oder verabschiedet. Das Unternehmen ist für perfekte Lösungen weder empfänglich noch bereit. Sie würden es zu diesem Zeitpunkt völlig überlasten, komplett handlungsunfähig machen. Falls sich einmal etwas ändern wird, dann nur in einem behutsamen, langfristigen Prozess.
Wenn du perfektionistisch veranlagt bist, würdest du – wie Henrieke – wahrscheinlich auch versuchen, möglichst viel selbst zu erledigen. Du kennst deine eigenen Anforderungen am besten, kannst sie ohne lange Erklärungen direkt umsetzen und erhältst das Ergebnis, das du dir vorgestellt hast. Diese Methode scheitert jedoch, sobald es um größere Projekte geht, bei denen viel erledigt werden muss und andere beteiligt sind. Dann staut sich auf einmal alles bei dir. Du wirst nicht mehr fertig und hältst zudem die anderen auf, die dir das bald zum Vorwurf machen und dich damit zusätzlich stressen. Oft hoffen Perfektionisten, durch ihre Leistung und erste Erfolge die anderen mitreißen zu können. Das endet meist damit, dass sie allein voranpreschen und ihnen doch keiner nachfolgt.
Lass dich nie ganz vom Tagesgeschäft vereinnahmen, sonst gehst du unter.
Die erfolgreichere Strategie ist es, eine solche Veränderung als ein mehrjähriges Projekt zu sehen. Ohne Garantie, dass es erfolgreich sein wird. Du wirst sehr viel Geduld brauchen und dich oft bremsen müssen, damit die anderen mitkommen. Gleichzeitig kannst du dabei zu jemandem werden, der einen spannenden Neuanfang begleitet, zum Mentor für andere wird. Die erste Entscheidung ist also: Willst du die Zeit und Kraft investieren? Es kann sich lohnen, wenn dir die Arbeit insgesamt Spaß macht, die Bezahlung stimmt und du den Eindruck hast, dass weitere Kollegen wie du denken, du also hilfreiche Unterstützer findest wirst.
Orientiere dich in jedem Fall zunächst am Arbeitsstil und -tempo der anderen und versuche, sie zu verstehen. Es gibt immer berechtigte, nachvollziehbare Gründe, warum die Lage so ist, wie sie ist. Damit vermeidest du voreilige Schlüsse und undurchdachte Pläne (»Ich zeige euch jetzt mal, wie es richtig gemacht wird«), die andere nur brüskieren und dir schaden. Gib jeder Veränderung viel Zeit, damit sie zur neuen Routine werden kann und den normalen Arbeitsablauf nicht zu sehr belastet. Gleichzeitig musst du darauf achten, dass du dich nicht völlig vom Tagesgeschäft vereinnahmen lässt. Blockiere dir dafür im Kalender feste Termine (zum Beispiel zwei Mal eine Stunde wöchentlich), in der du über deine Arbeitsorganisation und mögliche Verbesserungen nachdenkst sowie deine Kontakte – sowohl zu Unterstützern wie zu Kritikern – pflegst.
Dass deine veränderte Strategie wirkt, erkennst du daran, dass der Widerstand abnimmt und du dich nicht mehr ständig in Opposition – »ich gegen alle« – siehst. Du wirst feststellen, dass es überall Menschen gibt, die zumindest einen Teil deiner Ansichten teilen und dich unterstützen. Widerstehe der Versuchung, sofort deinen perfekten Plan auszurollen, auf Tempo zu drängen und umfangreiche Theorien zu erläutern. Das wird die anderen nur langweilen, überfordern oder glauben lassen, dass es für ihren Alltag praktisch doch keine Rolle spielen wird oder du selbst nicht genau weißt, wie du es umsetzen sollst. Dieser Ablauf hilft dir mehr: Rege eine kleine praktische Verbesserung an und erkläre ihre Vorteile. Probiert sie gemeinsam aus, damit alle selbst die Vorteile sehen und anerkennen. Erst, wenn die Änderung zur neuen Gewohnheit geworden ist, sollte der nächste Schritt folgen. Lernen geht am besten schrittweise und mit ausreichenden Pausen.
Wer wirklich etwas in einer Firma ändern will, braucht dafür sehr viel Geduld und Kraft.
Nach den ersten kleinen Erfolgen wirst du feststellen, dass dein Projekt zunehmend »unser« Projekt wird. Ärgere dich nicht darüber, dass jetzt mehr mitreden. Freu dich daran, dass du diese Veränderung erfolgreich für alle anregen konntest. Vielleicht werden einige sogar nach deiner größeren Idee fragen. Ihnen kannst du dann diesen weitergehenden Einblick geben.
Übrigens geht es einem Abteilungs- oder sogar Firmenchef dabei gar nicht anders, obwohl er formell die Macht hat, etwas im Unternehmen von oben durchzusetzen. Er kann immer große Strategien und Visionen ankündigen. Aber sie versacken garantiert in der Belegschaft und werden im Alltag verwässert, wenn es keinen Plan gibt, all das in kleine Schritte aufzuteilen, sie über einen längeren Zeitraum gemeinsam zu lernen und immer wieder neu einzuüben. Das ist die ernüchternde, aber heilsame Erfahrung, die jede Führungskraft machen muss. Wenn aus der schönen Theorie auf einmal die unvollkommene Praxis wird. Ein kultureller Wandel ist schnell angekündigt, braucht aber realistisch selbst im besten Fall fünf bis zehn Jahre.
Henrieke überlegte lange, ob sie bei ihrem Arbeitgeber bleiben sollte. Nach unserem Coaching sagte sie ihrer Chefin schließlich offen, dass sie erkennbar in unterschiedliche Richtungen wollten. Für das Unternehmen und das Team sei das nicht gut, sie bitte um einen Aufhebungsvertrag. Zeitlich sei sie flexibel und würde bei Interesse gern ein Konzept für mögliche spätere Veränderungen hinterlassen. Zu ihrer Überraschung äußerte ihre Chefin vollstes Verständnis und schrieb ihr eine sehr gute Beurteilung.
Fünf Monate später hatte Henrieke eine neue Stelle bei einem kleineren Startup. »Nicht mehr als Personalreferentin, sondern eine Stufe höher als HR-Partner. Da bin ich mehr in die Strategie involviert, kann grundsätzlichere Themen mitentscheiden.« Auch dort sei nicht alles perfekt: »Aber ich bin unter Leuten, die meine Vision teilen, und habe durch meinen alten Job gelernt, geduldiger und langfristiger heranzugehen.«
Im Beruf muss man manche Spielchen mitspielen, obwohl man sie durchschaut hat.
Die dümmsten Fragen der Welt werden leider noch immer in Bewerbungsgesprächen gestellt, meist aus Routine oder aus Einfallslosigkeit. »Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« zum Beispiel, als ob das Leben so planbar wäre. Dabei weiß man nicht einmal sicher, wo man in fünf Stunden sein wird. Oder: »Was ist ihre größte Schwäche?« In Berufsratgebern wird oft empfohlen, darauf solle man kokett »Perfektionismus« antworten. Weil das für Arbeitgeber angeblich nach »Ich arbeite gern zu viel und bin auch noch stolz darauf« klingt. Dabei weiß heute doch jeder: Von innen sieht ein Hamsterrad wie eine Karriereleiter aus. Man könnte darauf auch ganz entspannt entgegnen: »Zu viel Ehrlichkeit, Sie dumme Nuss!« Das wäre mal eine echte Stärke.
Für viele Mitarbeiter ist das, was sie jeden Tag bei ihrem Arbeitgeber beobachten, im Grunde eine intellektuelle Beleidigung. Jeder, der ein bisschen länger dabei ist, hat durchschaut, was da wirklich abläuft, sagt aber nicht viel – wissend, dass der andere das wahrscheinlich auch schon alles längst durchschaut hat. Die Kunst liegt darin, sich den Optimismus zu bewahren, dass sich doch etwas verändern kann, und das richtige Maß zu finden, wie viel alle Beteiligten leisten und verkraften können.
Die besten Chefs sind nicht diejenigen, die großartige Pläne verkünden, sondern diejenigen, die Idealismus mit Realismus kombinieren können und die Beharrlichkeit haben, sich anschließend über mehrere Jahre täglich darum zu kümmern, dass es in kleinen Schritten trotz aller üblichen Probleme und Widerstände langsam in die gewünschte Richtung geht. Es gibt solche außergewöhnlichen Führungskräfte. Sie wiederholen bei jeder Gelegenheit dieselben drei oder vier Punkte, die ihnen wichtig sind – bis sie wirklich an jedem Schreibtisch, an jeder Werkbank oder an jedem sonstigem Arbeitsplatz verstanden und umgesetzt sind.
Eine kleine Übung: Gewöhne dich daran, mehr zu delegieren
Du kannst also deinen Perfektionismus mildern, indem du lernst, langfristiger zu denken und Aufgaben zu delegieren. Anfangs fällt das schwer: Das Erklären braucht Zeit, und die ersten Ergebnisse frustrieren fast immer. Aber Delegieren beginnt damit, dass deine Mitarbeiter von dir lernen und besser werden. Dafür brauchen sie deine Ermutigung, deinen Rat und die Freiheit, manches anders umzusetzen, als du es machen würdest. Oft dauert das drei bis sechs Monate. Erst danach können sie dir Arbeit und Verantwortung abnehmen. Überlege dir drei berufliche oder private Aufgaben, die du zukünftig delegieren könntest – wer übernimmt sie, was erwartest du?