Geleitwort

Mit dem dritten Band der Trilogie „Unterm Messer“ kommt das erfolgreiche Berufsleben des bekannten Chirurgen Volker Schumpelick auch schriftstellerisch zu einem Abschluss. Teils komisch, teils lehrreich sind die Erinnerungen an Patienten und deren Behandlung besondere Geschichten, welche die ganze faszinierende Tiefe menschlicher Existenz und deren Beziehungsgeflechte eindrucksvoll zeigen. Es gibt nichts, was es nicht gibt! Volker Schumpelick war nicht nur ein guter, dem Patienten zugewandter Chirurg, sondern er ist auch ein begnadeter Geschichtenerzähler, der mit weisem Blick, aber auch selbstkritisch mit bisweilen unverhohlen aufblitzender Selbstironie die unzähligen Facetten der Arzt-Patienten-Beziehung darstellt. Die kurzweilig geschriebenen Geschichten spiegeln die Fülle der ärztlichen Erfahrung von Volker Schumpelick wider und unterstreichen die Besonderheit des Berufes als Arzt und Chirurg: Das Handeln am und die Interaktion mit dem Patienten, der mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Ansichten und Einstellungen so einzigartig und gleichzeitig vielfältig wie unsere gesamte Welt ist.

Vor diesem Hintergrund kann das Büchlein durchaus auch als Anleitung zum Chirurgen-Sein gesehen werden, denn aus den vielen, ganz unterschiedlichen Geschichten kann der Anfänger lernen Fehler zu vermeiden. Der Erfahrene aber erhält Informationen für sein Berufsleben, wie man sich in ähnlichen Situationen verhalten könnte. Aufgrund der amüsanten Darstellung sind die Anekdoten auch für den Laien unterhaltsam und lehrreich zugleich. Das Buch trägt somit zum besseren Verständnis des jeweils Anderen – Chirurg wie Patient – bei. Beim Lesen der Geschichten spürt man förmlich, mit welcher Freude Volker Schumpelick sich an die Erlebnisse erinnert und sie dann zu Papier gebracht hat. Auch wenn es weise ist, nach 40 Jahren vom OP-Tisch abzutreten und Jüngeren den Vortritt zu lassen: Geschichten kann man noch lange erzählen. Insofern mag diese Trilogie „Unterm Messer“ nicht das Ende der schriftstellerischen Aktivitäten von Volker Schumpelick sein. Wir dürfen gespannt sein, was noch kommt!

Hannover/Berlin im März 2014

Joachim Jähne

Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 2013/2014

Vorwort

Krankenhäuser haben heute keinen besonders guten Ruf. Man assoziiert mit ihnen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, den Mangel an Pflegekräften und die notorischen Probleme in der Hygiene. Was früher ein Ort praktizierter Menschlichkeit und liebevoller Pflege war, imponiert heute in der öffentlichen Wahrnehmung als ein vor allem auf die Ökonomie ausgerichteter Betrieb. So betreibt mancher Investor das herkömmliche Krankenhaus eher als eine Gesundheitsfabrik mit der Vorgabe einer Performance wie bei einem börsennotierten Unternehmen. – Zudem ist das aktuelle Konzept moderner Medizin ohnehin darauf ausgerichtet, so viel an Krankenversorgung wie möglich ambulant und so wenig wie nötig stationär durchzuführen. Dies stellt die breite Notwendigkeit stationärer Krankenbehandlung insgesamt in Frage, da man die Zukunft der Medizin ohnehin in einer vorwiegend ambulanten Krankenbehandlung sieht. – Unstrittig ist aber, dass das Gesundheitswesen beides anbieten muss, eine erweiterte ambulante Versorgung für leichtkranke und jüngere Patienten und – angesichts der demographischen Entwicklung – die stationäre Behandlung für alte, schwerkranke und intensivpflichtige Patienten.

Langfristig muss man jedoch davon ausgehen, dass in 30 Jahren sogar 20 Prozent mehr an Krankenhausbetten gebraucht werden, als heute schon vorhanden sind. Notwendige Voraussetzung hierfür ist allerdings die verständnisvolle und fachkundige stationäre Pflege, an der es heute vielerorts noch mangelt. Der Patient fühlt sich in einem allein auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Krankenhaus unwohl, er vermisst die Zeit der persönlichen Zuwendung und vor allem die menschliche Fürsorge. Auch spürt er, dass er nicht länger der Mittelpunkt des Krankenhauses ist, sondern nur noch Zuschauer am Rande eines Turnierplatzes, auf dem die Ökonomen mit den Klinikern um die höchste Rendite streiten. War er früher noch als Subjekt der wichtigste „Faktor“ im Krankenhaus, wird er nun zum unbedeutenden Objekt einer unpersönlichen Verschiebemasse. Seine Operation, einst eine schlagzeilenträchtige chirurgische „Heldentat“, ist heute kaum noch spektakulär. Sie kann in DRG (Diagnosis Related Groups) gemessen werden und taucht allenfalls als statistische Größe in den Bilanzen des Verwaltungsdirektors auf.

Diese Sicht verkennt das tatsächliche Empfinden des chirurgischen Patienten: Er sieht sich auch heute noch mit seiner Operation und seinem Operateur in einer Schicksalsgemeinschaft, deren Funktionieren maßgeblich für den Erfolg ist. Seine Angst vor dem Eingriff ist legitim und nur durch das Vertrauen in den Operateur zu überwinden. Der Patient „unterm Messer“ bleibt vor allem Mensch und empfindet seine Operation als Einmaligkeit und nicht als statistische Größe. Er hat zu Recht den Anspruch, als dieser einzigartige Mensch wahrgenommen und behandelt zu werden. Eine Medizin – vor allem eine Chirurgie –, die nicht den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist im wahrsten Sinn inhuman. Denn bei allem was wir tun, muss der Maßstab unserer Handlungen und Überlegungen immer das Individuum bleiben.

Verehrter Leser, lesen Sie die hier mitgeteilten Erlebnisse meiner Patienten mit Aufmerksamkeit, Nächstenliebe und Empathie. In ihrer anonymisierten Wiedergabe verletzen sie nicht die ärztliche Schweigepflicht, sondern wollen nur das Interesse am Faszinosum „Patient“ wecken, das heute allzu leicht unter die Räder rein ökonomischer Betrachtung zu geraten droht. Mit diesem dritten Band der Trilogie „Unterm Messer“ möchte ich an die breite Akzeptanz seiner beiden Vorläufer anknüpfen und hoffe auch für diese neuen Anekdoten aus der erlebten Chirurgie auf geneigte Leser. Lassen Sie sich mitnehmen in die bunte, gelegentlich auch schrille Welt unserer Patienten. Ich versichere Ihnen, dass es sich lohnen wird, mit Hilfe dieser Anekdoten den Menschen hinter dem Patienten kennen zu lernen.

Hamburg, im März 2014

Volker Schumpelick

Anfängerfehler

Von nichts lernt der Anfänger mehr als von selbstgemachten Fehlern. Das gilt für alle Anfänger, gleich in welcher Disziplin – Fehler zu machen ist also nicht ehrenrührig und sogar meist lehrreich. Nur in der Chirurgie ist das anders, da es dort gelegentlich um Leben und Tod geht; Fehler sind nicht zu verzeihen und müssen unter allen Umständen vermieden werden. Daher hat die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie verbindliche Vorschläge für Maßnahmen der Fehlervermeidung entwickelt, die über verschiedene Kontrollebenen Fehler unmöglich machen sollen. Seitenverwechslung, falsche Indikation, mangelhafte Aufklärung und fehlerhafte Verfahrenswahl als die häufigsten Fehler können durch dieses enge Kontrollraster nahezu mit Sicherheit umgangen werden. Schon am Tag der Operation und unmittelbar mit dem Beginn des Eingriffs sind Checklisten zwischen Operateur und Assistenten abzufragen, ein heute obligates Manöver in allen Kliniken, das Fehler bei der Operation ausschließen soll. Dies ist der Situation ähnlich, in der sich der Pilot beim Start seines Flugzeugs durch eine mit dem Kopiloten überprüfte Checkliste von der Funktionstüchtigkeit der Maschine überzeugt. Diese auf den ersten Blick harmlose Checkliste scheint in den meisten Fällen zwar überflüssig, in Einzelfällen bleiben jedoch vermeidbare Fehler in diesem doppelten Sicherheitsnetz hängen. Denn der Patient muss darauf vertrauen können, im Operationssaal höchstmögliche Sicherheit zu erfahren.

Und dennoch kommen Fehler vor, die vor allem in der Indikation liegen und diesem Raster der doppelten Kontrolle während der Operation gar nicht ausgesetzt sind. Es ist dies die fehlerhafte Anzeigestellung zur Operation aufgrund mangelhafter Information oder Diagnostik, die vor allem dem jungen Chirurgen passiert, der in Begeisterung für sein Fach übers Ziel hinaus schießt und sich mit seinem Tun bewähren will. Dies verhindert das hierarchische System einer Klinik, das durch ständige Gegenkontrolle im Stande ist, Fehlentscheidungen zu revidieren, und falsche Indikationen rechtzeitig zu korrigieren. An dieser Stelle sollen zwei Fälle skizziert werden, die in meiner eigenen Ausbildung auftraten und dann durch ältere Kollegen rechtzeitig korrigiert wurden.

l Ein 36-jähriger Feuerwehrmann kam mit akuten Bauchschmerzen in die internistische Notaufnahme unseres Klinikums. Es bestand hohes Fieber, Druckschmerz im rechten Unterbauch, eine geringe Abwehrspannung und vor allem im Labor eine erhebliche Vermehrung der weißen Blutkörperchen als Zeichen einer akuten Entzündung. Diese Befunde wurden von der Schwester in der Patientenaufnahme erhoben und mir mitgeteilt, als ich gerade mein Praktisches Jahr in der Inneren Medizin absolvierte. Der Patient war wegen seiner starken Schmerzen einer erneuten Untersuchung durch mich deutlich abgeneigt, und die sehr erfahrene internistische Ambulanzschwester sagte mir unter Mitteilung der erhobenen Befunde, dies sei eine typische akute Blinddarmentzündung, die ich wegen der starken Schmerzhaftigkeit nicht noch einmal untersuchen müsste, ich solle den Patienten doch nicht unnötig quälen. Wir sollten den Patienten ohne Zeitverzug direkt in die chirurgische Notaufnahme verlegen und alles zur Durchführung einer Blinddarmentfernung durch die Chirurgen vorbereiten. Dies war ein schlüssiges Konzept, das mir vor allem nachts um drei deutlich behagte. Sollten sich doch die Chirurgen mit diesem Feuerwehrmann beschäftigen. Die erfahrene Ambulanzschwester lobte mich für meinen raschen Entschluss und kritisierte die Zögerlichkeit vieler meiner Vorgänger in der Funktion als internistischer Ambulanzarzt. Eine akute Blinddarmentzündung habe nun einmal eine so typische Symptomatik und müsse ohnehin operiert werden, so dass alle weitere Diagnostik überflüssig, teuer und nur Zeitverschwendung sei. Das solle ich mir merken, auch wenn ich kein Chirurg werden würde.

Um vier Uhr nachts wurde ich dann von einem erregten Chirurgen aus dem ersten Schlaf geschüttelt, der mich süffisant fragte, wie häufig denn Blinddarmentzündungen nach bereits erfolgter Appendektomie meines Wissens auftreten würden. Ob ich nicht die typische Narbe nach Blinddarmentfernung im rechten Unterbauch gesehen hätte? Er erlaube sich, den Patienten umgehend an uns in die internistische Ambulanz zur weiteren Diagnostik zurückzuschicken.

Tatsächlich hatte der Patient einen rechtsseitigen Harnleiterstein, der ganz ähnliche Beschwerden macht und mit konservativen Maßnahmen anschließend erfolgreich behandelt wurde. Die erfahrene Ambulanzschwester verlor über diesen Vorgang kein Wort, nur am Rande bekam ich ein Telefongespräch zwischen ihr und Chirurgen mit, in dem sie meine Entscheidung zur Verlegung als meine Eigenmächtigkeit und ohne ihr Zutun getroffen darstellte. Gelernt habe ich aus diesem Fall, dass man sich in der Chirurgie nie auf das Hörensagen verlassen darf, sondern alles aufgrund seines eigenen Augenscheins beurteilen muss.

l Ein zweiter Fehler unterlief mir bei einem 86-jährigen pensionierten Richter, der sich sonntagnachmittags wegen Bauchschmerzen hatte einweisen lassen und relativ mitgenommen und abgemagert aussah. Er klagte über eine Gewichtsabnahme von zwölf Kilogramm über die letzten vier Monate und permanenten Unterbauchschmerz. Sein wächsernes, blasses Hautkolorit und der massiv aufgetriebene Leib ließen an eine fortgeschrittene Tumorerkrankung denken, die bei den mitgeteilten Stuhlgangunregelmäßigkeiten als erstes an einen fortgeschrittenen Dickdarmtumor mit drohendem Darmverschluss denken ließ. Die weiteren Untersuchungen zeigten auch als Bestätigung gestaute Darmschlingen im Sinne eines Passagestopps, was mit dieser Verdachtsdiagnose voll übereinstimmte. Ein Notfalleingriff schien indiziert, bevor es zum Platzen des gestauten Darmes kommen würde. In Vorbereitung auf diesen Eingriff, wurde der Patient sonographiert. Hierbei fand sich eine bis zum Oberbauch reichende, gigantisch überfüllte Harnblase, die sich schon lange nicht mehr richtig entleert hatte. Nach der Platzierung eines Harnblasenkatheters flossen dreieinhalb Liter stinkenden Urins ab. Hier­unter normalisierte sich der Bauchbefund gestauter Darmschlingen und der Tumor verschwand. Eine Darmoperation war jetzt nicht mehr notwendig, das Fieber und die Beschwerden verflüchtigten sich nach kurzer Zeit, so dass der alte Mann wieder schmerzfrei über den Flur laufen konnte. Später hat er sich der notwendigen endoskopischen Resektion der Prostata unterzogen, die ihn auch langfristig beschwerdefrei machte. Gelernt habe ich aus diesem Fall, dass Häufiges eben häufig ist, so zum Beispiel der Harnverhalt bei alten Männern mit einer Prostatahyperplasie, der zu allen möglichen Beschwerden im Unterbauch führen kann. Deshalb musste später vor jeder meiner Bauchoperationen immer zuerst eine Abklärung der Harnblase erfolgen.

Der Anfänger wird aus der Erfahrung klug, seine Fehler sind die Meilensteine seines Lernprozesses. Sie aufzufangen, zu korrigieren und besser noch sie zu vermeiden, ist die Aufgabe seines Lehrmeisters und des Umfeldes, auf das er sich bedingungslos verlassen können muss.

Ambulanzschwester in Not

Man muss nicht bis auf Florence Nightingale zurückgreifen, um den Beruf der Schwester ausreichend zu würdigen. Auch heute gibt es heldenhafte Schwestern, die sich unter Einschränkung ihres Privatlebens vornehmlich ihren Patienten widmen. Es müssen nicht unbedingt Ordensschwestern sein, auch weltliche Schwestern leisten in ihrem Idealismus Bewundernswertes. Während Schwestern früher häufig ledig waren, hat sich der Beruf einer Schwester heute zu einem normalen Frauenberuf entwickelt, in dem persönliches Glück und auch Kinder neben dem Beruf gelingen. Wäre nicht der belastende und zeitlich anspruchsvolle Dienst, könnte das Berufsbild noch attraktiver sein. Wie gut, dass der Schwesternberuf mittlerweile in seinem Einkommen den „Schreibtischberufen“ gleichgestellt ist. Nur die Arbeitszeiten unterscheiden sich noch immer gravierend – doch auch dies dürfte sich durch neue Arbeitszeitmodelle zukünftig ausgleichen.

Für den Arzt ist die Schwester eine besonders wichtige Partnerin. Ohne Schwestern ist die Chirurgie unvollkommen, denn es fehlt nicht nur die praktische Umsetzung der Therapievorschläge, sondern vor allem die Partnerschaft bei ihrer Realisation. So wachsen Chirurg und Schwester während ihrer Zusammenarbeit über die Jahre eng zusammen und verstehen einander gegenseitig meist ohne viele Worte, durch kleine Gesten, Augenaufschläge oder Kopfnicken. Wie der Dirigent mit einem kurzen Nicken oder einem kleinen Handzeichen dem Solisten den Einsatz gibt, versteht die Operationsschwester ihren Operateur an seinen Gesten ohne alle Worte. Diese enge Partnerschaft ist ein großer Gewinn für den Chirurgen und gelegentlich Grundlage für eine über das Berufliche hin­ausgehende Gemeinschaft. Nicht selten sind übrigens Chirurgen mit OP-Schwestern verheiratet oder ihnen in enger Verbundenheit zugewandt. Ein historisches Beispiel ist der berühmte amerikanische Chirurg Halsted, der in enger Partnerschaft mit seiner OP-Schwester nicht ansehen konnte, wie das damals zur Antisepsis verwandte Karbol die zarten Hände seiner Lieblingsschwester mit einem hässlichen und juckenden Ekzem verunstaltete. Um sie weiter am Operationstisch zu haben, veranlasste er die damals im Reifen­geschäft sehr erfolgreiche Firma Goodyear, zarte Gummihandschuhe zu entwickeln, die einen direkten Kontakt zu dem damals vorgeschriebenen Karbol verhinderten und das Ekzem zur Abheilung brachten. Es war also nicht die Sorge um Asepsis, sondern die Liebe zu seiner OP-Schwester, die ihn die chirurgischen Gummihandschuhe erfinden ließ.

Unter den verschiedenen Aufgaben und Positionen der Schwestern in einem Krankenhaus kommt der Ambulanzschwester eine ganz entscheidende Rolle zu. Sie ordnet den Strom der eingewiesenen Patienten, übernimmt zum Teil erste ärztliche Aufgaben und unterrichtet junge Ärzte über das für ihr Fach Nötigste. Eine erfahrene Ambulanzschwester kann streckenweise ganz ohne ärztlichen Beistand auskommen, denn sie weiß aus Erfahrung, was nottut, und sie tut es notfalls selbst, falls der Arzt beschäftigt oder nicht erreichbar ist. Im Baragwanath Hospital, in Soweto/Johannesburg, mit mehr als 500 Notfallpatienten pro Tag, stand die Ambulanzschwester bereits in der Notfallaufnahme und hatte zwei Bülau-Drainagen in den Händen, mit denen sie jeweils beim Eintreffen der Notfallpatienten vor jedem Arztkontakt vorausschauend den Brustkorb entlastete. Sie wusste, dass ohne diese Entlastung viele Patienten am Spannungs-Pneumothorax sterben würden, bevor sie den Arzt überhaupt gesehen hätten.

Dieses Modell ist in unseren Breiten nicht denkbar, aber in Notzeiten durchaus schon praktiziert worden. Ich erinnere mich an einen Krankenpfleger, der in der Hölle des Zweiten Weltkrieges angesichts schlimmster Schussverletzungen im eingeschlossenen Breslau – mir später bestätigt durch einen von ihm operierten Patienten – in dieser Notsituation eigenhändig Beinamputationen durchführte, ohne es je fachkundig gelernt zu haben. Allein seine Tätigkeit in der Notfallambulanz der Charité hatte ihm genügend Erfahrung vermittelt, um jetzt selbst tätig zu werden.

So verfügen langjährige Ambulanzschwestern und -pfleger meist über genügend Erfahrung, um jungen Ärzte in ihr Handwerk einzuweisen. Meine ersten Wundversorgungen führte ich in unter Assistenz einer Ambulanzschwester Gisela durch, die mir jeden Stich der Betäubung und der späteren Naht erklärte. Sie führte gleichsam meine Hand, ohne mich merken zu lassen, dass sie und nicht ich der Operateur war. So begleitete sie alle meine chirurgischen Taten und lehrte mich die Anfangsgründe der Chirurgie. Als ich nach einigen Jahren selbständiger war und auch größere Operationen eigenhändig durchgeführt hatte, mich zudem habilitierte und Oberarzt wurde, gratulierte mir diese liebenswerte und feine Frau mit einem persönlichen Schreiben, in dem sie mir mitteilte, dass sie jetzt das „Du“ zurückgeben möchte, da sie einen Arzt in meiner Position nicht mehr öffentlich duzen wolle. Das sei einfach meiner Stellung und ihrer Hochachtung vor dieser nicht mehr angemessen.

Diese feinsinnige Ambulanzschwester hatte ich im klinischen Betrieb aus den Augen verloren, als sie mich mit förmlicher Anrede am Telefon um meinen Rat bat: Es habe sie ein großes Leid getroffen, denn jetzt habe sie selbst einen großen Bauchtumor entwickelt, der sie im Dienst erheblich behinderte. Der Tumor sei sicher bösartig, da er ständig wachse und ihr jetzt schon die Luft knapp mache. Sie hätte keinen Arzt, mit dem sie ihr Problem besprechen könne, hätte aber aufgrund der langen Zusammenarbeit zu mir das größte Vertrauen. Und so untersuchte ich diese 38-jährige, schon immer sehr korpulente Ambulanzschwester und musste leider ihren Befund bestätigen. Es lag in der Tat ein großer, kaum verschiebbarer Bauchtumor vor, der zudem den ganzen Darm nach oben verlagert hatte. Auf meine Frage, ob sie vielleicht schwanger sei, verneinte sie dies entschieden, ich wüsste doch, dass sie ledig sei und bei ihren schweren Diensten auch in keiner Partnerschaft lebe. Auch seien ihre Blutungen regelmäßig, wenngleich in der letzten Zeit eher ausbleibend.

Bei der ausführlichen Untersuchung dieses adipösen Leibes mit einem Übergewicht von sicher 25 Kilo fand sich bis auf die Bauchschwellung kein pathologischer Befund, so dass ich noch einmal die Frage nach einer potentiellen Schwangerschaft stellte, wobei auch diese Frage wieder verneint wurde. „Wie soll ich denn schwanger werden in meiner Einsamkeit?“. Tatsächlich aber zeigte die Sonographie einen „Bauchtumor“ mit Köpfchen und Armen, wie dies im sechsten Monat der Schwangerschaft üblich ist. Unter ihren dicken Bauchdecken war es ihr gelungen, den täglich mindestens 100 kritischen Chirurgenaugen gegenüber unbemerkt eine normale Schwangerschaft auszutragen. Der Vater aber, das interessierte uns Chirurgen naturgemäß am meisten, war ein Tiroler Skilehrer, den sie im Skiurlaub kennengelernt hatte und der sich überhaupt an nichts mehr erinnern konnte. Und so wurde sie zu einer alleinerziehenden Ambulanzschwester mit Kind, die ihren Dienst über den Klinikkindergarten regelte. Allein ich hätte dieser feinen Person einen richtig fürsorglichen Ehemann gewünscht.

Honorar

Ärztliche Leistungen werden mit einem Geldwert bezahlt, der kein Lohn und kein fester Vertragsgegenstand ist, sondern ein Honorar. Die Bemessung dieses Vertrages richtet sich nach der Schwierigkeit des Eingriffs, der Kunst des Operateurs, seinen Erfahrungen, seiner Reputation, aber auch nach den finanziellen Möglichkeiten des Patienten. Um diese verschiedenen Faktoren nicht in Willkür ausarten zu lassen, gibt es eine Gebührenordnung für Ärzte, nach der sich der liquidierende Kollege zu richten hat. Sie ist auch Grundlage des Erstattungsverfahrens der Krankenversicherungen, das einen festen Honorarrahmen vorgibt. In diesem Rahmen gibt es insofern eine gewisse Freizügigkeit der Bemessung als der Basisbetrag mit einem Multiplikator berechnet werden kann. Dieser Multiplikator ist gelegentlich strittig und erregt manchmal den Unmut zahlungspflichtiger Patienten. So ist das Honorar seltener der Streitgegenstand, häufiger aber die absolute Höhe der Bemessung. Mit dem Behandlungsvertrag willigt der Patient in den Honoraranspruch des Arztes ein und akzeptiert dessen spätere Honorarforderung. Soweit gelten also die Spielregeln des geschäftlichen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient, andere Auslegungen sind allerdings häufig, und von ihnen soll hier die Rede sein.

Als ich noch junger und unerfahrener Chirurg, erstmalig selbstverantwortlich Operationen durchführte und von keinem Vorgesetzten mehr begleitet wurde, war mein Stolz über den ersten eigenständigen und erfolgreichen Eingriffs so groß, dass ich nicht daran dachte, hierfür auch noch Geld von dem Patienten verlangen zu dürfen. Erst die Sekretärin wies mich auf meinen Rechtsanspruch hin und schrieb eine gnädige Liquidation. Mit der Zeit entwickelte ich ein verändertes Bewusstsein und ärgerte mich, wenn nach erfolgreicher Operation vom Patienten kein Honorar bezahlt wurde. Besonders ärgerte ich mich über sogenannte „Zechpreller“, die zwar alle Annehmlichkeiten privater Behandlung in Anspruch nahmen, hierbei allerhöchste Ansprüche stellten, selbstverständlich meine permanente persönliche Behandlung erwarteten, bei der Bezahlung aber total ausfielen. Besonders erregte mich ein Bordellwirt aus St. Pauli, der wochenlang mit seinem schillernden Hofstaat die Station bevölkerte, als es aber ans Zahlen ging, trotz aller Mahnungen keinerlei Anstalten machte, seiner Pflicht nachzukommen. Trotz mehrerer rechtsanwaltlicher Zahlungsbefehle konnte ich keinen Eingang auf meinem Konto feststellen, der schwerreiche Bordellwirt stellte sich einfach tot und war für mich nicht zu erreichen. Mein Rechtsanwalt riet mir, auf meine Forderung zu verzichten. Hierzu war ich allerdings ganz am Anfang meines Berufslebens nicht bereit und wählte den direkten Weg der Gegenüberstellung. Der gleiche Mann, den ich wochenlang tagtäglich visitiert hatte, sollte mir von Angesicht zu Angesicht sagen, weshalb er meine Leistung nicht honorieren wollte. Bei etwaiger Zahlungsunfähigkeit, wäre ich gegebenenfalls zu einem Honorarverzicht bereit gewesen. Noch glaubte ich an das Gute im Herzen meiner Patienten.

So besuchte ich den durch die Operation geheilten Zuhälter in seinem zwielichtigen, aber bombastischen Bordell persönlich und bestand bei den abweisenden Türstehern in Kapitänsuniform darauf, sofort vorgelassen werden, es handele sich nämlich um einen wichtigen Arztbesuch. Als man ihm dann mitteilte, wer ihn zu sprechen wünschte, erschien er umgehend persönlich in seiner vorgeschalteten Bar, öffnete seine Brieftasche mit großer Geste und händigte mir den doppelten Betrag meiner Forderung mit den Worten des Bedauerns über diese unverzeihliche Verzögerung persönlich aus. Er habe Verständnis für meine Forderungen, da er aus einem Milieu stamme, in dem etwaige Leistungen immer selbstverständlich sofort und bar bezahlt würden. Auch habe er Bewunderung und Respekt davor, dass ich mich persönlich in diese „Höhle des Löwen“ getraut habe. Das nötige ihm Sympathie ab, das würden die anderen Doktoren, deren Rechnung er ebenfalls nicht bezahlt habe, sicherlich nicht wagen. Chirurgen seien eben aus einem anderen Holz geschnitzt. Die für diese Anerkennung angebotene Flasche Champagner mit ihm zu trinken – danach stand mir allerdings dann doch nicht der Sinn.

Bei der Honorarzahlung gibt es auch andere Verhaltensweisen, die allerdings selten sind und darum im Gedächtnis blieben. So war ein morgenländischer Potentat mit einer Leistenbruchoperation erfolgreich behandelt worden. Zum Abschluss des Krankenhausaufenthalts bat er vor seiner Abreise um die Liquidation. Als ihm diese ausgehändigt wurde, zeigte er sich absolut bestürzt über den zu geringen Betrag und war fast beleidigt darüber, dass dieser so niedrig ausgefallen sei. Ob wir wirklich alles berücksichtigt hätten, er könne doch seinen Freunden und Kollegen nicht weismachen, dass er für diesen niedrigen Betrag aus dem Orient zur Operation nach Deutschland angereist sei und im Land von Porsche, Mercedes und Miele diese Operation so spottbillig sei. Er könne es keinem erklären, dass in diesem Land weltbekannter höchster Präzision das Operationshonorar halb so hoch sei wie in seiner Heimat. Er würde sich darum die Freiheit nehmen, den Betrag durch eine angehängte Null zu verzehnfachen – auch um zuhause seine Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen.

Wieder anders verfuhr ein sehr wohlhabender Schweizer Geschäftsmann, der nach Empfang seiner Liquidation ebenfalls die niedrige Höhe bemängelte und scherzhaft fragte, ob er das als Jahresbeitrag auffassen dürfte, den er bei anhaltendem Erfolg jährlich zu entrichten habe. Und so verfuhr er regelhaft in den nächsten drei Jahren, in denen er zuverlässig seinen „Beitrag“ persönlich ablieferte. Leider verstarb er schon nach wenigen Jahren an einem Herzinfarkt und hatte „bedauernswerterweise“ versäumt, seinen „versprochenen Jahresbeitrag“ zu Lebzeiten in sein Testament aufzunehmen.

Dieses sind löbliche Ausnahmen im hässlichen Kampf des Chirurgen mit den Krankenkassen, den Beihilfestellen oder den Patienten bei der Durchsetzung seines Anspruches. Jeder Beteiligte versucht heute, die Forderung des Arztes zu minimieren und durch ergänzende Feststellungen in Abrede zu stellen. In der Tat besteht ein echter Honorarkampf, der teilweise mit unlauteren Waffen geführt wird. Viele Krankenhausärzte haben bereits Abstand von der Privatliquidation genommen und ihre Ansprüche an den Krankenhausträger übertragen, da ihnen die durch eine überbordende Administration ohnehin knappe Zeit zu schade ist, um sich mit den Kostenträgern herumzustreiten. Es wäre jedoch zu bedauern, wenn auf diese Weise das ansonsten gute Prinzip der leistungsgerechten Liquidation zu einem Standardlohn verkäme und damit die Normierung des Patienten weiter fortschritte.

Blumen in der Leichenhalle

D

So zogen nun türkische Putzfrauen oder marokkanische Transportarbeiter selig mit gigantischen Orchideengestecken nach Hause, die lange noch in Blüte standen als „His Highness“ und seine Entourage bereits wohlbehalten wieder im Morgenland angekommen waren. Leider blieb ihm verborgen, was er auf diese Weise für die Völkerverständigung geleistet hat. Denn auch Ärzte, Schwestern und Studenten hatten sich in diesem Basar bedient, dessen Produkte die beengten Verhältnisse mancher Zweizimmerwohnung mit ihrem orientalischen Prunk fast zum Platzen brachten und noch lange an den großzügigen Spender denken ließen. Es war wie die Grußbotschaft aus einer anderen Welt, aus dem Morgenland, dessen drei Könige schon vor 2000 Jahren einen noch Bedeutenderen entzücken wollten, nämlich das Jesuskind.